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15/27
Kegeln
heute Ķieģeļmuiža (Bezirk Kocēnu), Lettland [57° 28’ N, 25° 13’ O]
a. S.
alten Stils; in den kurländischen Provinzen galt im Datum der alte, Julianische Stil. Die Differenz zum neuen Stil betrug plus 11 Tage. In Ostpreußen wurde der neue Stil des Gregorianischen Kalenders 1752 eingeführt.
Kegeln. den
7
9.
Dec.
a. S. 1752

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Herzlich geliebtester Papa,

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Ich habe endlich das Glück Ihnen von meinem hiesigen Auffenthalt

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Nachrichten zu geben, die Sie sich vermuthlich schon längst gewünscht haben

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greg. 14.12.1752
werden. Den 3
ten
h
(Sie werden sich jetzt gefallen laßen müßen alles nach dem

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alten Kalender zu berechnen) bin ich von Riga abgegangen; und habe

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Aa
heute Gauja bzw. estnisch: Koiva jõgi
denselben Tag mehr Gefahr als auf meiner ganzen Reise auf einem Fluß, der
Aa

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heißt, ausgestanden, weil das schlimme Wetter das Eiß so unsicher gemacht

S. 16
hatte, daß Pferd und Wagen am Ufer einbrachen. Einige Bauren mit kleinen

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Schlitten waren zu unserm Glück gleichfalls im Begrif überzusetzen, und so

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mitleidig unsere Pferde ausspannen zu helfen. Sie suchten anfänglich den

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Wagen überzuschleppen; nachher kam die Reyhe an mich v ich gieng in der

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Begleitung meines Bedienten und eines Bauren, die mich von beyden Seiten

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unter dem Arm gefast hatten, glücklich über. Meine 4 schöne Füchse kamen

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mir nach. Ich kann meiner gnädigen Frau Baronin zum Ruhm nachsagen,

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daß Sie es an nichts hat fehlen laßen. Ein gebratener Haase, und zwo

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Rephüner mit völligem Tafelzeug waren meinem Bedienten anvertraut, der ein

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sehr gutherziger Kerl ist, schon in Kurland und in Riga Herrschaften gehabt

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Peruquier
Perückenmacher
hat, das
Peruquier
Handwerk vollkommen genung versteht, auch einem den

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greg. 15.12.1752
Bart um Gottes Willen herunter schinden kann. Den 4ten bin ich in

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Papendorf
heute: Rubene in Lettland [57° 28′ N, 25° 15′ O]
Papendorf
angekommen, und von dem Herrn
Pastor Blanck
recht freundschaftlich

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greg. 17.12.1752
aufgenommen worden. Den 6ten als am Sonntage kam meine gnädige Frau

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Baronin wieder Vermuthen in die Kirche gefahren; und nach dem Gottes

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Dienste führte mich der Herr
Pastor
nach dem Hoff; weil sie mir beym

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Ausgang der Kirche die Wahl gelaßen hatte mit dem Herrn Baron zu fahren oder

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mit dem Herrn
Pastor
nachzukommen. Mein erster Eintritt machte mir Muth,

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und die liebenswürdige Unschuld des jungen Barons, der wie ein Wachsbild

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aussieht und seinen Adel vor der Stirn trägt, kam meinem Urtheil von seinem

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Charakter zuvor. Nach dem MittagsEßen ließ ich mich von ihm in meine

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Herberge führen, die ich mir nicht so gut, beqvem und angenehm vorgestellt hatte.

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Kurz, ich lebe recht zufrieden und vergnügt. Es scheint, daß ich über meinen

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lieben Baron schon etwas gewonnen habe, und daß ich mehr meiner Neigung

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als meiner Pflicht in dem Unterricht, den ich ihm zu geben gedenke, werde

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folgen können. Meine Arbeit geht mir beßer von der Hand, als ich es mir von

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ihrem Anfange versprochen hatte; und ich danke Gott dafür. Vielleicht kann

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ich mir den guten Fortgang derselben von meines Untergebenen und meiner

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Seite versprechen, den ich mir vorgesetzt habe. Der Herr Pastor Blank hat mir

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schon im Sonntage im Namen der gnädigen Frau Baronin den Vorschlag

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mich auf 2 Jahre wenigstens zu verbinden, thun müßen; ich will aber in

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diesem Stück nichts eingehen, was meiner Freyheit nachtheilig seyn könnte. Die

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Hoffmeister aus meinem Vaterlande haben sich hier ein wenig verdächtig

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gemacht, durch das Unglück, das neulich einem geschickten Menschen

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Taube
nicht ermittelt
begegnet ist, der bey einem Obrist
Lieutenant
von
Taube
gestanden v. aus Liebe

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für ein Fräulein, das schon einen LandPriester zum Schwager hat, seine

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Vernunft eingebüßt. Man hat sich vor meiner Ankunft bey meinem Freunde

S. 17
erkundigt, ob man bey mir auch den Fehler verliebt zu seyn zu befürchten

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hätte.

