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Herzlich Geliebtester Vater,
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Wir sehnen uns nach guter Nachricht von Ihrer Beßerung. Gott erhöre
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unser Gebet und erhalte Sie nach Seinem Gnädigen Willen, und helfe Ihnen
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das Joch und die Last dieses Lebens tragen.
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Schonen Sie Ihr schwaches Haupt so viel als möglich, und seyn Sie wegen
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Ihrer zärtlichen Zuschriften an Ihre Kinder unbekümmert. Wir verstehen
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selbige vollkommen, und ich für mein Theil kann nicht die geringste Spur der
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Zerstreuung, worüber Sie klagen, entdecken. Gott wird Ihnen gnädig seyn,
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legen Sie, wie jener Knabe, der seinem Vater über sein Haupt klagte, selbiges
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auf den Schoos der mütterlichen Vorsehung, und harren Sie Seiner und
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Ihrer Hülfe.
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aus der 2. Strophe des Liedes „Jesus, meine Zuversicht“ (Evangelisches Gesangbuch 526)
Läßet auch ein Haupt sein Glied,
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Welches es nicht nach sich zieht?
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Ich bin heute auch zum ersten mal diese Woche ausgegangen, weil ich seit
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8 Tagen mit starken Flüßen beschwert gewesen. Ich danke aber Gott, daß ich
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jetzt an meinen letzten Feind und Wohlthäter eben so oft und mit eben so viel
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Freude als in meiner ersten Jugend denken kann. Wir wollen uns durch dies
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finstre Thal, Liebster Vater, an einem Stab und Stecken halten, der uns beyde
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Freundin
Hamanns Mutter
trösten soll, und mit dem unsere seelige Freundin vor uns über diesen Jordan
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gegangen ist.
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Ich danke auf das kindlichste für Ihre gütige Versicherung das bestellte
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zu besorgen, und verlaße mich darauf. Wenn Sie etwas überschicken, bitte
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ich alles an meinen Bruder zu
addressir
en, weil ich nicht gern mit den
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Welches Werk von Young, nicht eindeutig zu ermitteln, vll.
Young,
The complaint
; jedenfalls hat Hamann in seinen Londoner Schriften eifrig mit den
Night-Thoughts
gearbeitet, siehe
Hamann,
Biblische Betrachtungen eines Christen
, LS S. 66/8, dazu App. S. 452.
Fuhrleuten etwas zu thun haben will.
Youngs
Schriften hatte ich gern mit HE.
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Borchard
gesehen, den ich noch nicht kenne, sich aber noch etwas hier aufhalten
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wird. Ist es noch Zeit, so bitte mir Rambachs kleine Sammlung von Luthers
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Schriften beyzulegen, die mir mein Bruder vergeßen. Sie ist im braunen
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Oktavformat
Bande in
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00
und steht im schmalen Schranke.
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Meine kleine Schülerinn, die Sonnabends und Sonntags in Ihrer Eltern
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Hause zubringt, besuchte heute, und klagte über fieberhafte Zufälle. Der liebe
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Gott erhalte mir dieses liebe Kind!
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Mein Bruder hat sein Schul
examen
überstanden, und möchte wohl
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künfftige Woche in sein Amt eingeführt werden. Es ist wichtiger, als er sich selbiges
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vielleicht vorgestellt, weil er zur Verbeßerung der ganzen Schule geruffen
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worden, und so wohl den Kindern als Lehrern zum Gehülfen gesetzt wird.
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Er hat Ursache sein Unvermögen wie Salomon zu erkennen, und sich selbst als
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ein Kind anzusehen, das weder seinen Ausgang und Eingang weiß, damit
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er um ein gehorsam und verständiges Herz bitte, das mächtige Volk zu richten,
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das ihm anvertraut wird, um die Heerde zu weiden mit aller Treue und zu
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regieren mit allem Fleiß. Ich habe zu viel Ursache ihn auf den zu weisen, der
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so gar unser Gebeth, das wir im Schlaf und den Träumen deßelben thun
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erhört, der Weisheit giebt ohne es jemanden vorzurücken; und suche ihm alle
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die bunten Stäbe mitzutheilen, die Er mir darinn machen gelehrt.
