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296/7
Königsberg. den.
10. März. 1759.

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Herzlich geliebtester Freund,

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Zuschrift
nicht überliefert
Ich danke für Ihre gütige Zuschrift, die mich recht sehr erfreut. Mein Vater

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ist heute zum erstenmal allein ausgegangen und läst
s
Sie auf das

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zärtlichste grüßen. Ihre liebe Mama habe vorgestern morgen besucht, zum theil

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in Angelegenheiten Ihres HE. Bruders in Mitau, ich konnte nicht viel mit

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ihr reden, weil der Pastor da war. Sie hat mich gestern bitten laßen Sie mit

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nächsten Nachmittag zu besuchen, wo Sie immer allein, welches ich auch thun

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geschrieben
nicht überliefert
werde. Ihre beyden Brüder haben an mir geschrieben und ich habe Ihnen

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mit dieser Post
b
geantwortet. Ich freue mich herzlich über des HE.
Doct.

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Beßerung und wünschte den Grünhöfer zufriedner – helfen Sie mit dazu.

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Nun Ihr Haus voll ist, muß die Wirthin nicht kränklich seyn. Ich wünsche,

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daß sie sich jetzt beßer befindet. Gott schenke Ihnen beyderseits gute Gesundheit

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und helfe Ihnen alle Bürden so wohl des Amts als der Haushaltung tragen.

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Johann Christoph Berens
, aus St. Petersburg nach Riga
Ich freue mich herzlich über Herrn Berens Ankunft; und wünsche herzlich

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daß Seine eigene Zufriedenheit und des ganzen Hauses Ihre dadurch

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Entschluß
mit den Berens zu brechen,
HKB 135 ( I 290/2 )
,
HKB 136 ( I 291/3 )
vollkommen seyn möge. Ich habe keine Ursache von meinem Entschluß abzugehen,

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den ich gefast an ihn nicht zu schreiben – und seine Briefe weder zu erbrechen

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noch zu beantworten. Ich erkenne alle seine Freundschaft, – das sie ihm

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fruchtlos und überlästig von meiner Seite
gewesen noch
ist, ist meine Schuld nicht,

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auch nicht einmal meine Sorge. Als einen Freund haße ich ihn und fürchte ich

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ihn gewißermaßen, als einen Feind liebe ich ihn. Es ist mir nicht einmal

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möglich Herrn Karl in einer Kleinigkeit zu dienen, zu der mein Vater v ich mich

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anheischig gemacht. Es verdrüßt mich, ich schäme mich deswegen, aber ich

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frage nichts darnach. Es ist wahr, ich habe Dinge gethan, die mir selbst

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Brief
Luthers
vom 29.6.1530 (WA BR 5, S. 406/56–62)
unerklärlich sind, und ihm noch unverständlicher. Ich sage aber so viel: „Wenn

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ihrs begreifen könnt, so wolt ich ungern der Sachen theilhafftig seyn;

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vielweniger wollt ich ein Anfänger dazu seyn. Gott hat sie an einen Ort gesetzt,

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den ihr in eurer
Rhetoric
nicht findet, auch nicht in eurer Philosophie noch

S. 297
Politic
findet
derselbe Ort heist Glaube, in welchem alle Dinge stehen,

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die wir weder sehen noch begreifen können. Wer dieselbe will sichtbar,

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scheinlich und begreiflich machen, wie ihr thut, der hat das Herzeleid und

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Heulen zu Lohn, wie ihr auch habt, ohne unsern Willen.“ Dies sind Worte

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ich lese
Der Brief steht in
Rambach,
Lutheri Auserlesene erbauliche Kleine Schriften
S. 593–595, ist aber auch in
Seckendorff,
Compendium Historiae Ecclesiasticae
abgedruckt (
HKB 136 ( I 294/18 )
), sowie auf Dt. in dessen übers. Neuaufl.
Compendium Seckendorfianum
.
unsers Vaters Luther an Melanchthon, ich lese diesen Kirchenlehrer mit

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ungemeiner Vertraulichkeit, und habe mir vorgenommen alle seine Werke

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durchzugehen – weil ich hier nichts anders zu thun habe und nichts beßeres für

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mich bey langer Weile zu thun weiß. Mein Gemüth ist Gott Lob! sehr ruhig

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und heiter, und in einem Gleichgewicht – – An diesem Gleichgewicht ist mir

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aber auch nicht gelegen – –

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Freylich, Geliebtester Freund, ist unser Herz der gröste Betrüger, und wehe

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dem, der sich auf selbiges verläßt. Diesem gebornen Lügner zum Trotz bleibt

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Laban
1 Mo 29ff.
aber Gott doch treu. Unser Herz mag uns wie ein eigennütziger
Laban
so offt

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täuschen als es will; so ist Er größer als unser Herz. Unser Herz mag uns

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verdammen und schelten wie es will; ist es denn Gott, daß es uns richten

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kann. Ich will diese Materie ein mal für alle mal mit einem Verse schlüßen,

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den ich Sonntags mitgesungen:


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12. Str. eines in
Lilienthal,
Gottesdienst des Singens
gedruckten Kirchenliedes (S. 397)
Hält mir mein Gott die Augen zu

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Kann ich nicht weiter sehen

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Als was ich gegenwärtig thu (auch das nicht immer)

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So laß ichs gern geschehen

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Kommt die Vernunft mit ihrer Zunft

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In ausgeschmückten Gründen

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So muß ich überwinden.


