208
93/12
Königsberg den
20 Junius 1761.

13
Geliebtester Freund

14
Für den Beschluß des Popowitsch danke. Wenn Sie etwas verschreiben, so

15
laßen Sie das Buch für mich kommen, aber nach Ihrer Beqwemlichkeit, weil

16
es niemals für mich zu spät kommen wird. Heute Gottlob! die Woche mit

17
dem
XLV
Kap. Jeremiä beschloßen, mit drey
Suren
des Alkorans und den

18
politischen Büchern
Aristot.
Ath. pol.
politischen Büchern des Aristoteles zu Ende; nun komt die
Rhetoric,
Poesie

19
und Metaphysik. Ich habe mit viel Zufriedenheit Kantemirs Türkische

20
Geschichte gelesen, und theils die Stärke dieses Mannes in der Kunst des

21
historischen Vortrages, theils unendlich vieles darinn über den morgenländischen

22
Geschmack und Sitten zu meinen jetzigen Arbeiten gefunden. Versprach mir

23
ein ähnliches Vergnügen von Marins Geschichte des Saladins; der Franzose

24
hat aber meine Erwartung nicht erfüllt. Es herrscht in der
Anlage
des Buchs

25
und der
Verbindung der Materien
eine
solche Unordnung
und

26
Misverhältnis
, die durch keinen Firniß des Witzes ersetzt werden kann. Herr Lauson

27
hat eine kleine Abhandl. des
Rect. Pisansky
vom Dichter Herrmann hier

28
Discours
Vll. Pierre-Isaac Poissonnier,
Discours sur le progrès des beaux arts en Russie
(1760)
abgelegt, die ich nach den Buchladen schicken werde, wo ich auch den
Discours

29
sur le progrès des be
lles
aux arts en Russie
für Sie besorgen laße. Ich

30
Kanterschen
Johann Jakob Kanter
Woltersdorfschen
Gerhard Ludwig Woltersdorf
besuche jetzt keinen mehr und habe weder im Kanterschen noch Woltersdorfschen

31
was zu thun; und ich gewinne dabey, daß die Lüsternheit nach Neuigkeiten

32
meinen Arbeiten keinen Eintrag thut. Was mir unterdeßen in den Mund

33
geflogen kommt, nehm ich mit. Diese Woche habe einen sehr angenehmen

34
Einkauf von
Buxtorfs Chald
äisch-rabbinisch-talmudischen
Lexico, opere XXX

35
gl.
Groschen (Silbermünze oder Kupfermünze; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch)
annorum,
wie der Titel sagt, für 50 gl. gethan. Vom Meßgut habe mir bloß

S. 94
Arleqvin
Möser,
Harlekin
den
Arleqvin
angeschafft, der schön philosophisch und gelehrt gestochen ist

2
Luthers an Voltaire
Möser,
Lettre a Mr. de Voltaire
(durch den Möser, der den Charakter Luthers an Voltaire geschildert, nach

3
meiner Vermuthung) und gestern nur
Witting
von der Lehrart Pauli. Der

4
Besitz dieser beyden Schriften ist mir lieb, weil ich ihre Verfaßer als

5
Reisegefährten ansehen kann, und ihre Vertraulichkeit mir viel Licht über die

6
Karte des Landes
ertheilt, in dem ich mich verirrt habe. Die Scheidewand,

7
welche unsere Schriftgelehrten und Freygeister absondert, scheint derjenigen

8
sehr ähnlich zu seyn, die Juden und Heyden trennte.


9
Dii nostra …
Verg.
Aen.
, 7,259f.: „Seid gnädig unsrem Beginnen, / Götter, und eurer Verkündung. Dir, Troer, gewähr ich die Bitte“
– – Dii nostra incepta secundent

10
Auguriumque suum: dabitur, Troiane! quod optas.

11
Virgil. VII. 259.


12
αλλοτρια
allotria, abgelegene Angelegenheiten
Dies waren
αλλοτρια
. Ich komme jetzt auf Dinge, die mich näher angehen,

13
und Ihnen geliebter Freund, auch nicht gleichgiltig seyn sollen. Ob ich die Rolle

14
Brutus
wohl im Sinne von Verräter
des
Brutus
bald werde ausgespielt haben, oder ob sie erst angehen wird,

15
weiß nicht. Kommt es zum
Spiel
; so wißen Sie, wie die
Steine
stehen.

16
I.
Mein Bruder meldete durch die
Schritte
seiner
Ankunft
und
seines

17
Eintrittes ins Amt
als Lehrer an der Rigaer Domschule (1758)
Eintrittes
ins Amt die
Nothwendigkeit
ihm zu
Hülfe
zu kommen, so

18
nachdrücklich an, daß mir jede Saumseeligkeit und der kleinste Fehler gegen die

19
Principiis obsta
Wehret den Anfängen.
große Lehre:
Principiis obsta,
ein Dolch im Herzen war. Meine Unruhe

20
darüber, mein Ernst dem Uebel abzuhelfen, wurde verlacht, oder für Bitterkeit,

21
Hause
von
Arend Berens
in Riga, in der zweiten Jahreshälfte 1758
Haß und Ungestüm erklärt. In dem Hause, wo ich damals lebte, hab ich schon

22
damals das Ende des
Liedes
besungen; und man gab mir damals Recht.