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Sie haben sich die unnöthige Furcht aus meinem Briefe an meinem Bruder,

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lieber Papa, gemacht, daß ich ihm zu viel von Küßen geschrieben habe. Ich

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kann Ihnen aber frey bekennen, daß ich in Riga nicht so viele bekommen und

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genommen habe als ich Schälchen daselbst getrunken; denn vom Händeküßen

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wißen Sie, daß es zum dortigen Wohlstand gehört.

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Schippaschoff
nicht ermittelt
Ein paar Tage vor meiner Abreise hat mich der Herr Fähndrich Schippaschoff

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Lau
nicht ermittelt
zum Herrn Regiments Feldscherer Lau hingeführt. Er bat mich den folgenden

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Mittag zur Mahlzeit zu sich und ließ mich mit einem rußischen Schlitten durch

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seinen
Sub-Chirurgus
hinholen v. wieder zu Hause führen. Sie haben mich

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sehr gütig aufgenommen, und er war insbesondere ungemein vergnügt mich

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zu sehen. Sein Söhnchen von 1½ Jahr ist ein munteres Kind, das von des

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Vaters Lebhaftigkeit und seiner Bildung viel an sich hat. Er hat mich gebeten

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Portepée
Faustriemen
wegen des güldenen
Portepée
zu schreiben, das er noch nicht erhalten hat. Das

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erste mal habe ich bey ihm die Ehre gehabt seiner Frauen Bruder kennen zu

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lernen, der ein sehr artiger
Offizier
ist. Er wolte mich zu seinem Obersten

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hinführen, der mich wegen eines Hoffmeisters zu seiner Familie hat sprechen

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wollen; ich habe ihm auch versprechen müßen nach einem zu schreiben, der

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franzoisch und deutsch nebst der
Music
verstünde. Den Besuch selbst habe ich

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verbeten, v auf einandermal aufgeschoben. Weil sein Oberste ein Ruße ist, so

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wolte ich wohl keinem von meinen Freunden zu dieser
Station
rathen, und

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mich also ungeachtet der Lobsprüche, die er ihm gab, mit dieser ganzen

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Commission
nicht viel zu thun machen. Suchen Sie doch durch den Herrn

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Magister, der vermuthlich von seinem HE. Bruder nähere Nachricht haben wird,

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die Sache abzumachen.

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Der Herr
Pastor
hat mein Reise Geld noch nicht erhalten; er hofft mir

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selbiges erst zu Weynachten zu verschaffen. Weil ich mein Gold nicht angreifen

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werde, so können Sie leicht denken, daß ich jetzt bloß bin. Er hat mir die

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Rechnung vom Herrn Hartung zu meinem Gebrauch angeboten. Ich habe aber

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solches abgeschlagen; und will Ihnen solches ganz mit der ersten Gelegenheit,

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die von hier nach Riga gehen wird überschicken. Er wird es mir wohl

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auszahlen, so bald ich es haben will. Mit der Post kann man nach Riga nichts

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Krug
Wirtshaus in der Altstadt
sicher genung schicken; weil die Briefe dem
Postillion
im Kegelschen Kruge

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gegeben werden. Der Herr
Adv.
Belger hat mir übrigens versprochen, von

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dort alles aufs beste zu bestellen. Der Abschied aus seinem Hause ist mir auch

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nicht wenig nahe gegangen: ohngeachtet ich der faulen Lebens Art, die ich

S. 18
5 biß 6 Wochen habe führen müßen, von Herzen überdrüßig war; so stieg ich

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doch vor seiner Thür, in meine schöne
Land
Halbkutsche, die für den reichsten

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preußischen Edelmann nicht zu schlecht war, und bey der es an guten Pferden,

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Geschirr, Fuhrmann, VorReuter, v zwey Hunden nicht fehlte, mit einer

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Schwermuth ein, die mich biß auf die Kegelsche Gräntzen verfolgt hat, wo ich auf

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einmal anfieng ohne selbst zu wißen warum, franzoisch, italienisch v. deutsch

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zu singen. Ich lachte über meine Thorheit v ließ solche mir zu einer guten

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Ahndung dienen. Kurz und gut, ich lebe hier recht vergnügt in meiner

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Einsamkeit v suche meine Zeit mit meinem lieben Herr Baron so gut ich kann

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anzuwenden. Meine Laute, die ich in Riga nicht habe zu recht bekommen können,

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und auf die ich von Herzen übel zu sprechen war, thut mir des Abends

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Mittags v. Morgens die besten Hoffdienste. Ich wünsche mir jetzt nichts mehr, als

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eben so vergnügte Nachrichten von Hause zu hören, als ich solche hinschicke.

