15
39/11
greg. 19.04.1753
Riga
Am grünen Donerstage 1753.

12
Herzlich Geliebteste Eltern,

13
Ich bin durch eine gütige Gewohnheit, die Sie haben Ihre Briefe zu

14
franci
ren bey dem letztern nicht wenig beunruhiget worden; v es hätte nicht viel

15
gefehlet, so hatte ich sie nicht für Briefe von Hause erkannt. Mein Kerl, den

16
ich auf die Post geschickt hatte, kam zurück v brachte mir die Antwort, daß

17
Dütchen
Münze, 3-Groschen-Stück (Groschen: Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch)
man 8 Dütchen dafür forderte. Ich wolte mich dazu nicht entschlüßen, weil

18
ich von der Ordnung im Postwesen nicht das beste hier gehört hatte, v weil ich

19
ein wenig verwöhnt worden war v. mir Briefe aus einem andern Ort

20
vorstellte. HE. Belger schickte mir unterdeßen selbige zu, weil ich ihn hatte bitten

21
laßen
selbige
sie mir zuzustellen. Ich kannte die Hand v machte mir hundert

22
Mümmel
Memel, heute Klaipėda [55° 42′ N, 21° 8′ O]
Ursachen ehe ich ihn erbrach, warum er nur bis Mümmel
franci
rt war, biß ich

23
endlich von der Hand meiner lieben Eltern nichts fand. Ich
muste
selbst über

24
die Unruhe lachen, die mir diese Kleinigkeit gemacht hat, v ich habe sie Ihnen

25
daher mittheilen wollen, liebste Eltern, daß Sie mich auch ein wenig

26
auslachen sollen. Denken Sie unterdeßen nicht, daß ich die Absicht habe Ihre

27
Briefe durch diese kleine Geschichte mir inskünftige immer frey zu machen.

28
Ich glaube das Vergnügen etwas von den Meinigen zu lesen nicht theuer

29
genung bezahlen zu können. Sie werden unterdeßen auch meine geschwinde

30
Züchner
vll. Leinenweber
Zuschrifft durch den Dantziger-Züchner oder Krämer erhalten. Er handelt mit

31
Leinwand oder andern Kleinigkeiten, mit welchen Waaren man hier sehr viel

32
soll verdienen können. Der HE. Regierungs Rath von Kampenhausen hat mir

33
die Ehre eines langen Besuchs auf der Schule gegeben; v. ich will die Absicht

34
v den Inhalt deßelben mit ehsten berichten. Vorigen Sonntag habe ich ihn mit

S. 40
dem jungen Baron Vormittags besuchen müßen; er war so gnädig uns seine

2
Tafel anzubieten v er hätte uns auch schwerlich weggelaßen, wenn wir nicht

3
selbst zu Hause
nicht
Gäste gehabt hätten. Heute wollen wir
seinen
den

4
jungen Herrn von Kampenhausen unsere Aufwartung zusammen machen, ein

5
Kind von 7 Jahren, das aber viel Munterkeit besitzt v
so viel schon
wie ein

6
kleiner Magister redt.

7
Die Frau Baronin ließ heute frühe den jungen Herrn unten ruffen v mich

8
Lies
Ließ-Pfund (6,3 kg)
ersuchen, wenn ich nach Königsberg schriebe mich um den Preis eines Lies ℔

9
geschließener
Federn schließen: die Fahne in kleinen Flöckchen vom Halm abziehen.
1.) geschließener Federn v. 2.) Daunen zu erkundigen. Wenn Sie so gütig seyn

10
wolten mir einen kleinen Zedel mit dem ersten Briefe einzulegen, auf den der

11
Preis von beiden geschrieben wäre, auch eine kleine Nachricht von den Sorten

12
derselben; ich glaube wohl, daß es feine v. grobe Daunen giebt.

13
Die Mad. Belger hat einen Speckkuchen gebackt, von dem sie mir auch

14
einige Schnitte zuschickte. Ich schickte für die jüngste Fräulein auch etwas

15
unten, die das Fieber bisher gehabt hat. Er war aber nicht gerathen v hat doch

16
gut genung geschmeckt wie ich gehört habe. Ich v. der HE. Pastor Blank haben

17
einmal gescherzt uns von meiner lieben Mutter einen zu verschreiben, weil

18
man hier auch eine Art Speckkuchen hat, die den Namen in der That führen,

19
aber nicht sonderlich nach meinem Geschmack sind.
Ein
klein
Recept
von

20
diesem Kuchen wollte ich mir wohl bey Gelegenheit für die
W
irthschaft

21
meines lieben Nachbars ausbitten.

