22
60/16
Liebster Freund,
17
Sie haben mich in Ihrem neulichen Briefe Gott weiß nicht in welchem
18
Winkel der Welt gesucht; da ich geglaubt hätte, daß ich ganz nahe immer bey
19
Ihnen v Ihrem Andenken zur Hand wäre. Sie werden schon längst durch
20
Ihren HE. Bruder wißen wo ich bin, den ich ehstens bey mir zu haben denke,
21
um Erzählungen der alten Weiber durch den Augenschein zu wiederlegen, daß
22
es mir hier nach Wunsch geht. Ich wolte, daß es ihm ebenso gienge, v traue
23
Adam Bornwasser, Arzt in Mitau
anderen Berichten nichts. Der Tod des
D. Bornwasser
hat eine gantze Trift
24
Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
Ärtzte nach Mietau gezogen; v er wird nichts als seine Gesundheit nöthig
25
haben
und alle
auszustechen. Diese soll im zieml. Stande wieder seyn v also
26
hoffe ich, daß sein Glück unsern Wünschen v. seinen Verdiensten bald die
27
stange halten wird. Gott weiß, er hat unsäglich viel an seinem Leibe
28
ausgestanden v kann sich mit seiner Jugend trösten. Sein Kreutz hat ihm den lieben
29
Gott kennen gelehrt. Er hat den Vortheil gehabt eine schöne Bibliotheck bey
30
seinem Wirth brauchen zu können; der ein ehrlicher Mann ist. Er gestand mir,
31
daß sie ihm viel Einsichten in des
D. Suchlands
Vorlesungen gegeben hätte,
32
die für ihn nicht unbrauchbar v überflüßig wären, v er urtheilte von seiner
33
jetzigen Erkenntnis beßer als von derjenigen, die ihm in Königsberg
34
hinlänglich geschienen hätte. Sehen Sie, lieber Freund, wie klug uns die Erfahrung
35
v wie unwißend v. eitel uns die Schule macht. Unsere Umarmungen von
S. 61
beyden Theilen sind gewiß recht zärtlich v. aufrichtig gewesen; v ich freue mich
2
schon im Voraus ihn in Grünhof zu sehen. Er liebt sie jetzt, bester Freund,
3
noch einmal so viel als sonst; v wir haben in unsern Gesprächen wenigstens
4
eben so oft an Sie als an uns selbst gedacht.
5
Meine Umstände sind sehr gut hier; 100 Thrl. v mit dem Neujahrs
6
Geschenk kann ich auch zum Anfange zufrieden seyn. Die Frau Reichs Gräfin ist
7
eine
Dame
von vielem Verstande, eine Marquisin von
Rambouillet
oder
8
Lambert.
Sie liest gerne, hat eine artige Bibliotheck, die ich aber noch nicht selbst
9
zu sehen bekommen habe, sie hat mir aber selbige zum Gebrauch angeboten.
10
Ich habe ein kostbares Werk jetzt zum Gebrauch daraus bekommen. Es ist das
11
Dumont,
Histoire militaire du prince Eugène de Savoye
; Hamann hat daraus in sein
Berliner Notizbuch
exzerpiert (N V S. 140).
kriegerische Leben des
Eugens, Marlborough
v. Prinzens von Nassau
12
Friesland; in zwey großen
Royal Folianten
mit prächtigen Kupfern.
Du mont
hat
13
Rousset
Der 2. Band von
Dumont,
Histoire militaire du prince Eugène de Savoye
enthält den Text von Jean Rousset de Missy.
des erstern Schlachten beschrieben; das übrige ist von dem bekannten
Rousset,
14
Die Frau Gräfin hat unstreitig vielen Verstand v. viele Verdienste, die ihre
15
zarte Gesichtsbildung schon verspricht. Sie schreibt artige Verse, v besitzt
16
beynahe eine gar zu große
Delicatesse
im Umgange. Man muß ihr Weyrauch
17
streuen, v sie nimmt es nicht übel, wenn man ihr das Rauchfaß auch vor die
18
Nase hält. Sie ist die Seele ihres Hauses, v besitzt eben so viel Sanftmuth als
19
Entschlüßung. Sie wird von ihrem Gemahl v von allen denjenigen die sie
20
kennen bewundert v. verehrt. Ihr Geist zeigt, daß sie die Tochter eines großen
21
Generals
Peter Edmond de Lacy
Generals ist. Acht Kindbetten haben ihr den Glantz ihrer Schönheit noch nicht
22
benommen, v sie wird einmüthig für die beste unter ihren Geschwistern
23
erkannt; nachdem die General Stuartin tod ist.
