207
S. 89
Königsberg den
30 May 1761.
2
Geliebtester Freund,
3
Lauson
Johann Friedrich Lauson
Herr Lauson hat mich eben besucht; bey dieser Gelegenheit erzählte ihm
4
mein Bruder
Johann Christoph Hamann (Bruder)
mein Bruder, daß er nächsten Montag ausziehen würde zum HE Kgsr.
5
Wegner
Otto Salomo Wegner
v Wegner, wo er Hofmeister geworden durch Vermittelung seines
6
Beichtvaters
Johann Christian Buchholtz
Beichtvaters und
D. Schultz.
Dieser Neuigkeit wegen schreibe heute an Sie, weil ich
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weiß, daß Sie an dieser Veränderung Theil nehmen. Es ist mir herzlich lieb,
8
daß ich im übrigen mich um nichts bekümmern
dürfen
, und also von nichts
9
weiß. Man scheint unterdeßen auch
hier
in den Fehler gefallen zu seyn, daß
10
man einen Menschen
brauchen
will, den man sich noch nicht die Mühe gegeben
11
zu
kennen
. Die Folgen davon weiß Gott, der alles zu Seiner Ehre und unserm
12
Besten gedeyhen laßen wolle!
13
Meine Arbeiten haben nach den Feyertagen einen sehr glücklichen Fortgang
14
gehabt. Den Jesaias habe seit Pfingsten angefangen und hoffe ihn künftige
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Woche zu schlüßen. Ein Drittel von Aristoteles zweyten Theil habe heute
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auch geschloßen, und fange nächstens seine politische Bücher an. Ein eben so
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scharfsinniger Beobachter und Geschichtschreiber in dem Sitten- als
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Naturreiche. Mit dem arabischen geht es beßer als ich dachte und habe schon 61 Verse
19
des zweyten Kapitels im Alkoran
absolui
rt, ohngeachtet ich so träg als
20
möglich diese Arbeit treibe. Die ersten 20
Sur
en sind die längsten und machen über
21
die Hälfte des ganzen Buches aus, das über 100 zählt.
22
Wegen des verlornen Papiers machen Sie sich keine weitere Mühe, ich bin
23
damit recht sehr zufrieden, daß es nicht gefunden worden. Fällt es Ihnen durch
24
einen Zufall in die Hände; so
erhalten
Sie es mir.
25
Lauson
Johann Friedrich Lauson
Im Buchladen habe ein paar Kleinigkeiten von Lauson hingeschickt, der sich
26
Galimafré
Frikassee von Fleischresten, hier zufällige Sammlung von Büchern
bedanken läßt und ein
Galimafré
von meinem Freund
Hintz
beygelegt, den
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Kaysers
Johann Jacob Keyser
ich im Engl. unterrichte; auch ein Gedicht des Kaysers, der Hofmeister des
28
Banqueroute
Bankrott
X.Y.Z.
gewesen und deßen Philosophie in ein
Banqueroute
aufgehört. HE.
29
Jungen v. Korf
Albertine Elisabeth und Friedrich Heinrich, die Kinder von
Friedrich Alexander v. Korff
Hinz führt die Jungen
v. Korf,
Mariannens Pflegkinder, die ich sehr liebe
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wegen einer gewißen natürl. Gutartigkeit, die ihnen ein sehr gesetztes Wesen
31
giebt.
32
Skelton
Skelton,
Deism revealed
Sie erhalten mit nächsten
Skeltons
offenbarte Deisterey. Ich wundere mich
33
daß ich diesen Schriftsteller nicht eher kennen gelernt. Er ist der
ältere Bruder
34
Herveys Theron und Aspasio
Hervey,
Meditations and contemplations
, die Erweiterung ab 1753 als Teil 2 u. 3.
Theron and Aspasio or, a series of dialogues and letters
(London 1755)
von Herveys Theron und Aspasio. Haben Sie ihn schon; so wird
Ihnen für das Buch dankbar seyn, das zur Zierde sr.
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Bibliothek gereichen wird. Der Tiefsinn ermüdet ein wenig den Leser, oder
S. 90
muntert ihn auf. Ich habe übrigens viele Ideen gefunden, die mit den meinigen
2
eine Art von Sympathie haben und mich desto mehr für den
Schäfer
und den
3
Autor eingenommen.
