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226/26
Franckfurt am Mayn den
26.
Aug
1763.
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HochEdelgebohrner Herr
28
Hochgeschäztester Herr und Freund.
29
Nicht leicht bin ich auf eine angenehmere Art überrascht worden als da mir
30
Ew
HochEdelgebh. geehrtestes vom 25.
Jul.
überbracht wurde. Der
31
Nicolai
Friedrich Nicolai
Layenbruder hatte sein Schreiben an HEn Nicolai in Berlin überschickt, durch
32
Magi
Hamann,
Magi
l’Essai
Hamann,
Essais à la Mosaique
welchen ihm die Magi,
l’Essai à la mosaïque
u. einige andere Geisteskinder des
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lieben Philologen bekannt gemacht worden und von der Hochachtung, mit
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welcher die ganze Secte der Nicolaiten sich auf deßen
Sujet
geäußert, ließe sich
S. 227
weniger nicht, als eine richtige Besorgung jener gedruckten Antwort verhoffen.
2
Es ist aber nicht geschehen und genug! daß sie auch ohne ihre Vermittlung an
3
Ort u. Stelle gekommen, mir aber dadurch die Freude und der Vortheil einer
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unmittelbaren Bekanntschafft mit Ew. HochEdelgebh. erwachsen ist.
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So schäzbar mir solche zu jeder Zeit gewesen seyn u. bleiben wird, so
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ungleich wird sie mir über dieses durch den Zeit-Punct, in welchem ich Dero
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Schreiben erhalten habe. Sie erlauben mir, Hochgeschäzter Freund, daß ich
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von dem Krieg, wann je einer unter uns war, dißmahl schweige und mir bloß
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den Sieg zu nuz mache, den
Sie
mir auf eine so edle und herzliche weise
10
beilegen. An dem Tag, an welchem ich Ihr Schreiben erhielte, ware mein
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Gemüth in einem würklichen Gedräng wegen eines Auftrags, der mir schon seit
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ein paar Monathen geschehen ware und deßen Befolgung überall Hinderniße
13
Frau Erb. Prinzeßin
Karoline Henriette Christine Philippine Luise von Pfalz-Zweibrücken
, erste Frau von
Ludwig IX., Landgraf v. Hessen-Darmstadt
und Bedenklichkeiten fande. Die Frau Erb. Prinzeßin von Heßen-Darmstadt
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ersuchten mich in Ihrem u. Ihres Gemahls, des künfftigen Landes-
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ältestem Prinzen
Ludwig, Erbprinz v. Hessen-Darmstadt
Nachfolgers Nahmen, Ihnen einen
Instructorem
zu Ihrem ältesten Prinzen zu
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verschaffen; die Eigenschaften, so sie von ihm verlangen, will ich mit eigenen
17
Il instruira…
dt. Er soll meinen Sohn gemäß den Anweisungen und unter Anleitung seines Erziehers unterweisen, er soll ihn nach und nach in allem, was zur schönen Literatur, Geschichte, Philosophie, Mathematik gehört, unterrichten, er soll Kenntnisse des öffentlichen Rechts haben, er soll einem wahren Christen gemäß empfinden, ohne Frömmelei und ohne Bigotterie, er soll ein besonnenes Betragen an den Tag legen, das ein gutes Beispiel gibt, er soll sehr sanftmütig sein und wenn möglich die Kunst beherrschen, seine Unterweisungen nützlich und unterhaltsam zu gestalten. Er ist verpflichtet, sich täglich 4 bis 5 Stunden um meinen Sohn zu kümmern. Der Unterricht soll auf Deutsch erteilt werden, es wird jedoch erwartet, dass er gut genug Französisch kann, um die in dieser Sprache verfassten Werke der Literatur gründlich zu kennen. Wir wollen keinen Theologen.
Worten dieser weisen und vortrefflichen Fürstin darlegen:
Il instruira mon
18
fils sous les ordres et la Direction de son Gouverneur, il lui enseignera
19
successivement tout ce qui fait partie des belles lettres, de l’histoire, de la
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philosophie, de la mathematique, il aura connoissance du droit public, il
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aura des sentimens dignes du vrai Chretien, sans cagoterie, sans bigoterie,
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une conduite sage, qui serve de bon exemple, beaucoup de douceur, et
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l’art, s’il se peut, de rendre ses instructions utiles & amusantes. Il sera tenu,
24
de s’occuper
4.