22
Der liebe Gott laße Sie die Feyertage in seiner Ruhe v. in guter

23
Gesundheit endigen
was ich
insbesondere meiner lieben Mutter erbitten will, die

24
noch unpäslich ist. Ich v. mein
junger
Baron haben heute unsere Kirche zu

25
Hause aus dem Saurin halten müßen, v wir
haben
eben eine schöne

26
Abtheilung von denen Weißagungen der großen Erlösung des Menschl.

27
Geschlechts
geha
bt. Ich empfinde nicht selten das hohe v. liebenswürdige in

28
der Religion selbst, mit dem ich ihn zu rühren suche, v ich glaube, daß man

29
am glücklichsten mit eigener Ueberzeugung andere lehren kann.

30
Ich habe lange nicht eine Zeile von meiner lieben Mutter gesehen; wird Sie

31
mir nicht bald schreiben können? Gott gebe Ihnen alles das Gute, das für

32
Sie erbittet Ihr gehorsamster Sohn.

33
Johann George.


34
Liebes Brüderchen,

35
Wenn Du meinen letzten Brief für 6 juristische Punkte schiltest, so möchte

36
gravamina
Einwände
ich bald in Ernst einige
gravamina
wieder den Deinigen aufsetzen. Du schreibst

S. 41
mir nicht das allergeringste wie meine Freunde meine Briefe aufgenommen,

2
v ob sie mir antworten werden. HE. Lauson hat doch wohl verstanden, daß

3
ich mit ihm gescherzt habe. Du schreibst mir nicht, wo mein Vater hingefahren

4
ist, ob meine Mutter bettlägerig ist; du hast nicht einmal einen Gruß von der

5
letztern mir gemacht. Ich glaube ganz gewiß, daß sie mich lieb genung hat

6
denselben nicht vergeßen zu haben. Ich weiß, daß der Abt Bernis Gesandter pp

7
ist; du schreibst mir aber nicht, wo du die Satire herhast, noch ob sie gedruckt

8
oder nur geschrieben ist. Du betrügst Dich sehr, wenn du den Abt Bernis für

9
den Verfaßer hältst; wenn du sie verstanden hast, so hättest du sie auch von

10
selbst für eine Satire auf den Abt v auf den gantzen frantzoischen Hof

11
beurtheilen können. Schreib mir doch, wo du sie herhast, du must sie aus einer

12
Handschrift haben, die ein wenig schlecht geschrieben gewesen ist. Nimm mir

13
nicht übel, Herzensbrüderchen, es sind viele Schreibfehler darinn, die du von

14
selbst hättest
corrigi
ren können, v die mehr aus Unwißenheit der Sprache als

15
Nachläßigkeit herzukommen scheinen.
de mentez
z. E. ist ein bekanntes Wort

16
das zusammen gehört. Ich will dich entschuldigen, v glauben, daß ich im Engl.

17
jetzt von dir so viel möchte lernen können als ich dich im frantzoischen
corigi
rt

18
habe. Du wirst diese kleine Erinnerungen mit einer brüderl. Freundschaft

19
aufnehmen, v es solte mir leid thun, wenn du über meine Freyheit ein wenig

20
empfindlich seyn soltest. Ich erkenne die Dienste, die du mir mit dieser kleinen

21
Schrift gethan hast, v die ich mir noch inskünftige verspreche, gar zu sehr, als

22
daß ich es mit dir verderben solte. Um dir zu sagen, was du mir mit diesem

23
Hirtenbrief für einen Gefallen gethan hast, will ich nichts mehr melden, als

24
daß ich ihn wohl 5 mal nach einander durchgelesen habe; v daß ich den

25
Nachmittag gleich HE. Gericke zu mir bitten lies, der sich gleichfalls dafür gegen

26
Dich bedanken läst; Er läst dich recht sehr ersuchen den 4ten Theil von

27
Lilienthal mit beizulegen. Ich bin gestern Abend sehr vergnügt mit ihn gewesen.

28
vll. ein Katalog des Leipziger Buchhändlers Adam Friedrich Böhme
Meine Eltern läst er gleichfalls ergebenst grüßen. Ist der
Böhmi
sche
Catal.

