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Grünhof den
11. Jenner 1754.
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Herzlich geliebtester Vater,
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Ich habe wieder ohne meine Schuld zum Lügner werden müßen. In
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Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
meinem letzten Briefe machte ich die gewißeste Hofnung von Mietau so weitläuftig
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als mögl. zu schreiben. Unsere Anstalten waren zur Abreise völlig fertig. Die
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Mädchen waren schon zum voraus abgereist zu unserer Ankunft alle
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Beqvemlichkeit v. Reinlichkeit zu besorgen. Der Kutscher brach aber den Tag vorher die
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eine Armröhre entzwey v alles wurde hiedurch zu Waßer. Zu meinem Glück
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FlußFieber
„Febris catarrhalis, ein nachlaßendes Fieber, welches sich mit Flüssen auf der Brust vereinigt. Man macht einen Unterschied unter ein gutartigen [Catarrh] und bösartigem Flußfieber.“, vgl.
Krünitz
, Tl. 14, S. 420
bekam ich hiedurch Zeit ein FlußFieber mit einem schlimmen Hals
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abzuwarten, das mich 3 oder 4 Tage ziemlich in Gliedern geleg
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en hat. Es hätte nur
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an mir gelegen mich in dieser kleinen Unpäßlichkeit recht zu pflegen; weil die
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Frau Gräfin Ihre Sorgfalt für meine Gesundheit v.
Appetit
mir sehr öfters
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aufs gnädigste bezeigen ließ. Eine strenge Diät v die Wärme haben mir aber
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die beste Dienste gethan. Des HE. General
Excell.
kamen wieder Vermuthen
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noch ganz spät am heil. Abend vor Weynachten zu Hause; v ich habe jetzt
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wenig Hofnung in der Gesellschaft des Hauses nach Mietau zu kommen. Die
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Fest- und Neujahrs-Zeit bin ich mit GlückwünschungsSchreiben beschäftigt
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gewesen, die ich für meine junge Herren v. den HE. General habe thun müßen.
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Diese Arbeit ist auch vorbey v. ich habe mich recht gesehnt etwas von meinen
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lieben Eltern zu lesen oder Ihnen etwas zu lesen zu geben. Ich bete,
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Geliebteste Eltern, für Sie und wenn Gott mein Gebet erhört, so werden wir von
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beyden Theilen glücklicher v zufriedner auf der Welt seyn, als uns alle
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Wünsche des Wohlstandes irgend machen können. Wenn ich alles dasjenige
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zusammennehme, was ich bey diesem neuen Jahr für andere habe wünschen
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müßen; so ist es gegen dasjenige viel zu leicht, was die Erkenntlichkeit v.
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Gegenliebe der besten Eltern von mir verlangt v. fordert. So schwer mein
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Herz wird, wenn ich an meine Freunde gedenke; so wenig scheint es mir
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demjenigen ein Genüge zu thun, was ich Ihren Verdiensten um mich v Ihrer
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Zärtlichkeit schuldig zu seyn glaube. Ich hoffe übrigens, daß Ihre
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beyderseitige Gesundheit, Geliebteste Eltern so beschaffen seyn wird, daß ich nur nöthig
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habe eine dauerhafte Fortsetzung derselben zu wünschen. Sie können, lieber
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Papa, auf mein Wohlergehen, wenn sie so gut seyn wollen, sicher ein Glaß
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Wein mit frohem Herzen allemal austrinken. Ich verehre die Wege des lieben
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Gottes, der mich in ein Haus geführt hat, wo ich in den meisten Stücken das
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Gegentheil desjenigen antreffe, in dem ich eine gute Probe ausgestanden habe.
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Ich habe mir unterdeßen vorgenommen, mein ganzes Leben als Lehrjahre
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anzusehen, um mich wieder alles gesetzt zu machen. Das Hauß des HE. Belgers
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ist mir vielleicht eine eben so nöthige Schule gewesen um die Blöße falscher v.
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schwacher Freunde kennen zu lernen. Ich hoffe Ihre Freundschaft auf der Welt
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nicht mehr nöthig zu haben v. würde mich eher zu allem entschließen, als
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zu derselben meine Zuflucht zu nehmen.
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Ich wiederhole meine Versicherung, daß ich keine Schulden gemacht v das
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was bey HE. Belger angelaufen ist, bezahlt habe. Sie können sich, lieber Papa
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in diesem Stück vollkommen zufrieden geben. Ich beruffe mich auf meine
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Aufrichtigkeit, die ich noch nicht verleugnet habe. Sie wißen, daß ich ein Viertel
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Jahr von meinem Gehalt zum voraus aufgenommen, v davon meinen Rest
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meinem Wirth bezahlt habe. Wenn ich übrigens noch etwas richtig zu machen
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hätte, so würde es mir allemal frey stehen das 2te Viertel Jahr gleichfalls
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aufzunehmen, da ich so schon gegen ein halbes Jahr bald hier werde gewesen
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seyn. Ich hoffe aber dieses nicht einmal zu meinen künftigen Ausgaben nöthig
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Alb. Thrl.
Albertsreichsthaler, 1616 in den Niederlanden eingeführt, im 18. Jhd. zeitweise auch in Preußen und Dänemark geprägt; wichtiges internationales Zahlungsmittel im Ostseeraum.
zu haben. Des HE. General
Excell.
haben mir 10 Alb. Thrl. zum Neuen Jahr
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mit den gnädigsten v. recht zärtl. Versicherungen Ihrer Zufriedenheit mit mir
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gegeben. Die Frau Gräfin hat es gleichfalls nicht daran mangeln laßen. Man
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erkundigte sich gestern nach meinem Freund den
D. Lindner,
er hat mir durch
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den Candidaten
Ruprecht
des Pastors Sohn auf Grünhof Hofnung zu
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seinem Besuch machen laßen. Sie versicherten mich, daß es Ihnen lieb seyn
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würde ihn hier zu sehen; v. ich bin deswegens willens ihn noch heute zu
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schreiben v darum zu ersuchen. Er wird im stande seyn alsdenn das beste Zeugnis
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von den Eigenschaften der Frau Gräfin v. der Ordnung dieses Hauses ablegen
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zu können. Der Tisch ist hier der kurländischen Wirthschaft zuwieder sehr
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ordentlich, schmackhaft, gesund v reich. M
orgens
ittags v. Abends habe ich
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meine
Carafine
Wein; v der ordentliche Besatz ist von 5 oder 6 Gerichten.
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Meinen beyden jungen Herrn fehlt es nicht an Munterkeit; sie reden fertig
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franzoisch v man hält hier einen franzöischen Bedienten zu ihrer Übung im
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Reden. Der älteste hat einen sehr geschwinden Kopf; er ist ein Schooßkind
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der Eltern. Ich habe mich in großer Furcht wegen ihrer Lebhaftigkeit setzen
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müßen. Es macht aber den Eltern viel Vergnügen, daß sie mich
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demohngeachtet lieben. Kurz ein Hofmeister darf nicht verzagen mit ihnen Ehre
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einzulegen; v man hat wenigstens von ihrem Fortgang unter mir vortheilhaftere
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Gedanken als ich selbst. Ich kann mir dieses Vorurtheil gern gefallen laßen.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (16).
Bisherige Drucke
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 52 f.
ZH I 62–64, Nr. 23.