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Liebster Freund,

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Sie haben mich in Ihrem neulichen Briefe Gott weiß nicht in welchem

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Winkel der Welt gesucht; da ich geglaubt hätte, daß ich ganz nahe immer bey

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Ihnen v Ihrem Andenken zur Hand wäre. Sie werden schon längst durch

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Ihren HE. Bruder wißen wo ich bin, den ich ehstens bey mir zu haben denke,

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um Erzählungen der alten Weiber durch den Augenschein zu wiederlegen, daß

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es mir hier nach Wunsch geht. Ich wolte, daß es ihm ebenso gienge, v traue

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Adam Bornwasser, Arzt in Mitau
anderen Berichten nichts. Der Tod des
D. Bornwasser
hat eine gantze Trift

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Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
Ärtzte nach Mietau gezogen; v er wird nichts als seine Gesundheit nöthig

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haben
und alle
auszustechen. Diese soll im zieml. Stande wieder seyn v also

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hoffe ich, daß sein Glück unsern Wünschen v. seinen Verdiensten bald die

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stange halten wird. Gott weiß, er hat unsäglich viel an seinem Leibe

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ausgestanden v kann sich mit seiner Jugend trösten. Sein Kreutz hat ihm den lieben

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Gott kennen gelehrt. Er hat den Vortheil gehabt eine schöne Bibliotheck bey

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seinem Wirth brauchen zu können; der ein ehrlicher Mann ist. Er gestand mir,

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daß sie ihm viel Einsichten in des
D. Suchlands
Vorlesungen gegeben hätte,

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die für ihn nicht unbrauchbar v überflüßig wären, v er urtheilte von seiner

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jetzigen Erkenntnis beßer als von derjenigen, die ihm in Königsberg

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hinlänglich geschienen hätte. Sehen Sie, lieber Freund, wie klug uns die Erfahrung

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v wie unwißend v. eitel uns die Schule macht. Unsere Umarmungen von

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beyden Theilen sind gewiß recht zärtlich v. aufrichtig gewesen; v ich freue mich

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schon im Voraus ihn in Grünhof zu sehen. Er liebt sie jetzt, bester Freund,

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noch einmal so viel als sonst; v wir haben in unsern Gesprächen wenigstens

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eben so oft an Sie als an uns selbst gedacht.

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Meine Umstände sind sehr gut hier; 100 Thrl. v mit dem Neujahrs

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Geschenk kann ich auch zum Anfange zufrieden seyn. Die Frau Reichs Gräfin ist

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eine
Dame
von vielem Verstande, eine Marquisin von
Rambouillet
oder

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Lambert.
Sie liest gerne, hat eine artige Bibliotheck, die ich aber noch nicht selbst

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zu sehen bekommen habe, sie hat mir aber selbige zum Gebrauch angeboten.

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Ich habe ein kostbares Werk jetzt zum Gebrauch daraus bekommen. Es ist das

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Dumont,
Histoire militaire du prince Eugène de Savoye
; Hamann hat daraus in sein
Berliner Notizbuch
exzerpiert (N V S. 140).
kriegerische Leben des
Eugens, Marlborough
v. Prinzens von Nassau

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Friesland; in zwey großen
Royal Folianten
mit prächtigen Kupfern.
Du mont
hat

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Rousset
Der 2. Band von
Dumont,
Histoire militaire du prince Eugène de Savoye
enthält den Text von Jean Rousset de Missy.
des erstern Schlachten beschrieben; das übrige ist von dem bekannten
Rousset,

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Die Frau Gräfin hat unstreitig vielen Verstand v. viele Verdienste, die ihre

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zarte Gesichtsbildung schon verspricht. Sie schreibt artige Verse, v besitzt

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beynahe eine gar zu große
Delicatesse
im Umgange. Man muß ihr Weyrauch

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streuen, v sie nimmt es nicht übel, wenn man ihr das Rauchfaß auch vor die

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Nase hält. Sie ist die Seele ihres Hauses, v besitzt eben so viel Sanftmuth als

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Entschlüßung. Sie wird von ihrem Gemahl v von allen denjenigen die sie

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kennen bewundert v. verehrt. Ihr Geist zeigt, daß sie die Tochter eines großen

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Generals ist. Acht Kindbetten haben ihr den Glantz ihrer Schönheit noch nicht

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benommen, v sie wird einmüthig für die beste unter ihren Geschwistern

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erkannt; nachdem die General Stuartin tod ist.