à
5.
heures du tems avec mon fils. Les lecons seront
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données en Allemand, mais on desire, qu’il sache le français assés bien, pour
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connoitre à fond les ouvrages de literature écrites dans cette langue. On
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ne veut point de Theologien.
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Nach vielem Erforschen und Nachdenken hatte endlich zwo Personen
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ausfindig gemacht, welche die mehreste der verlangten Eigenschafften hatten und
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deren Herzens-Redlichkeit mir die Probe zu halten schiene. Bey beiden fanden
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sich zufällige Neben-Umstände, welche hinderten, auf sie Bedacht zu nehmen
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u. ich wurde um weitere Erkundigungen ersucht. Mitten in diesen Erwegungen
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erhielte ich Ew. HochEdelgebh Schreiben, ich blätterte in denen mir
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mitgeschickten Blättern und, ohne zu einem solchen Gedanken zubereitet zu seyn,
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aber auch ohne mich deßen erwehren zu können, dringt mir mit Macht aufs
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aus Mitternacht kommt Gold
Hiob 37,22
Herz:
Der ists
, den du suchst; aus Mitternacht kommt Gold. Ich seze mich
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augenblicklich hin, schreibe der Fürstin meinen Gedancken, schildere, so gut ich
S. 228
kan, den
Humani
sten
au torrent de Kerith
und empfehle der gnädigen und
2
herzlenkenden Vorsehung was aus dieser
Inspiration
werden solle. Heute
3
erhalte aufs geschwindeste Antwort und zu meiner
Legitimation
so wohl als
4
in dem gänzlichen Vertrauen zu Dero Rechtschaffenheit lege das
Original-
5
PSpt
Postskriptum
Billet,
das im
PSpt
eines schon geschriebenen Briefs ist, hier bey.
6
Sie schreiben, Theurer Mann, in der
lettre néologique: Venés changer les
7
ronces de ma petite ferme en parterres de fleurs; venés égayer le berceau
8
d’un Humaniste; Sie
rechtfertigen damit im voraus die Freyheit eines ohne
9
Ihr Vor- und Mitwißen erweckten Berufs. Ein anders ist aber nun, wie
Sie
10
es ansehen? ob
Sie
Lust, Trieb, Freyheit und innern Ruf bey sich finden, aus
11
dem Bach in den Strohm, aus der Stille in den Lermen, von dem Wahlplaz
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der Schriftsteller in das schwere Joch des Hofs und den MärtyrerRuf des
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Unterrichts eines Prinzen einzutretten. Ich würde Ih
nen
über das leichte und
14
beschwerliche, über das süße und saure dieser Stelle an diesem Hof
15
lettre provinciale
Hamann,
Lettre néologiques
insbesondere mehr als nur Eine
lettre provinciale
zu schreiben haben, es würde aber
16
In der Welt …
Joh 16,33
am Ende allemal auf die zwo kurze Säze hinauskommen: In der Welt habt
17
ihr Angst, aber in Mir habt Ihr Friede. Ich weiß kein
Sans Souci
als auf
18
Golgatha; alles andere
reduci
rt sich nur auf das
plus & minus
menschlichen
19
Elends u. Freuden; Sie vergönnen mir daher, daß ich dieses wichtige Anliegen
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eben so starck auf Ihr Herz
lege,
als es auf dem meinigen hafftet. Die
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Wohlfarth eines nahmhafften Landes ist mit dieser Wahl so überaus wesentlich
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verbunden, u. wann man, nach etlichen schlechten Hirten noch Barmherzigkeit
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vor eine übel gehütete und aufs Blut geschorne Heerde verhoffen darf, so
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würde diß die
Epoque
seyn, wann das nun 10jährige Kind endlich einmal
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der Pflege, Wartung, Unterricht u. Treue eines Mannes zu Theil würde, der
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Großmuth und Menschenliebe genug hätte, in die villeicht noch nicht ganz
27
verhärtete
Massa
dieser Fürsten-Natur Wahrheit einzupropfen. Wie sehr, wie
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sehnlich wünsche ich, daß
Sie
Aufschluß und Freudigkeit in
S
ich finden mögen,
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Kriton … Socrat
Kriton nahm sich der Erziehung des Sokrates an und bezahlte dessen Lehrmeister, vgl.