23
II.
Seit meinem Aufenthalt hier habe dem Wachsthum des Uebels immer

24
zugesehen. Alle meine ernsthaffte Bemühungen wurden vereitelt, weil man

25
das
Göttliche
Urtheil über mein Herz sprach, und alle meine Liebesworte aus

26
einer bittern Qvelle herleitete, und mich zum Garkoch haben wollte, da ich

27
Arzeneyen zu verschreiben für nöthiger fand.

28
kam ich nach Riga
Juli/August 1760
III.
Mit einer Vollmacht vom
Vater
und
Beichtvater
kam ich nach Riga

29
geschickt. Wenn ich meinen Bruder länger hätte zappeln laßen; so würde ich

30
klüger
gehandelt haben.
Ehrlich
war es, daß ich ihn loßmachte, und mich an

31
das
zweydeutige
Gesicht einiger Umstände nicht kehrte. Mein Bruder war

32
ohnedem der grösten Gefahr jetzt ausgesetzt, da es schien, als wenn Sie es für

33
rathsam würden gehalten haben
Amtsstrenge
zu brauchen, ohngeachtet er

34
υστερον προτερον
hysteron proteron: Umstellung, Umkehrung
zu der Zeit des
Mitleidens
am nöthigsten hatte. Ein
υστερον προτερον
von

35
der Art würde der letzte Stoß für meinen Bruder gewesen seyn. Es war ein

S. 95
Glück für Sie und für mich, dafür ich Gott danke, daß Sie
ehrlich
in

2
Ausspannung meines Bruders aus seinem
Joche
zu Werk giengen. Bey der

3
geringsten Untreue hätte ich mir
kein Gewißen gemacht
Ihre Freundschaft

4
der Liebe zu meinem Bruder aufzuopfern – –

5
Scylla …
zwischen Skylla und Charybdis: ausweglose Wahl zwischen zwei Übeln
IV.
War Ihre Schule eine
Scylla
gewesen; so war hier eine
Charybdis.
Ich

6
der unsichtbare Richter
5 Mo 10,17
habe gearbeitet, daß mir die Haare zu Berge gestanden. Das weiß der

7
unsichtbare
Richter, der
keine Person
der
Menschen
ansieht. Weil ich nicht krum

8
gerad machen konnte; so wollte ich doch nicht so niederträchtig seyn, was krum

9
ist, für gerad anzunehmen, und gerad zu nennen, weil es andere so nannten,

10
die von keinem andern
Kanon
was wißen wollen als von ihrem

11
kanonisirten Augenmaas
. Mein Vater
konnte
und
wollte
nicht; mir waren die Hände

12
gebunden. Ich redte so lange ich Odem hatte. Weil aber Ungehorsam und

13
Unwille zunahm; so ließ ich – endlich – meinen Bruder in seines
Herzens

14
Dünkel
und in dem
Wandel
nach
eigenhändigen Rath
.

15
V.
Sein Weg gieng also aus seines Vaters Hause – Sie wißen wohin? Man

16
hat
hier
eben die Fehler begangen, der Sie sich
dort
schuldig gemacht; von

17
beyden Seiten. Vor alten Zeiten pflegte man hier zu sagen:
Wir kennen
den

18
Herrn nicht
; mit
Werkzeugen
, die uns
fremd
sind, kann man nicht viel

19
kluges ausrichten. Dieser Vorsicht hat sich
D. S.
in Ansehung meines Bruders

20
überhoben. Wenn
D. S.
aber auch meinen Bruder nicht kennt, so hat dieser den

21
Vortheil vielleicht vor ihm, daß er
D. S.
kennt.

22
Aut – aut
lat. Entweder – oder
So weit sind wir jetzt; nämlich am Scheidewege, wo es heist:
Aut – aut.

23
Ändert
sich mein Bruder: so ist mein Wunsch erfüllt, und sein Herz wird sich

24
zugl. gegen mich ändern. Es wird alle die Vorurtheile niederlegen, die es in

25
Ansehung meiner gehabt hat – – es wird alle die heiml. Tücke verabscheuen,

26
die ihm bisher im Wege gestanden, die
Wahrheit
zu sehen.

27
Will mein Bruder sich nicht ändern: so muß notwendig Uebel ärger

28
werden; und der Karren tiefer hineinkommen wie er gewesen ist.

29
Ich darf mich um den Lauf einer Sache nichts bekümmern, zu der ich nicht

30
nöthig gehabt habe weder Ja noch Nein zu sagen. Geht es schief; so habe ich

31
volles Recht die Leute zu Rede zu setzen, die meinen Bruder geführt haben.