4
Lamberts gelehrtes
Saecul.
Ludw.
XIV.
hat mich sehr verdrüslich gemacht
5
durch den
einförmigen Leichenrednerton
, der in allen seinen Artikeln herrscht.
6
Fontenelle
Bernard le Bovier de Fontenelle
Der zweyte Theil ist ein wenig angenehmer als der erste, weil Fontenelle mehr
7
gebraucht werden können. Hambergers Nachrichten der Schriftstellergeschichte
8
sind ein vortreflich Handbuch, das Sie vermuthlich schon besitzen werden. Die
9
moralischen Beobachtungen und Urtheile
Waser,
Moralische Beobachtungen und Urtheile
moralischen Beobachtungen und Urtheile habe erst jetzt kennen gelernt, und
10
das Ende, welches einen
Actum
zwischen Vater und Sohn über Klopstock
11
einrückt, giebt ein Muster zu einer neuen Art von Schuldrama. Ich habe dies
12
kleine Fragment zweymal gelesen, und wünschte, wenn Sie es studieren
13
möchten; weil es ein Original ist, das reiche Züge zur Nachahmung an die Hand
14
geben kann.
15
Parallele des Tragedies …
Jacquet,
Parallèle des Tragiques Grecs et Français
Zwey französische Kleinigkeiten habe mir angeschaft.
Parallele des
16
Thrl.
Taler, meist ist der 24 Silbergroschen entsprechende Reichstaler gemeint, eine im ganzen dt-sprachigen Raum übliche Silbermünze (Groschen: Silbermünze oder Kupfermünze; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch).
kein Alphabeth
d.i. ist nicht sonderlich umfangreich
Tragedies grecs et francois
1760 kostet 1 Thrl. hier und macht noch kein Alphabeth.
17
Der Autor scheint ein Jesuit zu seyn; er giebt seine Arbeit für nichts als ein
18
Brumoy
Brumoy,
Le Théâtre des Grecs
Supplement
zum
Brumoy
aus. Um den Vorzug der neusten französischen
19
dramatischen Schriftsteller zu zeigen (ein
Thema,
das nach dem Geschmack
20
des Jahrhunderts aussieht), untersucht er im ersten Theil die Alten, und zeigt
21
Feßeln
die sogenannten aristotelischen drei Einheiten
ihre
Ueberlegenheit
, indem er immer die Feßeln beschämt, die sich die Neuern
22
selbst geschmiedet; im zweyten erhebt er die Geschicklichkeit, womit sich die
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letzteren selbst ihrer Sclaverey zur Ehre ihres Ruhms bedient haben, und daß
24
die Stücke de
s
r Alten eben den Regeln wiedersprechen, die man sich
25
Racine
Jean-Baptiste Racine
einbildet von ihnen entlehnt zu haben. Er schränkt sich besonders auf
Racine
als
26
den Liebling des französischen Geschmacks ein. D
er
ieser Plan
dieses
seines
27
Buchs verräth schon die Politik eines Jesuiten.
28
I.
Ueberlegenheit der Alten in der Wahl der Fabel. Historie, Tradition,
29
Erdichtung sind die drey Qvellen. Die alten waren nicht
so abergläubisch
30
gewißenhaft
gegen die Geschichte als wir sind; nicht so ungläubig und eckel
31
gegen das wunderbare der Tradition. Dichten ist in unsern Zeiten eine
32
philosophische Sünde. Aristoteles hat zu derselben seine Zeitverwandten sehr
33
aufgemuntert, weil die bekanntesten Begebenheiten für den grösten Haufen der
34
Zuschauer so anzusehen sind als wenn sie niemals geschehen wären. Die
35
poetische Gerechtigkeit hat die Neueren aber am är
g
msten gemacht. Diese
36
moralische Ungereimtheit bemüht sich der Autor am meisten zu zeigen.
Exiger
37
d’un poete qu’il purifie toujours le vice et qu’il fasse triompher la vertu
S. 91
c’est renverser l’ordre de la Prouidence qui permet tous les jours le
2
contraire.
– – Diese Gewohnheit hebt den ganzen Endzweck des Theaters auf.
3
Qu’importe que le Spectateur s’en aille bien content du succès de la
4
catastrophe c’est
vouloir lui plaire au moment qu’il vous echappe
.
