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Hochwohlgeborne Frau,
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Gnädige Frau Baronin,
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Weil ich nicht mehr weiß, was ich dem Herrn Baron nachdrückliches sagen
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soll; so bin ich ganz erschöpft v verzweifele bey ihm etwas auszurichten. Ich
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sehe mich noch täglich genöthigt ihn lateinisch lesen zu lehren und immer das
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zu wiederholen, was ich schon den ersten Tag
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meines Unterrichts gesagt
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habe. Ich habe eine Menschliche Säule vor mir, die Augen und Ohren hat
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ohne sie zu brauchen, an deren Seele man zweiflen sollte, weil sie immer mit
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kindischen und läppischen Neigungen beschäfftigt und daher zu den kleinsten
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Geschäfften unbrauchbar ist. Ich verdenke es Ew. Gnaden nicht, wenn Sie
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diese Nachrichten für Verläumdungen und Lügen ansehen. Es kostet mir
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genung die Wahrheit derselben stündlich zu erfahren und es giebt Augenblicke,
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in denen ich des Herrn Barons künfftiges Schicksal mehr als mein jetziges
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beklage. Ich wünsche nicht, daß die Zeit v. eine traurige Erfahrung meine gute
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Absichten bey Ihnen rechtfertigen mag. Ich bin genöthigt weder an Rechnen,
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worinn der Herr Baron so weit gekommen, daß ich ihn habe Zahlen schreiben
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v. aussprechen lehren müßen, noch an frantzöisch noch an andere Nebendinge
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zu denken, weil er nur immer zerstreuter werden würde, so verschiedenere
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Dinge ich mit ihm vornehme. Ein Mensch, der nicht eine Sprache lesen kann,
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die nach den Buchstaben ausgesprochen wird, ist nicht im stande eine andere
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zu lesen, die nach Regeln ausgesprochen werden muß, wie die franzöische. Ich
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nehme mir daher die Freyheit Ihro Gnaden um ein wenig Hülfe bey meiner
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Gewalt
vll. körperliche Züchtigung, siehe
Graubner (2011)
, S. 90, mit Verweis auf dieses Thema in Anton Friedrich Büschings ‚Unterricht für Informatoren und Hofmeister‘ (Hamburg 1773).
Arbeit anzusprechen. Man wird dem Herrn Baron ein wenig Gewalt anthun
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müßen, weil er die Vernunfft oder Neigung nicht besitzt seine eigene Ehre und
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Glückseeligkeit aus freyer Wahl zu lieben. Gewißenhaffte Eltern erinnern sich
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bey Gelegenheit der Rechenschafft, die sie von der Erziehung ihrer Kinder Gott
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und der Welt einmal ablegen sollen. Diese Geschöpfe haben Menschliche
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Seelen, v. es steht nicht bey uns sie in Puppen, Affen, Papagoyen oder sonst etwas
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noch ärgeres zu verwandeln. Ich habe Ursache die Empfindungen und
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Begrieffe einer vernünfftigen v. zärtlichen Mutter bey Ew. Gnaden zum voraus
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zu setzen, da ich von dem Eifer überzeugt bin, den Sie für die Erziehung eines
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eintzigen Sohnes haben. Sie werden seinem Hofmeister nicht zu viel thun,
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wenn Sie ihn als einen Menschen beurtheilen, der seine Pflichten mehr liebt,
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als zu gefallen sucht. Setzen Sie zu dieser Gesinnung noch die aufrichtige
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Ergebenheit, mit der ich bin pp.
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N.S. Nehmen Sie nicht ungnädig, wenn ich bitte dies als keine Vorschrifft
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anzusehen. Es scheint, daß Sie, Hochwohlgeborne Frau, eine wohlgemeinte
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Vorsicht gegen des Herrn Barons Sitten als Eingrieffe in ihre Sitten
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angesehen haben, v. aus der Ursache einen Umgang, den ich für nachtheilig
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gehalten
angesehen, jetzt selbst zu unterhalten scheinen. Ich habe wenigstens
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Sünden
vgl.
Hamann,
Gedanken über meinen Lebenslauf
, LS S. 320, und
Hamann,
Beylage zu Dangeuil
, N IV S. 228, ED S. 364
geglaubt, daß der Herr Baron füglich das Alter zu denjenigen Sünden, die
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er mir gestanden hat, abwarten könne. Es beruht übrigens auf Ew. Gnaden,
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ob Sie den Innhalt gegenwärtigen Briefes nach einigen wieder mich gefaßten
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Vorurtheilen oder nach der redlichen Absicht deßelben beurtheilen wollen. Ich
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bin gefaßt mir alles gefallen zu laßen.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 31.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 252–254.
Paul Konschel: Der junge Hamann. Königsberg 1915, 39–40, Anm. 1.
ZH I 46 f., Nr. 17.