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Menschenfurcht und Menschengefälligkeit sind die zwo gefährliche Klippen, an denen
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unser Gewißen am ersten Schiffbruch leyden kann, wenn unser Lehrer
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und Meister nicht am Ruder sitzt. Ich vertraue auf den, der meine
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Hoffnung nicht hat noch wird laßen zu schanden werden; und der um treue
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Arbeiter zu seiner Erndte uns zu beten befohlen, und selbige Selbst dazu schaft
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und bereitet.
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Ich freue mich von Grund des Herzens, daß er jetzt anfängt, wie es scheint,
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sich ein wenig von der Gleichgiltigkeit aufzumuntern, die mich anfänglich bey
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ihm ein wenig beunruhigt hat, und der ich alle mein natürlich Feuer
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entgegenzusetzen gesucht habe. Ich habe für ihn so wohl als mich selbst gezittert; weil
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es leicht ist von einer Gleichgiltigkeit in eine Fühllosigkeit zu verfallen, und
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selbige bey dem Eintritt
unsers
Berufs am wenigsten zu entschuldigen, auch
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an gefährlichsten ist, da wir ohnedem Anlaß genung in der Folge bekommen
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auf selbige zu wachen, und uns von unseren natürlichen Hange zur Trägheit
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und Schläfrichkeit und dem reitzenden Beyspiel anderer nicht täuschen zu
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laßen. Mit unserm Eyfer hingegen geht es uns wie Moses, daß wir leicht
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beyde Gesetz Tafeln darüber entzwey brechen – Wir werden aber von
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demjenigen getröstet, der uns demüthigt, und fröhlich gemacht durch eben die,
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welche von uns vielleicht betrübt werden. Ich weiß, daß Gott unsers Herzens
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Wunsch erfüllen wird, nach seinem Willen, der allein der beste ist, und nach der
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Hand des Herrn unsers Gottes über Uns.
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Thrl. Alb.
Albertsreichsthaler, 1616 in den Niederlanden eingeführt, im 18. Jhd. zeitweise auch in Preußen und Dänemark geprägt; wichtiges internationales Zahlungsmittel im Ostseeraum
Er giebt dem HErrn
Rector
jährlich 100 Thrl. Alb. für
Logis,
Tisch pp
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dem er als dem Werkzeug seines Ruffes alle mögliche Erkenntlichkeit
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nächstdem schuldig ist.
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Mein lieber Bruder besucht mich fast alle Abend, die wir allein unter uns
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zubringen, weil ich ihn mit Fleiß noch etwas entfernt in unserm Hause halten
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will. Den Sonntag haben wir beyde als unsern Familientag abgemacht. Wir
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gehen zusammen in die Kirche, und darauf trinken wir unsern
Thee,
er ist der
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Clavezin
Cembalo
Vorleser einer englischen Predigt, und spielt ein Lied auf dem
Clavezin
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meines Zimmers zur Abwechselung. Seine Zeit ist ordentlich biß 9 Uhr; und
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unsere Abendmahlzeiten gewöhnlich in einem Honigbrodt, weil uns das am
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besten schmeckt, wozu wir einige Gläser Wein trinken, wenn wir Lust haben.
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Mit dieser Ordnung bin sehr zufrieden, weil sie weder mir noch meinen
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Freunden beschwerlich fällt, deren Gutherzigkeit uns jederzeit lehren soll desto
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bescheidener zu seyn.
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Ich habe mein Herz gegen Sie, Geliebtester Vater, ausgeschüttet. Sie
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werden uns beyde in Ihr Gebeth und Liebe einschließen. Gott erhalte, stärke und
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seegne Sie an Seele und Leib. Grüßen Sie die gute Jgfr. Degnerinn. Ich
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ersterbe mit kindlichstem Handkuß Ihr gehorsamst verpflichtester Sohn.
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Joh. Ge. H.
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Sonnabends
Der 1.12.1758 war ein Freitag.
Riga. Sonnabends. den 1
Dec.
1758.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (48).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 334–336.
ZH I 282–284, Nr. 131.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies 8 vo |
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unsers ]
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Geändert nach Druckbogen 1940; ZH: unseres |