Ein
5
wenig Nachdenken zeigt die ganze Ungereimtheit dieses Grundsatzes, der
6
unserer gesunden Vernunft so wohl als unserer Religion Schande macht, die
7
in jedem Zuseher ein künftig Gericht voraussetzt. Das Intereße der Umstände
8
ist das wesentlichste; es zieht aber seinen Ursprung aus einem geheimen
9
Intereße gegen die Personen. (Die Katholicken könnten eben den Gebrauch von
10
Tous […] patriotisme
ebd., S. 56f.
ihren Heil. machen den die Griechen von ihren Helden)
Tous les membres
11
d’une seule famille, tous les Spectateurs s’imaginoient voir dans les Heros
12
qu’on mettoit sur la scene un Ancetre dont la gloire rejaillissoit sur eux. – –
13
C’etoit pour ainsi dire une tendresse filiale et comme un interet de parenté
14
bien piquant pour des Atheniens et dans le centre du patriotisme.
So viel
15
von der Wahl des Grundes, auf den der Poet bauen will. Hierauf komt der
16
Autor auf die
Wahrscheinlichkeit
, den Eckstein seines ganzen Gebäudes;
17
nicht was die Erfindung sondern die Einrichtung und Oekonomie des Stückes
18
Le grec […] toujours pretes
ebd., S. 72–77
betrift. Leichtigkeit der Alten die Einheiten zu beobachten.
Le grec avoit
19
1000 ressources que nous n’avons plus. Lorsque la raison, l’arbitre et la
20
regle de la vraisemblance ne se pretoit a ses vues, il avoit tout le Ciel a
21
ses ordres. La Religion, la
Theologie
meme par un accord, qui ne subsiste
22
plus sembloient lui tendre la main. – – Des songes, des sermens, des
23
prestiges, des Oracles, une invincible fatalité, des
Dieux mechans
qui
24
ordonnoient le crime, des Dieux
trompeurs
et si je puis m’exprimer ainsi des
25
Dieux
sorciers
etoient pour le Poete des ressources toujours sures, des
26
machines toujours pretes
– – Daß uns diese Maschiney noch nicht untersagt
27
ist, hat ein neuerlicher Versuch erwiesen, und daß es keine Kunst ist den Alten
28
nachzuahmen, wenn man selbige nur kennt und versteht. Hieran fehlt es aber
29
den meisten, daß Sie weder viel von der Wirtschaft verstehen, noch ihren
30
Grund und Boden recht kennen. Hierauf folgt ein Kapitel vom
Knoten
und
31
On mene […] noeud
ebd., S. 80
sr Auflösung.
On mene fort à son aise quand on sait qu’on ne sera point
32
chargé de defaire le noeud.
Der Autor hält sich lange über die Regel der
33
incommode […] des Anciens
ebd., S. 85
5 Aufzüge als ein Gesetz auf
incommode au Poete et contraire à la pratique
34
par quelques […] plus besoin
ebd., S. 106
des Anciens.
Wodurch haben wir die
Chöre
ersetzt?
par quelques mechans
35
violons. Admirable equivalent! – – Nos privileges sont d’avoir plus de
36
talens ou du
moins d’en avoir plus besoin
.
Hierauf
les moeurs – les
37
sentimens. Nous voulons des emportemens
reflechis
et
compassés
, qui
S. 92
laissent à
l’exterieur
toute sa
decence
, à l’esprit trop de flegme et à
2
la raison tout son empire. – – Nos poetes ne font pas assez d’attention,
3
que le Parterre
ne
doit etre compté pour rien, qu’il n’est pas supposé
4
present – – Diction – – Magnificence et etendue des Theatres anciens.
5
Das letzte Kapitel des ersten Theils zeigt die Qvelle der Vorurtheile, die bisher
6
das
neue
französische Theater in der Knechtschaft erhalten haben, worinn
7
Les fondemens […] consistoit etc: etc: etc
ebd., S. 130–133
wir es sehen.
