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Riga. den
4.
Octobr.
1758.
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Lieber Herr Baron,
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Fehlt es Ihnen an Lust oder Herz, zu denken? Sind der Stand und das
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Vaterland, zu dem Sie gehören, der Mühe nicht werth einige Betrachtungen
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oder Untersuchungen darüber anzustellen? Giebt es keine Pflichten, die aus
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diesen doppelten Verhältnißen unserer Geburt herfließen? Oder wollen wir
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solche nicht wißen, damit wir mit desto mehr Ruhe selbige aus den Augen
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setzen oder ihnen entgegen handeln können? – –
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Verzeyhen Sie diesen ungedultigen Ausbruch meinem Schreibepulte. Ich
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Flußfieber
„Febris catarrhalis, ein nachlaßendes Fieber, welches sich mit Flüssen auf der Brust vereinigt. Man macht einen Unterschied unter ein gutartigen [Catarrh] und bösartigem Flußfieber.“, vgl.
Krünitz
, Tl. 14, S. 420
muß seit einigen Tagen ein
en
ziemlich starkes Flußfieber auf dem Bette
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abwarten. Es fängt sich Gott Lob! an zur Beßerung anzulaßen, und ich
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mache den Versuch, ob ich schon die Feder für die lange Weile hin und her
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führen kann.
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Laßen Sie sich, mein Herr Baron, den Schwung nicht befremden, den ich
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meinem Briefwechsel gegeben habe. Brauchen Sie nicht die Ausflucht gegen
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mich, daß Sie demselben noch nicht gewachsen sind. Ein guter Vorsänger
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zieht mit Fleiß seine Stimme einen halben Ton höher, weil er aus der
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Erfahrung weiß, daß seine Gemeine geneigt ist zu tief herunterzusinken.
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Erlauben Sie mir, Sie an ein häuslich Beyspiel zu erinnern, um Ihnen
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dadurch meine Meynung desto deutlicher zu machen. Wie die Gnädige
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Fräulein noch auf den Armen Ihrer Wärterinn getragen wurde, ersuchte sie durch
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einen Wink Ihren Herren Bruder in Ihrem Namen einen kleinen Brief zu
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schreiben. Er beqvemte sich darinn Ihrer selbstgemachten Sprache, und ahmte
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ihre willkührliche Wörter und die
Idiotismen
der ersten Kindheit so gut als
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möglich nach. Fragen Sie ihn, wenn er jetzt in dem Namen seiner Fräulein
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Schwester schreiben sollte, ob er seine Schreibart nicht so einrichten würde,
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daß man sie nach selbiger einige Jahre älter beurtheilen würde, als Sie
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würklich ist.
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So lange Kinder noch nicht reden können, läßt man sich zu ihrer
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selbstgemachten
angenommenen Sprache herunter. Diese Gefälligkeit hört aber
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auf, so bald sie recht reden lernen sollen. Eben diese Bewandtnis hat es mit
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dem Denken. Sie sind schon in dem Alter, lieber Herr Baron, wo man Ihrem
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Verstande zumuthen kann, sich ein wenig auszustrecken, und daß ich so sage,
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mit selbigem auf d
ie
en Zehen zu stehen um das zu erreichen, was man
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Ihnen vorhält.
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Ich kann Ihnen diese Uebung desto sicherer geben, da Sie das Glück haben
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einen Hofmeister zu genüßen, dem nicht nur seine Einsichten sondern auch die
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Sympathie unserer Gesinnungen den Schlüßel zu meinen Briefen
geben
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mittheilen, der Unpartheyligkeit und Freundschafft genung gegen Sie und
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mich
besitzt
hegt um die Lücken meiner Gedanken auszufüllen, die Schwäche
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meiner Urtheile und Einfälle aufzudecken, und selbst über die Fehler meiner
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Schreibart Erinnerungen zu machen. Sie wißen, daß ich im Fall der Noth
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mich gern dazu brauche, mein eigener Kunstrichter zu seyn.
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Arbeiten Sie also, so viel Sie können, an der Aufgabe, die ich Ihnen
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vorgelegt. Von ihrer Auflösung könnte vielleicht der Plan meiner übrigen Briefe
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abhängen.
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Ein wenig Vorrath habe ich in meinem letzteren Schreiben Ihnen an die
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Hand gegeben. Es war ein Auszug eines fremden Schriftstellers, deßen
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Gedanken ich Ihnen mitgetheilt, deren Wahrheit und Last ich aber nicht auf mir
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genommen.
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Sind darinn Dinge die den kurländischen Adel eben so sehr als den
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französischen treffen, so ist es nicht meine Schuld. Sollte der erstere wohl ein
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kützlicher Ohr haben oder empfindlicher über den Fleck der Ehre als der
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letztere denken? Dann würde es nicht rathsam seyn in Kurland dasjenige zu
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in
Pius II.,
De duobus amantibus
, vgl.
HKB 122 ( I 264/9 ); Hamann zitiert es auch in
Hamann,
Beylage zu Dangeuil
, N IV S. 235/39, ED S. 383f.
übersetzen, was ein Pabst,
Pius II.
in seinen Werken hat über den Adel
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überhaupt einflüßen laßen. – –
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Genung für einen Kranken. Ich sage Ihnen noch dies als eine vorläufige
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Anmerkung, daß kein vernünfftiger Mensch ein Bilderstürmer der in der Welt
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eingeführten Vorurtheile ist, daß er die Nothwendigkeit, den Werth und
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Nutzen derselben erkennt, und selbst von den Misbräuchen in ihrer Anwendung
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mit Anstand und Mäßigkeit denkt, redet und schreibt.
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Entschuldigen Sie die Runzeln dieses Briefes, und laßen Sie den Verfaßer
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deßelben Ihrem geneigten Andenken empfohlen seyn. Ich bin mit der
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aufrichtigsten Hochachtung Ew. Hochwohlgeboren ergebenster Diener und Freund.
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Hamann.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 38.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 305–308.
ZH I 260–262, Nr. 120.