32
Ihr Blut sey auf ihren Kopf. Wer meinen Bruder
verzieh
en
t
will,
ist

33
mein Feind; wer ihn aber
verachtet
; soll es doppelt seyn. Wehe denen,

34
die sich beyder Sünden gegen ihn schuldig gemacht haben!

35
an blinden Leitern
Mt 15,14
Die Zeit wird lehren, an wem es gelegen, an
blinden Leitern
, die sich für

36
sehend
halten; oder an einem Knaben, den man hätte gängeln sollen, wenn

37
er gehen lernen sollte, den man selbst hätte hüten sollen drey, sechs Wochen

S. 96
oder Monathe lang, ehe man ihm eine Heerde anvertraut hätte. Wenn der

2
Schiffer seinen Steuermann ausgelernt hat; denn kann er sich auf ihn

3
Mst. de prudentia scholastica
Manuskript über die Klugheit, die in der Schule nötig ist; nicht ermittelt, vll. hier ironisch gemeint.
verlaßen, aber nicht ehe, wie in meinem
Mst. de prudentia scholastica

4
geschrieben steht.

5
Es kommt mir bisweilen vor, daß in meinem Bruder ein großes
Pfund

6
verborgen liegt; ich
traue
aber meinen Ahndungen so wenig als meinen

7
Vernunftschlüßen. Eines Kenners Urtheil zeigt sich an
rohen
Edelsteinen; und

8
eines Künstlers
Genie
adelt sich an
niedrigen
Subiect
en.

9
Er schauet …
Ps 102,20f.
Er schauet von Seiner heiligen Höhe, hieß es diese Woche in meiner Beichte

10
Ψ
.
CII
und der HErr siehet vom Himmel auf Erden, daß Er das Seufzen des

11
Gefangenen
höre – –


12
Aus diesem Entwurf, der die Dinge von Anfang hergeleitet, werden Sie

13
von meiner jetzigen Stellung gegen meinen Bruder hinlängl. urtheilen und

14
damit
auch
die Folgen der Zeit vergleichen können.

15
Elbing
heute Elbląg
Ich habe die Reise nach Elbing ausgesetzt, wohin mich mein Vetter abholen

16
wollte, weil meine Gegenwart theils hier nöthig und nützlich ist, theils um

17
den Gang meiner Geschäfte nicht aufzuhalten, da ich nicht weiß, wie lang

18
oder kurz die Frist
ist
seyn mag, die mir noch zugedacht ist. Meine Neigung

19
zur
Ruhe
macht mich arbeitsam, und ich liebe den
Krieg
als einen
Vater
des

20
Göttlichen
Friedens
.

21
HE Hinz ist mit dem
Legat.
Rath
aufs
Land gereist gewesen; ich habe ihn

22
seit seiner Rückkunft noch nicht gesehen und das
Compliment
an
S
seine

23
eleves
Albertine Elisabeth und Friedrich Heinrich, die Kinder von
Friedrich Alexander v. Korff
eleves
bestellen können. Ich werde es bey erster Gelegenheit in Acht nehmen.

24
– Meinen herzlichen Gruß an Ihre liebe Hälfte. Mein alter Vater empfiehlt

25
sich gleichfalls. Ich umarme Sie und bin Ihr treuer Freund.

26
Hamann.


27
Ich habe die Pfingstwoche nach Kurland
an den jungen
Pastor

28
ge
bl
schrieben und den Brief
ganz
franqui
rt; daher er wohl liegen geblieben seyn

29
mag. Wenn Sie nach Kurl. schreiben; so bitten Sie doch den HE Bruder, daß

30
er sich bey dem
jungen
Pastor
oder auf
der
Post
erkundigt. Der Kopf ist mir

31
bisweilen voll. Sollte auch ein Versehen auf dem
Couvert
geschehen seyn.

32
Fils
Sohn, von lat. filius
Ich hatte, glau
ch
b ich, geschrieben
Ruprecht, Fils.
Vielleicht hat man
Fils

33
zum Zunahmen und
Ruprecht
zum Vornahmen gemacht. In diesem Fall

34
könnte man sich nach einem Brief an den Pastor
Fils
erkundigen.
Vale.



S. 492
Handschriftliche Anmerkung von Johann Gotthelf Lindner zu HKB 208 (II 94/12):

11
NB.
Von
Schrift
französ.
Parallele des Trag. Grecques et Franc.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (70).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 88 f.

ZH II 93–96, Nr. 208.

Zusätze fremder Hand

492/11
Johann Gotthelf Lindner

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
95/2
Joche
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
Joche
95/16
dort
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
dort
95/16
hier
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
hier
95/17
den
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
den
95/18
fremd
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
fremd
96/27
Pastor
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
Pastor
96/30
der
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
der
492/10
–11
Handschriftliche […] Franc.]
In ZH im Apparat.
492/11
Schrift
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
Schrift.