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Johann Heinrich oder Christopher Friedrich v. Fircks
Von den HE. von Firx habe ich gestern v heute einen Gruß bekommen; ich

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habe mit dem ältesten in Mietau gespeist; v er begegnete mir sehr höflich er

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bat mich zu sich v hat mich jetzt wieder bitten laßen. Sein Gut liegt 2 Meilen

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von hier. Ich bin mir so viel Höflichkeit von einem kurländischen Cavalier auf

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seinen 4 Pfälen nicht vermuthen gewesen. Er erkundigte sich nach
mir
Sie

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v nach übrigen guten Freunden. Zeigen Sie diese Stelle keinem LandsMann

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noch Nachbar.

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HE.
Poehling
habe hier gleichfalls auf dem Pastorat aber noch als

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Hofmeister gesprochen; ich habe nicht Lust mit ihm Bekanntschaft einzugehen. Er

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vll. Otto von Grothusen, Oberhauptmann zu Goldingen
sagte, daß man die Wiederkunft des HE. von
Groethuysen
hier vermuthete.

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HE.
M. Hase
ist eine halbe Meile von mir. Ein Mann von Ihren Jahren,

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der eine ungemeine Stärke auf dem
Clavier, Violoncello
v ein großes
Genie

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zu allem besitzt,
lingu
ist, Philosoph, Mathematiker, Maler v. alles, auch ein

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großer Einfällist ist. Er ist Hofmeister bey einem HE. von
Buttler,
der ein

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reicher Cavalier von 16 Jahren aber überdem ein Klotz ist, aus dem der beste

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Praxiteles
Der Bildhauer
Praxiteles
schuf ca. 330 v.Chr. eine Marmorskulptur des Hermes/Mercurius mit dem neugeborenen Dionysos auf dem Arm.
Praxiteles keinen Mercur schnitzen wird. Sein Gehalt ist wie meines; er wird

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wie man mir erzählt von seiner HErrschaft auf den Händen getragen. Er ist

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ein Abgötz der lieben Dummheit v läst sich zu viel herunter um ihr zu gefallen.

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Dies ist das einzige, was mir an ihm nicht ansteht. Das Alter wird vielleicht

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seiner Eigenliebe beßere Augen geben. Wir haben uns über Ihre
Venus

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Metaphysique
einen Abend ziemlich gestritten; er hatte Lust sie zu einem heiml.

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Materialisten darüber zu machen. Ich habe Ihre Parthey so gut als mögl.

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gehalten. Einmal ist er bey uns gewesen; der Frau Gräfin und dem Ober

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Parlament aber fiel dieser Besuch zum besten aus. Ich habe ihn noch nicht

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besucht; sondern bisher immer im Pastorat versprochen. So artig wie sein

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Umgang so abgeschmackt ist sein Briefstyl. Er hat mir einmal frantzoisch

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geschrieben; es war eine schlechte v. künstl. Übersetzung übertriebener deutscher

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Gedanken. Ich bewundere dies an einem Menschen, der einen allgemeinen

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Geschmack in den Wißenschaften besitzt, v vieles sehr vieles in den schönen gelesen

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hat v beurtheilen kann. Sie wollen liebster Freund, nach Göttingen gehen; ich

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weiß den Zusammenhang dieser Entschlüßung nicht v will ihre eigene

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Erklärung abwarten ehe ich es glaube. Schreiben Sie mir doch wenn Sie etwas

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Neues wißen v geben Sie mir etwas von demjenigen ab, was Sie mißen

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Vll. die sieben, die in
Trescho,
Religion, Freundschaft und Sitten
erschienen sind.
können. Sind Ihre Gedichte schon in Berlin fertig. Was macht mein

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Hennings v. Sahme. Ich glaube daß keine Entschuldigung im stande ist meine

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Aufführung gegen Sie gut zu machen. An den letzten habe ich schon für ein

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viertel Jahr 3 Bogen geschrieben, die ich beynahe
cassir
en werde. Ist lauter

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Poschwinn
Rote-Bete-Suppe
Poschwinn, wenn Sie dies polnische Gericht kennen. Grüßen Sie alle beide

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tausendmal recht herzlich von mir, v versichern Sie beide, daß ich trotz Ihrem

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Groll, den ich von Ihnen verdient habe, Ihr Freund leben v sterben werde.

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Sie sollen ehstens von mir bedacht werden. Hat
Voltaire
nicht im Namen des

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Es handelt sich vll. um den anonym erschienenen, aber von den Zeitgenossen leicht zugeschriebenen
Voltaire,
Réponse d’un Académicien
.
Publici
geantwortet. Wenn Sie den Schlüßel zu diesen Geheimnisvollen

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Briefen haben, so theilen Sie mir doch selbigen mit. Ich bitte Sie äußerst darum.

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Schreiben Sie mir doch; ich beschwöre Sie darum. Mit nächster Post erwarte

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ich eine kleine Beylage von Ihnen bey dem Briefe meiner Eltern.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (3).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 257–260.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 50 f.

ZH I 60–62, Nr. 22.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
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und alle
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
um
statt
und

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): um alle