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greg. 11.04.1753
Riga. den
31 Martz/11 April 1753.
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Herzlich Geliebteste Eltern,
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Ich habe heute angenehme Briefe von Hause bekommen; die Augen
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Krankheit meiner lieben Mutter hoffe ich wird schon gehoben seyn. Es thut mir leid
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Ihnen ein blindes Schrecken mit einem Geschwür unter dem Arm eingejagt
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zu haben; es ist Gott Lob! nichts daraus geworden, v ich befinde mich
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Marschall
Brautführer
übrigens recht gesund. Ich bin gestern auf die Hochzeit als Marschall gewesen; v.
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diese Arbeit ist auch vorbey, ohne das Vergnügen genoßen zu haben, das ich
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mir dabey vorgestellt. Ich habe diese gantze Nacht nicht geschlafen; weil ich
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vermuthen muste zu spät nach Hause zu kommen v hier in der Ruh zu stören,
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da sich überdem das jüngste Fräulein schon ein 14 Tage an Fieber krank
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befindet: so hatte ich mich die Nacht lieber ausgedungen. Weil die Hochzeit klein
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war, so gieng ich, mein Ober Marschall, ein Sachse v. gleichfalls Hofmeister
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Pantzer
dessen Untermieter
nebst HErrn Belger, HE. Pantzer zu dem letzteren auf die Stube v vertrieben
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uns die Zeit bis 7 Uhr; von da wir unsern Morgenbesuch dem jungen Paar
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ablegten v. ein jeder seine Straße gieng. Ich zu meinem Schaaf v jener zu
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seinen Böcken. Sie werden einen Brief von mir nächstens mit einem Dantziger
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Kauffmann Miltz
nicht ermittelt
Kauffmann Miltz erhalten, mit dem ich noch ziemlich lustig den letzten Tag
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seiner Abreise bey HE. Belger gespeist habe. Den Abend vorher erfuhr ich erst
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selbige v. lernte ihn kennen; ich habe daher wenig schreiben können. Sie
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werden so gut seyn v den Mann einen Abend oder Mittag aufzunehmen suchen.
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Er wird meinen Eltern berichten können, daß ich nach des HErrn Belgers
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Urtheil zugenommen haben soll pp
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Die Gewißensfragen, die Sie mein lieber Vater aus so einer zärtlichen
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Sorgfalt an mich thun, sind eben solche, die ich mir selbst oft genung zu
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beantworten suche. Ich bin weder zum Heuchler noch zum ruchlosen geboren.
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Ohne mich zu schmäucheln, ich finde einen Beruff v einen Geschmack zur
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Tugend in mir, der mich tausend Wollüste in guten Handlungen empfinden
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läst, v. mir jede Ausschweifung zum Laster schwürig und eckel macht; so gut
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als ich Neigungen an mir erkenne, die übertrieben werden können v. eine gar
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zu große Leichtgläubigkeit zu den Versuchungen der Einbildungskraft. Die
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Ehrfurcht, die ein Lehrer für seinen Untergebenen haben mus, v. die alle die
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Orter, wo dieser sich befindet, gleichsam zu Heiligthümer macht, erhällt mich
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in der Achtsamkeit auf mich selbst v auf die Sittenlehre. In ihrem
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Schreibebuch steht diese Vorschrift, die zugleich eine für mich ist, von der ich am
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ungernsten abweichen möchte:
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Rost,
Versuch von Schäfer-Gedichten
: „Die Tugend“
Die Tugend ist des Lebens werth zu achten
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Und wer sie treibt, erfüllt der Vorsicht weises Ziel.
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Ihr Stand ist der, wornach die Klugen trachten,
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Und Witz ist ohne sie ein leeres Schattenspiel.
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Kein Lehrer kann der Welt mit Nachdruck rathen,
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Er lehre denn zugleich mit seinen Thaten.
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Ich habe meinem Bruder ein Tagebuch meiner Arbeiten versprochen, das ich
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ihm nächstens mittheilen will. Endlich habe ich dazu kommen können den
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HErrn Karstens zu mir zu bitten. Ich habe einen sehr vergnügten Nachmittag,
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so kurz wie er auch war, in seiner Gesellschaft gehabt. Er war so gütig mir
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zugleich einen Hamburger mitzubringen, der Hofmeister in seines Herren
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Hause ist, den ich mit Vergnügen durch ihn zu meinen Bekannten zählen kann,
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weil er ein geschickter Kopf ist. Ehstens will ich meinen Gegenbesuch ablegen.
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Sie werden so gut seyn Ihrem
Domino
Karstens meinen ergebensten v.
