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S. 43
Riga den
28 Ap. 1753.
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Lieber Bruder,
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Du wirst das Schicksal gegenwärtigen Briefes schon wißen; ich habe
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denselben in meiner Krankheit in meinem Schlafrock immer bey mir getragen.
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Ich will mich lieber weitläuftig auf den Innhalt desselben erinnern, als ihn
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von neuen durchlesen. Einige Anmerkungen v. Vertraulichkeiten über den
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Hofmeisterstand in dem ich insbesondere stehe, sind darinnen enthalten. Der
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Verdrus v. die Mühe, die mit diesem Geschäffte unvermeidlich sind, haben
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mich ein wenig mehr als sonst aufgebracht, weil ich die Hitze meiner
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Unpäßlichkeit schon fühlte. Der Bücherkasten war ein Umstand, der mir sehr nahe
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gegangen. Ich sehe aus dem Erfolg, daß man nicht alles nach der Strenge
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beurtheilen muß. Man kann sich in den Qvellen der Menschl. Handlungen
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sehr leicht betrügen. Es ist vielleicht nicht so viel Bosheit v. Niederträchtigkeit
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in der Art den Herrn B. v durch ihn den Hofmeister zum Besten zu haben, als
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ich vermuthet habe, dahinter gewesen. Man hat mich vielleicht nur ein wenig
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begieriger machen wollen, man hat sich vielleicht gefürchtet mich zu klug zu
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machen, man hat auf seinen guten Willen vielleicht gewartet mir einen
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Gefallen zu erweisen. Mein Baron ist auch wohl selbst schuld daran gewesen, daß
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man es ihm abgeschlagen hat, weil er noch nicht vernünftig zu bitten weis. Es
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fehlt den Kindern hier gewaltig an Lebens Art; sie werden sich selbst v. dem
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Gesinde gar zu sehr überlaßen. Ich habe Dinge genung hier, die ich gern in
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diesem Stück abgeschafft haben wollte; für das Gegenwärtige hüte ich so viel
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ich kann: die Folgen des vorigen laßen sich nur mit der Zeit heben. Ansehen
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genung hab ich im Hause, v. ich kann nicht klagen
im Gesicht
ein eintzigmal
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mit Vorsatz beleidigt zu seyn! Alle die unter mir sind, such ich durch
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Höflichkeit v. wenn es angeht durch kleine Dienste mehr auf meine Seite zu ziehen.
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Das Gesinde, mit dem ich in Verbindung stehe, laße ich nicht gern umsonst
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mir aufwarten. Das Beyspiel, das ich meinem jungen HE. zu geben schuldig
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bin, verbindet mich einigermaaßen dazu. Mit dem übrigen mach ich mir nichts
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zu thun, als daß ich mich hüte sie niemals grob zu begegnen. Mein Kerl zur
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Aufwartung ist ein fauler Taugenichts, v. ein freundlicher Heuchler oben
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ein, den ich
es
nicht werth halte mir viel aufzuwarten. Die Frau Baronin
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hat sich ein paar mal in der Einbildung einer recht feinen Achtsamkeit
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vergeßen; ihr Charakter ist in dem Briefe an meine Eltern geschildert. Sie ist eine
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Frau, die das nicht thun kann, was sie gern will. Ich lebe daher zufrieden
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genung, Brüderchen; ich bin gesund v. recht vergnügt, wenn es mir mein
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Baron zu seyn erlaubt. Mein halb Jahr wird bald zu Ende seyn v ich werde
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sehen, wie die Sache gehen wird. Ich fühle, wenn ich mit meinem lieben
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Baron Religion v. Sittenlehre rede, daß uns beide allein werth v erträglich
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machen können Menschen zu seyn. Gott der unsere verfloßenen Jahre eingerichtet
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hat ist für die künftigen, die er uns leben laßen will, weise genung. Wie viele
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Menschen hat es gegeben, denen er das nothdürftige
gege
entzogen hat v.
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die sich darüber beschweren können? Wie viele Menschen hat es gegeben,
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für deren Mistrauen v für deren Begierden er hat genung thun können? Sie
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tragen eine Hölle in ihrem Herzen, die unersättlich ist v.
niemals
alles
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verschlingen will. Die Augen wollen mehr eßen, als der Magen in sich nehmen
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kann.
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Du wirst dasjenige von selbst unterscheiden können, was du nöthig hast auf
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meinen vorigen Brief zu beantworten. Ich habe nicht Zeit einen neuen zu
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schreiben v ich fürchte mich ihn durchzulesen.
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Boulainvilliers,
La Vie de Mahomed
, erschien 1747 in deutscher Übersetzung, Orig. 1730.