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, ED S. 39 und
Charpentier,
Vie de Socrate
, S. 3
Kriton zu werden, wann auch aus dem Heßischen Marmor kein Socrat zu
30
schnizen wäre. An der Fürstin werden
Sie
eine treue und sorgfältige Mutter,
31
u. gewiße Unterstützung Ihrer Bemühungen, ein edles, großes u.
32
erkänntliches Herz finden, das den Werth des Ihrigen zu schäzen wißen wird. Darf
33
ich mich mit in Rechnung nehmen, so würde dadurch einer meiner
34
allerangelegensten
W
ünsche erfüllt. Ich habe mich seit 10. Jahren dem Dienst dieses
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Hauses gewidmet und, ohngeachtet ich seit einigen Monathen
aus
der
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Verbindung mit dem Regierenden Herrn entsaget habe, so verbleibe ich gleichwohl
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in den fernern Pflichten des Nachfolgers und die
Connexion
der Sache macht
S. 229
mirs nothwendig, Ew HochEdelgb in engem Vertrauen zu melden: Daß mir
2
auf den bey dem 72jährigen Alter des Reg. Landgrafen nicht sehr entferntem
3
Veränderungsfall der erste und beschwerlichste Theil der
Direction
zugedacht
4
und so aufgehalset ist, daß ich nach langem Verbitten und Wehren mich nicht
5
davon loszusagen vermocht. Zu welchem Trost, Aufrichtung und Freude es
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mir also seyn würde, unsere Bemühungen zum Besten des künftigen und
7
nachkünftigen Regenten u. so vieler nach Göttlicher Langmuth ihnen
8
unterthänigen Menschen zu vereinigen ermeßen Ew. HochEdelgbh von
S
elbsten.
9
Ich schreibe noch mit heutiger Post an die Fürstin wegen der
Conditionen
:
10
Daß ich davor hielte, daß Ihnen nebst der ohnehin sich von selbst verstehenden
11
cum pertinentiis
d.i. mit Nebenräumen und Zubehör
freyen
W
ohnung
cum pertinentiis
und der Tafel mit den jüngern Fürstlichen
12
Kindern (welche eine sehr Einsichtsvolle und rechtschaffene
Gouvernante
13
GuldenRhein.
Rheinischer Gulden; Goldmünze, v.a. im Handel verbreitet
Thl. gut Sächsisch Geld
d.h. nach dem Leipziger 12-Taler-Fuß
haben) jährlich 5. à 600 GuldenRheinl. oder 400. Thl. gut Sächsisch Geld zum
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Salario
auszusezen – u. daneben die schriftliche Versicherung einer weitern
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nach Ihrem Geschmack, Neigung und Talenten einzurichtenden Versorgung
16
u.
Placir
ung zu geben wäre; es bestehe nun solche im
Cabinet,
oder bey
17
einem
Collegio
oder auf der
Universitaet,
je nachdeme Ih
nen
eins oder das
18
andere vorzügl.
conveni
rte. Von den Reise- und
Transport-
Kosten Ihrer
19
Bücher p ist ohnehin keine Frage.
20
Ich melde alles dieses in der Absicht voraus, um Ew. HochEdgb desto
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mehreren Raum zur vorgängigen Prüfung zu verschaffen, anbey etwa auch zu
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veranlaßen, daß mit der Anbindung bey dem Kriegs
Collegio
nicht zu sehr
23
geeilet würde, weil das Losbinden so dann um so schwerer fallen möchte.
24
Beurtheilen
Sie
übrigens den ganzen Vorgang nach der wahren u.
25
aufrichtigen Hochachtung, die ich Ih
nen
gewidmet habe, die ich Ihr
em
schönen Geist
26
und noch mehr Ihr
em
redlichen Herzen schuldig bin und die ich durch eine
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persönliche und Dienst-Verbindung noch mehrers zu begründen wünsche.
28
ungenannte Freundin, deren Nahme sich auch mit K. anfängt
wohl Karoline Henriette Christine Philippine Luise von Pfalz-Zweibrücken (1721–1774) oder Susanna Katharina v. Klettenberg (1723–1774). Die Anspielung auf den Anfangsbuchstaben ‚K‘ gilt auch Hamanns
Klaggedicht
, das beginnt mit: „Meine K...“ (ED S.51).