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Ich habe
D. Funck
gestern besucht und ihm einen Gruß von Ihnen

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mitgebracht. Er hat mich sehr liebreich aufgenommen, blieb aber nur eine

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viertelstunde bey ihm, bat sich aber die Freyheit aus mich bey gelegener Zeit ruffenn zu

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lassen. Der junge Baron v. B. hat bey ihm
logi
rt ist aber vor 8 Tage abgereiset.

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Wolson hat selbst geschrieben, ich sehe ihn wenig; und lebe so einsam als

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möglich. Lauson besucht mich fleißiger und scheint in sich gezogener zu seyn.

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Matthias Friedrich Watson
;
Redoute
Maskenball,
Pedell
Amtsdiener.
Johann Georg Bock
berichtete davon in seinem Manuskript über die Zeit der russischen Besatzung Königsbergs: „Den 4. März als am Sonntage Invocavit wurde eine Redoute im Comödienhause gehalten, wodurch der Sabbath geschändet worden. Ein gewisser Professor, der bereits eine Vocation als Rector hatte, fand sich auch auf der Redoute in einem Kleide ein, wie es die Pedelle bei Solemnitäten tragen. Er hatte ein Scepter in der Hand und ein Packet Schriften unter dem Arme, die er allda austheilte; darunter war ein geschriebener Vers an den Herrn Gouverneur und an die Gräfin von Kayserling. Es wurde ihm aber dieser Auftritt sehr überl ausgelegt.“ Gedruckt in Friedrich Schubert,
Die Occupation Königsbergs durch die Russen während des siebenjährigen Krieges
(Königsberg 1858).
Pr.
Watson
ist auf der letzten
Redoute
hier in Pedellen Maske erschienen und

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hat dabey Gedichte seiner eigenen Muse ausgetheilt.

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Viel Glück zu Ihrem neuen Kostgänger! – Ich danke für richtige Bestellung

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des aufgetragenen Grußes an Herrn Arend. Die Bedeutung seiner Aufnahme

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schickt sich gut zu der Absicht, warum ich es Ihnen aufgetragen. Es ziehen

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Wolken zusammen
Besetzung Ostpreußens durch russische Truppen; am 21. Januar 1758 war Königsberg besetzt worden.
Wolken zusammen, an Zeichendeutern fehlt es nicht. Man lebt in einer

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Erwartung wichtiger Dinge. Gott wolle uns allen gnädig seyn. Dieser Wunsch

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geht sie vielleicht so nahe an als uns.

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Cramer hat Paßionsreden ausgegeben, deren Absicht ist das ganze Leben

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unsers Heilandes als ein beständiges Leiden vorzustellen. Ich habe allein die

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erste gelesen und sie nur gestern vom Buchbinder erhalten. Die Abschnitte

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Chrie
Sentenz nebst deren weiterer logischer Ausführung
derselben waren wie die Theile einer Chrie oder die
Uebergänge
einer Ode in

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einander geflochten.

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Ich werde mir Hillers System aller Vorbilder von Christo im alten

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Testament kaufen. Ein Prediger in Schwaben, dem Gott die Stimme zu seinem

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Amt entzogen und der in diesen betrübten Umständen seine Zuflucht zu

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Gottes Wort genommen. Das allgemeine in seinem System ist gründlich und

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brauchbar, die Gründe davon müsten noch mehr entwickelt werden oder

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könnten es seyn, dies würde zu einer beßeren Anwendung v. Beurtheilung seiner

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Gedanken dienen. Die Ehrfurcht, die Bescheidenheit und Aufrichtigkeit

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machen mir das Herz dieses Schriftstellers schätzbar; er schreibt dabey mit viel

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Kürze und Nachdruck. Er hat mich nach des seel.
Bengels
Schriften neugierig

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gemacht, um die ich mich auch bekümmern möchte bey Gelegenheit.

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Besorgen Sie nicht, liebster Freund, daß ich mich zum Theologen studieren

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werde; ohngeachtet ich gestehen muß, daß ich mich freue, wenn ich hie und da

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ein Buch zu meiner Erweckung und zur Erweiterung auch meiner geistl.

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Erkentnis ausklauben kann. Ich schone meine Zeit, meine Augen und

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Gesundheit so viel ich kann; und weil ich nicht nach meiner jetzigen Verfaßung für

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Brot oder den Leib arbeiten darf; so wird die Mühe nicht ganz verloren seyn;

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die ich auf Dinge wende, welche in den Augen der Welt für müßige und

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unbrauchbare Leute gehören.

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Leben Sie wohl, ich umarme Sie herzlich und Ihre wertheste Frau meine

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Freundinn. Seyn Sie gesund und zufrieden. Man hat sie für tod und

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misvergnügt hier ausgeschrien. Ich habe alle diese Lügen so nachdrückl. als mögl.

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wiederlegt indem ich Sie für noch einmal so gesund und glücklich

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ausgeschrien, als Sie selbst halten mögen. So muß man Lügen mit Lügen

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vertreiben. Es wird mir alle mal lieb seyn, daß meine die Oberhand behalten

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mögen. Unter Anwünschung alles was Ihnen nützlich und seelig ist, ersterbe Ihr

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aufrichtig treuer Freund

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Hamann.

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Grüßen Sie Ihre ganze Familie von mir.


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Adresse:

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à Monsieur / Monsieur Lindner / Maitre des Arts et Recteur / du College

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Cathedral de et / à /
Riga
.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (32).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 345–350.

Paul Konschel: Der junge Hamann. Königsberg 1915, 99–102.

ZH I 296–298, Nr. 137.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
296/26
gewesen noch
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
gewesen
und
noch
298/6
Uebergänge
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
Übergänge