Ich bin jetzt eben in der Hälfte des Lebens
Mahomets,
das der Graf von
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Boulainvilliers
geschrieben hat. Dieser Prophet, der Alexander M. in seinem
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Alcoran auch dazu gemacht hat, verdient, daß man ihn genauer kennen lernt.
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Du wirst vermuthlich wißen, daß
Boulainvilliers
sich
durch dieses Buch
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seine Religion verdächtig gemacht hat. Es gehört einiger maaßen mit zu denen
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seltenen. Er glaubt, daß man dem Mahomet zu schlecht beurtheilt ihn für
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einen bloßen Betrüger zu halten v daß mehr als dies dazu gehört das zu thun
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was
Mahomet
gethan hat. Die Kirchen Geschichte seiner Zeit lehrt den Verfall
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der Christl. Religion. Man muste seiner Vernunft v seinem Gewißen
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abgeschworen haben um das zu seyn was damals ein
Χ
st hieß. Er hatte nicht
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Urtheil genung das wesentl. des
Χ
stenthums von denen Misbräuchen, die in der
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Griechischen Kirche herrschten zu unterscheiden; v aus Staatsklugheit
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beqvemte er seine neue Religion nach denen Gebräuchen, Vorurtheilen v.
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Neigungen desjenigen Volks, dem er Gesetze geben wollte. Montesquiou glaubt,
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daß Gott selbst dieses in denen bürgerl. Gesetzen gethan, die er dem Volk
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Montesquieu,
De l’Esprit des loix
, Buch XV, Kap. XVII: „La loi de Moïse étoit bien rude. ‚Si quelqu’un frappe son esclave, et qu’il meure sous sa main, il sera puni: mais, s’il survit un jour ou deux, il ne le sera pas, parce que c’est son argent.‘ Quel peuple, que celui où il falloit que la loi civile se relâchât de la loi naturelle!“
Israel gab. Das Gesetz Moses, schreibt er, war sehr hart. Exod:
XXI.
20. 21.
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Was für ein Volk war dieses, wo das natürliche Gesetz dem bürgerl.
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nachgeben muste! Das Gesetz der Vielweiberey im Alcoran hat in dem
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Temperament
Mahomets, wie
Boulainvilliers
v. in der Gewohnheit der arabischen
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Völker ihren Ursprung. Der Verbot des Weins wird vom
Montesquiou
als
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Montesquieu,
De l’Esprit des loix
, Buch XIV, Kap. X: „La loi de Mahomet, qui défend de boire du vin, est donc une loi du climat d’Arabie: aussi, avant Mahomet, l’eau étoit-elle la boisson commune des Arabes.“
ein weises Gesetz des
Clima
angesehen, das in die
Diaetetic
der Morgenländer
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gehört, deren Gesundheit hitzige Getränke nachtheiliger sind.
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Wenn ich mit dem
Boulainvilliers
fertig seyn werde, will ich das Leben des
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Mahomet vornehmen, das
Jean Gagnier
ein
es
Lehrer der morgenländischen
2
Sprachen zu Oxford geschrieben hat,
vornehmen
v. dem ersteren entgegen
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gesetzt zu seyn scheint. Es ist zu Amsterdam in 2 Octav Bänden 1732
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herausgekommen. Der Alkoran des Mahomets von
du Ryer
übersetzt ist gleichfalls
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hier. Er ist zu Amsterdam in 2 8
vo
1734 herausgekommen.
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Zu meiner Gemüths Ergötzung lese ich jetzt
Rome Galante ou Histoire
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Secrete sous les regnes de Jules Cesar et d’Auguste.
in 2 Theilen
à Paris.
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1696. Weil der Druck etwas fein, so kann ich den Abend nicht dazu nehmen.
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Ich bin mit dem ersten Theil fertig. Dieser Roman ist sehr sinnreich v die
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römische Historie ist auf eine sehr geschickte Art zum Grunde gelegt. Der
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Suet. Caes.
, 49–52
Verfaßer hat die Liebe des
Cesar
zu
Nicomedes
dem König in Bithynien, die
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diesem Helden so viel Spöttereyen zugezogen, v des
Virgils
eben so heidnische,
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Verg.
ecl.
, 2: Alexis
die den Grund eines Hirten Gedichts abgiebt, sehr fein einzukleiden gewust.
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Mich wundert, daß der Frantzose, der so vielen Witz gebraucht hat zu
15
Plut.
vit.