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freundschaftlichsten Grus zu vermelden. Ich weis weder den Namen des
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Fuhrmanns, Geliebteste Eltern noch habe ich den Namen des Apotheker
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Gesellen erfahren können, der ihnen diese Briefe mitbringen wird. Er ist ein
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Herling
nicht ermittelt
Bekannter von Herrn Herling v Herr Belger hat ihm die Bestellung jener aufs
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beste empfehlen laßen. Ja, lieber Vater, ich stottere noch, bisweilen sehr,
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bisweilen wenig, v. öffters garnicht. Dieser Fehler macht mich in Gesellschafft
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zum verschwiegnen v. heimlichen Menschen, hindert mich aber wenig im
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Unterricht. Ich glaube
aber
, daß derselbe andern nicht so beschwerlich ist
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als ich es mir einbilde, v ich stottere mehrentheils, wenn ich mich fürchte zu
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stottern. An den ehrlichen Nachbar Wagner werde ich mit ersten schreiben;
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diese oder künfftige Woche habe ich dazu ausgesetzt mit Fuhrleuten Briefe zu
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schicken. Verdingen Sie doch, liebster Vater, mit ihnen dorten; ich fürchte
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mich gewaltig für die Unverschämtheit derselben, die mir hier ist unerhört
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Ort
bzw. Orth, Name der polnisch-preussischen 18-Groschen-Münze, deren Silbergehalt unter Nominalwert lag, also als schlechtes Zahlungsmittel galt. Wurde teilweise in Königsberg geprägt. (Groschen: Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch.)
beschrieben worden. Ein bloßer Brief wird kaum mit einem Ort nach ihrem
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Sinn bezahlt. Meine Laute ist nicht im stande sich für das
Compliment
zu
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bedanken. Ich habe sie in 14 Tagen v. drüber weder spielen noch hören können;
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weil mir Seyten zum 4ten 5ten
cet.
fehlen. Ich habe welche gekauft, die ganz
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unnatürlich klingen. Herr Reichard hat mich auch nicht gar zu gut versorgt.
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Es ist hier ein Secretair Würfel, der viele Stärke in der Musik besitzt, v der
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eintzige Lautenspieler in Riga ist. Er hat
sich
mich auf ein Lauten Gericht
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zu sich bitten
laßen;
ich werde aus Noth ihn beschmausen v zu Gast kommen
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müßen v. ihm meine Laute zur Pflege geben. Ich erwarte mit dem äußersten
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Verlangen, daß HE. Reichard die versprochene Stücke überschicken wird v.
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laß ihn nebst den werthen
sten
Seinigen im voraus aufs beste grüßen. Ein
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gleiches thun Sie, liebwertheste Eltern, allen Genoßen v. Freunden unseres
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Hauses, Nachbarn v. Nachbarkindern. Ich küße Ihnen 1000 mal die Hände
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v. bin Ihr
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gehorsamstes Kind.
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Lieber Bruder.
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Um die gestrige Nacht bin ich in diesem Monat zu kurz gekommen.
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Strumpfbänder bekommen die Marschälle hie nicht. Drey junge
Cavaliers
sind heute
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immer oben v unten gelaufen. Ein kleines allerliebstes Fräulein, eine
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Schwester des kleinen von Osten hat mich mit zwey jungen Jgfrn von 14 Jahren
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besucht. Sie selbst ist 5 Jahre alt; Hände v. Füße haben Einfälle bey ihr. Sie
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läst sich von keinem küßen als meinem Baron; die andern bekomen
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Maulschellen, ihn rufft sie: mein lieb Budbern – Aus eignem Trieb gab sie seinem
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Hofmeister v. Deinem Bruder auch ein Mäulchen. Heute ist Mittwoch v. also
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pro memoria
vmtl. im polem. Schlagabtausch mit
Gotthold Ephraim Lessing
um
Lauson,
Versuch in Gedichten
Gesellschaftstag in unsern Hause. Das gelehrte
pro memoria
in der Sache des
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HE. Lauson habe ich durch HErrn Gericke Vorsorge gelesen. Ich habe es mir
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in Gedanken recht emphatisch v. nach dem Leben von dem Prof. Bock
reciti
ren
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laßen. Schreibart, die Vertheidigung des Staats, die
professions
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Anmerkungen über die Reime v. bedrängten Zeiten laßen einen nicht viel rathen nach
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dem Verfaßer. Lauson kann sich gut vertheidigen, wenn er will.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (12).
Bisherige Drucke
Walther Ziesemer: Unbekannte Hamannbriefe. In: Altpreußische Forschungen 18 (1941), 282–284.
ZH I 36–39, Nr. 14.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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laßen; ]
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Geändert nach Druckbogen 1940; ZH: laßen, |