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Meine Eilfertigkeit werden Sie nicht ungütig deuten. Ich habe gern viel

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schreiben wollen, und ich denke noch mehr zu verrichten, was mir theils die

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Freundschaft theils der Wohlstand auflegt.

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Königsberg, Riga, Berlin, und wie heist der Ort, wo mein Hennings lebt!

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Bitten Sie doch den Herrn Magister, daß er ihn mir ins Gedächtnis bringen

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soll. Wenn er doch so vergnügt seyn möchte, als ich in meiner Herberge bin!

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Mein junger Herr Baron ist eben jetzt zum AbendBrodt gegangen. Ich habe

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mir ein Butterbrodt durch meinen Bedienten auftragen laßen v. eine

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Weinsuppe abgeschlagen, die man mir anbieten ließ. Wie viel wolte ich Ihnen

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erzählen, wenn ich jetzt Zeit dazu hätte. Das Vergnügen, das ich
aber habe

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darüber habe, daß ich sehe, daß meinem lieben Baron meine Gesellschaft nicht

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verhast ist, und ich ihn wenig aus den Augen verliere, ist mir viel zu werth,

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als daß ich ihm die Zeit solte lang werden v. allein sitzen laßen. Beten Sie,

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Lieber Papa, für einen künftigen Fortgang meiner Bemühungen, urtheilen

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Sie wenigstens von der Güte meiner Absichten jederzeit aufs beste; Laßen Sie

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mich niemals aus ihrem väterlichen Andenken geschloßen seyn. Ich küße

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Ihnen mit der kindlichsten Hochachtung und Liebe die Hände und bin Ihr

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gehorsamster Sohn
Johann George.


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Liebste
Mama,

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Wenn Sie sich den Brief an meinen lieben Vater werden haben vorlesen

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laßen; so können Sie es mit diesem auch so machen. Ich war eben bey Herrn

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Behnke, wo eine Gesellschaft von guten Freunden zusammenkomt, die

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umsonst eine gute Abend Mahlzeit bekomt, das Bier aber gut bezahlt und von

S. 19
Fehrding
in Livland gebräuchliche Schwedisch-Pommersche Silber-Kurantmünze, deren Wert also über den Edelmetallgehalt definiert ist.
jeden Gewinst beym Spiel einen Fehrding in eine Spaar-Büchse steckt; ich

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Blarrenkopf
Schafskopf
war eben bey Herrn Behnke, sag ich, und spielte Blarrenkopf, davon ich Ihnen

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inskünfftige eine Beschreibung zu geben gedenke, wenn es mir an Materie zu

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einem Briefe an Sie fehlen solte; als mir ein Brief von meinen werthesten

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Schippaschoff
nicht ermittelt
Eltern von dem Herrn Belger durch den Herrn Fähndrich Schippaschoff

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gebracht wurde. Sie können leicht denken, wie wohl mir zu Muthe war, als ich

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mich von meiner Mutter als einen artigen Sohn muste loben hören, der fleißig

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schriebe. Ich hätte mir gewünscht, gegenwärtig
es
zu seyn, da Sie dieses

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gesagt haben. Wenn mein lieber Vater seine Meinung nicht geändert hat; so

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solte ich fast muthmaßen, daß er vor 10 fleißige Briefe nur einen zierlichen

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von mir verlangte, und auf die Art könnte es geschehen, daß ich noch einmal

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so offt an Sie als an Ihn
schrieb
ins künftige schreiben würde. Ich habe

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außer meinen kleinen Baron noch seine jüngste Fräulein Schwester im Lesen,

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Schreiben, franzoischen, rechnen pp und ein artiges Kind, die eine Wayse seyn

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soll, von vorn Julchen, von hinten Mümchen heist, v glaub ich einen

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lüderlichen Studenten zum Vater hat, zu unterrichten. Sie wird von der gnädigen

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Frau Baronin am Tisch und ü-

Provenienz

Unvollständig überliefert. Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (4).

Bisherige Drucke

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 31–34.

ZH I 15–19, Nr. 7.