29
schon gedruckt? Er möchte ihn gerne haben. HE. Pastor Blank, an dem ich

30
einen rechtschaffenen Freund habe, hat mich gleichfalls ersucht, wenn ich etwas

31
bekäme, auch einige Bücher für ihn zu verschreiben. Ich glaube gewiß, daß

32
Dir dergl.
Commissiones
v. meinen Eltern einige Unruhe machen, v. dir nichts

33
einbringen, lieber Bruder. Es thut mir selbst leid, daß ich meine gute Freunde

34
hier auf andere Rechnung dienen soll. Du kannst aber gewiß glauben, daß ich

35
selbige auf beßere Zeiten anschreiben werde. Der Buchladen ist Dir auf die

36
Nähe; v. mein lieber Vater wird so gut seyn auch das Geld unterdeßen

37
vorzuschießen. HE. Pastor hat die halbe Fracht auf sich genommen. Ich wolte

S. 42
ihm gerne ein Geschenk mit den
Memoires
machen; er hat mir dies halb zu

2
verstehen gegeben. Hüner mag ich für ihn nicht wie der vorige Hofmeister

3
einkaufen. Schreibe mir, ob nicht eine Hand
Edition
ausgekommen frantzoisch

4
nemlich, wo die Zueignungsschrift dafür steht. Man mag so uneigennützig

5
seyn wie man will; so ist es doch gewiß, daß die Freundschaft sich durch

6
Gegendienste erhällt, v. gestärkt wird. Das Geld von dem HE. Pastor möchte ich

7
wohl schwerlich so gleich auszahlen können. Wenn ich hier noch in Riga bin;

8
so muß er erst die Rechnung haben, eh er mir solches überschicken kann. Und

9
bin ich wieder auf Kegeln; so versteht es sich ohnedem, daß ich es erst nach

10
Riga schicken muß, ehe es nach Königsberg kann befördert werden. Mit Wißen

11
v. Willen soll mein Vater nicht Schaden leiden; v ich habe nicht einmal Recht

12
das Gute, das er mir noch thut, von ihm zu fordern. Ich glaube, daß ich alle

13
diese Achtsamkeiten mit Dir nicht einmal nöthig hätte; da du von Rechts wegen

14
Marq.
Madame de Pompadour, vgl.
Bernis,
Lettre pastorale
mich auswendig kennen soltest, wie der Konig von Frankr. die Marq. pp. Sie

15
sind gar zu empfindlich‥ sagte der HE. von Kampenhausen zu mir. Doch noch

16
ein paar
Commissiones!
Leg mir des Ulrichs Sendschreiben auf des

17
Völkersams Abreise bei, ich glaube, daß er mit anderm Kalbe gepflügt hat. v. vergis

18
nicht die
Lettres au public;
wenn es möglich ist. Der 1. Theil der

19
fl.
Gulden, Goldmünze, hier aber vmtl. 1 polnischer Gulden, eine Silbermünze, entsprach 30 Groschen.
Hamburgischen Beiträge zu den Werken des Witzes
v der
Sittenlehre kosten mir 1 fl.

20
So viel werde ich auch noch von dem meinigen mißen können. Die Fortsetzung

21
soll
mein
junger Herr halten; der heute zum erstenmal von selbst die

22
Aufmerksamkeit gehabt hatte meine li
eben Eltern
v. dich grüßen zu laßen. Noch

23
eins. Ich glaube, Du hast nicht so viel Recht Dich über meine kurzen Briefe

24
zubeschwe
ren. Eine
leedige Seite habe ich diesmal bezahlen müßen. HE.

25
Gericke hat mir den Rath gegeben deinen Brief wieder
retou
r gehen zu

26
laßen v. von dir auch die andere voll zu fordern. Meiner Eltern v. Freunde

27
Briefe werden auch für
Dich…
gelt seyn. Ich kann ja nicht an jeden daßelbe

28
wird schreiben
; v. das versprochene will ich halten. Noch einmal
  

29
Dank für des
Bernis
Hirten Brief! Er verdient, daß du ihn abgeschrieben v

30
daß ich ihn besitze. Ich schreibe gew
  
eignen Fuhrmann. Lebe wohl v.

31
liebe Deinen aufrichtigen v. ehrl. Bruder, wie er dich liebt. Grüße M
  
.

32
Empfiehl mich auf das ergebenste dem HE. v.
Charmois.
Ich will ihn

33
schreiben, sobald ich kann. Ich habe diese Woche ein Rhabarber Pulver

34
eingenommen. Der natürl. Stuhlgang erfolgte erst wieder Gewohnheit des Abends

35
  
Kräfte etwas verloren. Ich befinde mich aber
  
dar
  

Provenienz

Unvollständig überliefert. Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (13).

Bisherige Drucke

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 41 f.

ZH I 39–42, Nr. 15.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
39/23
muste
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
mußte
42/28
wird schreiben
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
wieder
statt
wird

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): wieder schreiben