24
Johann Heinrich oder Christopher Friedrich v. Fircks
Von den HE. von Firx habe ich gestern v heute einen Gruß bekommen; ich
25
habe mit dem ältesten in Mietau gespeist; v er begegnete mir sehr höflich er
26
bat mich zu sich v hat mich jetzt wieder bitten laßen. Sein Gut liegt 2 Meilen
27
von hier. Ich bin mir so viel Höflichkeit von einem kurländischen Cavalier auf
28
seinen 4 Pfälen nicht vermuthen gewesen. Er erkundigte sich nach
mir
Sie
29
v nach übrigen guten Freunden. Zeigen Sie diese Stelle keinem LandsMann
30
noch Nachbar.
31
HE.
Poehling
habe hier gleichfalls auf dem Pastorat aber noch als
32
Hofmeister gesprochen; ich habe nicht Lust mit ihm Bekanntschaft einzugehen. Er
33
vll. Otto von Grothusen, Oberhauptmann zu Goldingen
sagte, daß man die Wiederkunft des HE. von
Groethuysen
hier vermuthete.
34
HE.
M. Hase
ist eine halbe Meile von mir. Ein Mann von Ihren Jahren,
35
der eine ungemeine Stärke auf dem
Clavier, Violoncello
v ein großes
Genie
36
zu allem besitzt,
lingu
ist, Philosoph, Mathematiker, Maler v. alles, auch ein
37
großer Einfällist ist. Er ist Hofmeister bey einem HE. von
Buttler,
der ein
S. 62
reicher Cavalier von 16 Jahren aber überdem ein Klotz ist, aus dem der beste
2
Praxiteles
Der Bildhauer
Praxiteles
schuf ca. 330 v.Chr. eine Marmorskulptur des Hermes/Mercurius mit dem neugeborenen Dionysos auf dem Arm.
Praxiteles keinen Mercur schnitzen wird. Sein Gehalt ist wie meines; er wird
3
wie man mir erzählt von seiner HErrschaft auf den Händen getragen. Er ist
4
ein Abgötz der lieben Dummheit v läst sich zu viel herunter um ihr zu gefallen.
5
Dies ist das einzige, was mir an ihm nicht ansteht. Das Alter wird vielleicht
6
seiner Eigenliebe beßere Augen geben. Wir haben uns über Ihre
Venus
7
Metaphysique
einen Abend ziemlich gestritten; er hatte Lust sie zu einem heiml.
8
Materialisten darüber zu machen. Ich habe Ihre Parthey so gut als mögl.
9
gehalten. Einmal ist er bey uns gewesen; der Frau Gräfin und dem Ober
10
Parlament aber fiel dieser Besuch zum besten aus. Ich habe ihn noch nicht
11
besucht; sondern bisher immer im Pastorat versprochen. So artig wie sein
12
Umgang so abgeschmackt ist sein Briefstyl. Er hat mir einmal frantzoisch
13
geschrieben; es war eine schlechte v. künstl. Übersetzung übertriebener deutscher
14
Gedanken. Ich bewundere dies an einem Menschen, der einen allgemeinen
15
Geschmack in den Wißenschaften besitzt, v vieles sehr vieles in den schönen gelesen
16
hat v beurtheilen kann. Sie wollen liebster Freund, nach Göttingen gehen; ich
17
weiß den Zusammenhang dieser Entschlüßung nicht v will ihre eigene
18
Erklärung abwarten ehe ich es glaube. Schreiben Sie mir doch wenn Sie etwas
19
Neues wißen v geben Sie mir etwas von demjenigen ab, was Sie mißen
20
können. Sind Ihre Gedichte schon in Berlin fertig. Was macht mein
21
Hennings v. Sahme. Ich glaube daß keine Entschuldigung im stande ist meine
22
Aufführung gegen Sie gut zu machen. An den letzten habe ich schon für ein
23
viertel Jahr 3 Bogen geschrieben, die ich beynahe
cassir
en werde. Ist lauter
24
Poschwinn
Rote-Bete-Suppe
Poschwinn, wenn Sie dies polnische Gericht kennen. Grüßen Sie alle beide
25
tausendmal recht herzlich von mir, v versichern Sie beide, daß ich trotz Ihrem
26
Groll, den ich von Ihnen verdient habe, Ihr Freund leben v sterben werde.
27
Sie sollen ehstens von mir bedacht werden. Hat
Voltaire
nicht im Namen des
28
Es handelt sich vll. um den anonym erschienenen, aber von den Zeitgenossen leicht zugeschriebenen
Voltaire,
Réponse d’un Académicien
.
Publici
geantwortet. Wenn Sie den Schlüßel zu diesen Geheimnisvollen
29
Briefen haben, so theilen Sie mir doch selbigen mit. Ich bitte Sie äußerst darum.
30
Schreiben Sie mir doch; ich beschwöre Sie darum. Mit nächster Post erwarte
31
ich eine kleine Beylage von Ihnen bey dem Briefe meiner Eltern.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (3).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 257–260.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 50 f.
ZH I 60–62, Nr. 22.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
60/25 |
und alle ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies um statt und Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): um alle |