, Caes. 48f.
erdichten, die Liebe des
Cesar
zu der
Cleopatra
so nachläßig berührt hat. Was
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Plutarch von ihr erzählt, hätte in diesem angenehmen Roman füglich seinen Platz
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finden können. Ihre Art v List das erstemal zu
Cesar
zu kommen v ihm ihre
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Noth zu klagen ist so sinnreich, daß ihn dieselbe eben bewegt haben soll sie zu
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lieben. Sie hat sich in einem Boot
gesetzt
mit Apollodor einem ihrer
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Bedienten gesetzt um nach dem Schloß Alexandriens, wo
Cesar
eingeschloßen
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war durch die Armee des Achilles eines Verschnittenen des Königes
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Ptolomäus, zu kommen. Er muste sie als ein Ball seines Geräthes auf den Rücken
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nehmen um die Egyptische Schildwache zu betrügen, v sie also biß für des
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Cesar
Augen tragen. In der
Histoire de deux Triumvirats,
die ich habe v.
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unvergleichlich geschrieben ist, sind viel besondere Umstände dieser schönen v.
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bulerischen Aegypterinn enthalten. Das Glück des Antonius ist außerordentlich
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gewesen, der eine
Octauie
zur Frau v. eine
Cleopatra
zur
Maitresse
gehabt.
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Man könnte diese Geschichte zu einer sehr witzigen Abhandlung brauchen um
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die erste zum Muster einer tugendhaften Gemalin v die andere einer reitzenden
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Bulerinn zu machen. Vielleicht will ich selbst einige müßige Stunden dazu
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brauchen. Die Geschichte der beiden
Triumvi
rate muß ich Dir als eins der
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schönsten v fürtreflichsten Bücher über die Historie empfehlen, in denen alles
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verbunden ist, was man von einem gründlichen v. angenehmen
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Geschichtschreiber fordern kann. Die Historie des Augustus durch den
Larrey,
die den
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4ten Theil davon ausmachen soll,
ge
fällt gewaltig dagegen herunter, so gut
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es auch sonst ist. Die Anecdotes
galantes et tragiques de la Cour de Neron.
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12.
Amsterd.
1735. sind in eben diesem Geschmack geschrieben. Der Verfaßer
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hält sich aber genauer an die Historie. Die Caraktere sind ziemlich natürlich v.
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mannigfaltig. Die Erzählung erhält den Leser in beständiger Aufmerksamkeit
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v es gereut ihn nicht, wenn er aufhören mus, gelesen zu haben.
Nero,
seine
4
Mutter, seine Gemalin, Burrhus, ein niederträchtiger Seneca,
Epicaris,
eine
5
tugendhafte Freygelaßenin, die das Herz eines tugendhafteren Printzen
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verdient hätte, Popäa, die Frau des Otto, die
verdiente
werth war von
Nero
7
geliebt zu werden, treten darinn nach der Reyhe auf, v. man nimmt an
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denselben allemal Antheil.
9
Reponse à toutes les Objections principales qu’on a faites en France
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contre la Philosophie de Newton par Mr. de Voltaire. Amsterdam
1740.
11
Dies ist eine Vertheidigung seiner
Elemens de Newton,
die vermuthlich den
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Platz in seinen
Oeuvres
nicht verdient hat.
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Combat…
nicht ermittelt
Combat de Mr. de Voltaire contre Mr. l’Abbé des Fontaines
ohne Ort v
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krügelicht
unordentlich
Jahr. Der Druck dieses Bogens ist krügelicht v. sieht recht elend aus. Der
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Innhalt v. die Absicht des Verfaßers billig v. vernünftig; es ist ein ehrlicher
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Mann, der mit ein paar gelehrten Leuten ein Mitleiden hat, die sich beide zu
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Narren machen. Er predigt Ihnen Vernunfft, v. stellt Ihnen beiden die
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Schande für, die ihnen ihre Aufführung bey der Welt macht. Er fast den
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einen beym Knopf v sagt, daß er den andern zu viel thut v sich ein wenig
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besinnen soll. Wenn er diesen loß läst, nimt er die andere Parthey
vor
v. stellt
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ihr eben das vor.
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Le Preservatif ou Critique des Obseruations sur les Ecrits modernes.
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à la Haye
1738. Dies scheint eine Schrifft von denjenigen zu seyn, über denen
Provenienz
Unvollständig überliefert. Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (14).
Bisherige Drucke
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 40–44.
ZH I 43–46, Nr. 16.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
43/24 |
im Gesicht ]
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Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies ins statt im Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): ins Gesicht conj. |
44/24 |
Χ ]
|
Geändert nach Druckbogen (1940); ZH: X (in ZH „X“ in Fraktur; gemeint ist gr. „Chi“) |