Eine ungenannte Freundin, deren Nahme sich auch mit K. anfängt und die des
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Nahmens meiner
einzigen
Freundin durch ein Herz voll Himmel so sehr
30
würdig ist, vereinigt mit mir Ihren
W
unsch u.
Sie
soll es seyn, die Ih
nen
den
31
ersten Trunck in einer der Freundschafft u.
W
ahrheit geheiligten Hütte einschencke.
32
Sobald ich von der Fürstin (deren u. Ihrer Kinder jezige Residenz 26.
33
Meilen von hier zu Bußweiler, eine Tagreise von Straßburg ist) Antwort erhalte,
34
werde ich über alles um so
positiv
er zu schreiben die Ehre haben.
35
Doch noch Ein Wort, das ich meinem Eingennuz nicht versagen kan: Wann
36
Ew HochEdelgb beharrliche Abneigung bey sich fänden, jener Stelle sich zu
37
unterziehen, könnten
Sie
S
ich gleichwohl nicht entschließen, auf einen andern
S. 230
u. noch
independen
tern Fuß in hiesige Gegenden sich versagen zu laßen? Ehe
2
ich mich aber darüber näher zu erklären im Stande wäre, müßte ich mir vorher
3
eine vertrauliche Eröfnung Ihrer dermaligen
Situation
und deren Vortheile
4
oder wahrscheinlichen Hoffnungen erbitten; da außerdem mein Antrag, so
5
freundschaftlich er auch wäre, doch beleidigend werden könnte.
6
Wenn es meinem Wunsch und Ahndung nachgeht, so hören
Sie
nicht nur
7
nicht auf,
Auctor
zu seyn, sondern
Sie
werdens noch in dem Grad der
8
Brauchbarkeit, der das bleibende Verdienst eines Ewigkeitsmäßig-
classi
schen
9
Schriftstellers ausmacht. Hier zu Land nisten keine Adler u. ihr Flug ist uns zu hoch,
10
Yah!
Esel
bey vielen Gänsen und Yah! findt und liebt man aber doch die gleich-originale
11
Philomele
Philomela ist in der gr. Mythologie die Tochter des attischen Königs Pandion, die von Zeus in eine Schwalbe verwandelt wird.
Philomele und, wanns nicht anders ist, geht man auch manchmal, an statt zu
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fliegen, auf vier Füßen u. erschleicht das, was andere erfliegen.
13
Ich schließe einen gegen meinen Vorsaz schon zu lang gewordenen Brief
14
mit den Versicherungen der treuen u. aufrichtigsten Hochachtung darinnen ich
15
unabläßig seyn werde Ew. HochEdelgebohren ergebenster Diener
16
F C v Moser
17
Drsdt
Darmstadt
Fürstl. Heßen Caßel. u. Drstdt
18
Geheimer Rath.
19
Copia
der Beylage.
Le
23.
aout.
20
Ma lettre écrite et fermèe je reçus hier au soir la votre du
20
; j’en ai
21
Ma lettre…
dt. Als mein Brief geschrieben und verschlossen war, erhielt ich gestern Abend den Ihren vom 20.; ich habe es dem Erbprinzen gemeldet, der geneigt zu sein scheint, Herrn Haman als Ludwigs Erzieher anzunehmen, ich hoffe, dass er bei all seinen Talenten in der Lage sein wird, einen Teil seiner Wissenschaft mit Leichtigkeit an meinen Sohn weiterzugeben, teilen Sie mir also, mein Herr, die Bedingungen mit, die man ihm bieten müsste; gebe Gott, dass dieser Mann so ist, wie ich ihn wünsche, um den moralischen Charakter meines Kindes zu formen.
rendu compte au pr. hered: qui paroit porté à prendre le S
r
Haman
22
pour instructeur de Louis, j’espere qu’avec tous les talens qu’il possede
23
il aura celui d’enseigner avec facilité une partie de ses Sciences à mon
24
fils, marqués-mois donc Monsieur les Conditions qu’il y auroit à Lui
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faire; Dieu veuille que cet cet homme soit tel que je Le desire pour
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former le Caractere moral de mon Enfant.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II (28).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VIIIa 164–169.
ZH II 226–230, Nr. 254.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
226/30 |
Ew ]
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Geändert nach Druckbogen 1940; ZH: Ew. |