Les fondemens en furent posés par des hommes sans genie,
8
sans connaissance de l’antiquité, sans aucune idée juste du Theatre. – –
9
Le meilleur
et
l’unique
parti qu’il y avoit à prendre, c’étoit de tout
10
renverser, de creuser de meilleurs fondemens et de recommencer à nouveaux
11
frais. – – Si Corneille eut pris une route opposée à celle qu’avoient tenue
12
ses predecesseurs, c’eut été vouloir convaincre d’ignorance tous ses rivaux
13
et de stupidité grossiere ceux qui les avoient sottement admirés. Le pas
14
etoit glissant et Corneille n’osa peutetre pas le hazarder. Il se contenta de
15
corriger le plan qu’on avoit suivi jusqu’alors; il sentit la gene mais il n’osa
16
s’en affranchir. Le pouvoit – il avec honneur, dans un tems ou le
merite
17
poetique
consistoit etc: etc: etc:
18
So weit mein Auszug aus dem ersten Theil; der zweyte deckt alle die
19
Fehler auf, welche die Alten, nach unsern Regeln gemeßen, haben.
20
l’art de peindre
Watelet,
L’art de peindre: poëme
; Hamann besaß wohl die Ausgabe von 1761 (Amsterdam).
Das andre Buch, davon ich Besitzer, ist
l’art de peindre
, ein Gedicht des
21
Watelet
mit kleinen Abhandlungen über die verschiedenen Theile der Malerey
22
begleitet. Zwey philosophische Begriffe will ihnen aus den letzten mittheilen.
23
La beauté […] ceux de l’ame
ebd., S. 101 (Ausgabe 1760) bzw. S. 111 (Ausgabe 1761)
La
beauté
consiste dans une conformation parfaitement relative aux
24
mouvemens qui nous sont propres. La
grace
dans l’accord de ces mouvemens
25
avec ceux de l’ame.
Hierauf folgt ein Brief, worinn dies Gedicht streng und
26
zieml. richtig beurtheilt wird; und denn des
Fresnoy
und Abt von
Marsy
27
zwey lateinische Gedichte mit französischen Uebersetzungen das erste
de arte
28
graphica
betitelt und ein steifer starrer
Di
dacticker, das letzte
pictura,
29
Carmen;
wo die Muse die Bitte des Dichters erhört:
30
– –
Da
periculum
, da Musa, colores.
Die Ausgabe dieser kleinen
31
Sammlung ist von diesem Jahr, und schmeichelt sehr das Auge durch den Druck und
32
die Vignetten.
33
Ducaten
Goldmünzen (in ganz Europa gängig)
Vorgestern erhielt ein
confisci
rt Buch, das mit einem
Ducat
en bezahlt
34
Die unwandelbare …
Schade,
Die unwandelbare und ewige Religion
wird, und von dem ich noch den ganzen Titel abschreiben will: Die
35
unwandelbare und ewige Religion der ältesten Naturforscher und sogenannten Adepten
36
oder geometrischer Beweiß, daß die Metaphysik die wahre theoretische und die
37
Moral die wahre practische Gottesgelahrtheit sey, bestehend in einigen freyen
S. 93
Anmerkungen und Erinnerungen über das in dem
I. II.
und dem
2
Vorbereitungstheile zum
III.
Stücke der höheren Weltweisheit enthaltene System der
3
allgemeinen Gesellschaft der Wißenschaften und deren Einrichtung und Plan
4
zur gründlichen Ueberführung aller seicht denkenden und köhlergläubigen
5
Deisten und Naturalisten aufgesetzt von einem Liebhaber der Wahrheit an seinen
6
8
Oktavformat
Freund. Berl. und Leipz. 1760. in 8. 15 Bogen. Wenn Sie an dieser
Titulatur
7
noch nicht genung haben: so melden Sie sich, um Ihnen noch eine andere und
8
etwas mehr daraus mittheilen zu können. Ich umarme Sie, und Ihre liebe
9
Hälfte, und bin nach herzlichsten Empfehl ms. Vaters Ihr aufrichtigster
10
Freund.
11
Hamann.
S. 492
Handschriftliche Anmerkung von Johann Gotthelf Lindner zu HKB 207 (II 89/12):
8
werden zur
Galeere
.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (69).
Bisherige Drucke
Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 46–50.
ZH II 89–93, Nr. 207.
Zusätze fremder Hand
492/8 |
Johann Gotthelf Lindner |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
92/30 |
periculum |
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): peniculum |
492/7 –8
|
Handschriftliche […] Galeere.] |
In ZH im Apparat. |