67
S. 165
Grünhof, den
17. März 756
2
Herzlich geliebteste Eltern,
3
Nachrichten
nicht überliefert
Der
betrübte Nachrichten von Ihrer beyderseitigen Unpäßlichkeit habe auch
4
auf dem Bette zu lesen bekommen, und muß selbige noch daselbst
5
beantworten, wiewohl in der guten Hofnung selbiges mit Gottes Hülfe ehstens
6
verlaßen zu können. Diese Krankheit wird mir gute Dienste thun und die Stelle
7
einer Frühlingskur vertreten können. Sonntags vor 8 Tagen bekam nachdem
8
Flußfieber
„Febris catarrhalis, ein nachlaßendes Fieber, welches sich mit Flüssen auf der Brust vereinigt. Man macht einen Unterschied unter ein gutartigen [Catarrh] und bösartigem Flußfieber.“, vgl.
Krünitz
, Tl. 14, S. 420
ich schon einige vorher den Appetit verloren, einen Anfall von Flußfieber, der
9
grieseln
Schüttelfrost
mich zu Bette trieb. grieseln, brechen in den Gliedern nebst Hitze.
S
10
Montags stand auf und erhielt mich biß gegen Abend. Dienstags wieder, bekam
11
aber
Anwandelungen von Kälte die ich im Herumgehen überwand, von der
12
Hitze aber überwältigt wurde, daß ich mich gegen Mittag nicht länger halten
13
konnte. Dies ist mein schwerster Tag gewesen ich glühte; der verstopfte Leib
14
hatte schon einige Tage fortgedauert. 2 Stuhlzäpfchen verschlugen nichts.
15
Muskus
Moschus
Man hat hier Muskus Pillen oder Kugeln die ich mir
applicirte
und Luft
16
verschaffte. Mittwochs offen Leib mit Schmerzen v Uebelkeit so oft ich auffstehen
17
muste. Ein Umschlag für die Hitze um den Kopf hat mir gute Dienste gethan.
18
HE. Doktor Lindner schickte mir einige Pulver einen gelinden Schweiß
19
abzuwarten die ich Sonnabends einnahm v Sonntags ein Tränkchen, das mir
20
einige starke
sedes
verschaffte. Montags gelinde Spuren des Fiebers von
21
neuem. Ich such das Uebel so viel ich kann durch die Diät am meisten zu
22
Habertumm
vmtl. Hafergrütze
schwächen. Anfangs nichts als Pflaumensuppen seit dem Habertumm zum
23
Frühstück, Mittag v Abend bisweilen mit ein paar Zwieback eingebrockt
24
genoßen; v diese Woche denke noch in dieser Ordnung fortzufahren. Der Mangel
25
des Schlafs kam mir anfangs verdächtig vor v gab mir den Argwohn eines
26
Ausschlags. Freytags Nacht hörte diese Unruhe auf, in der mein Blut war;
27
v jetzt ist mein Schlaf so ruhig v natürlich als ich mir nur wünschen kann.
28
Weiter in meinem Tagbuch. Diesen Montag bekam des Morgens wieder leichte
29
Anwandelungen von Kälte, heute weiß ich nicht, ob ich etwas sicheres von
30
Fieber gefühlt. Mein letztes Pulver hatte eingenommen der Schweiß schien
31
sich aber zu währen v kälter zu seyn oder klamm, wie man es nennt. Gott Lob!
32
jetzt glaub ich meiner Beßerung immer näher zu kommen. Nach dem
33
schlimmen Dienstag hab ich eine sehr scharfe v durchdringende
Transpiration
34
bekommen, die mir Empfindung auf der Haut verursacht v die meiste Schärfe
35
nothwendig abgeführt haben muß.
36
So einen zierlich geschriebenen Brief ich auch in Gedanken entworfen; so
S. 166
sehe ich doch, herzlich Geliebteste Eltern, daß Sie bey diesem gegenwärtigen
2
noch einen Vorleser nöthig haben werden, weil ich ihn in einer unbeqvemen
3
Lage schreiben muß. Künfftig will Ihrem Befehl beßer nachleben.
4
Ihre Erinnerungen, Liebster Vater, haben mich sehr aufge
nüchtert
richtet.
5
Sie haben meine Hypochondrie gemerkt; und erklären mir Ihre Gesinnungen
6
auf eine Art, die mir zu einer großen Aufmunterung gereicht. Der Himmel
7
behüte, daß ich die zärtlichen Sorgen meiner liebsten Eltern mit Undankbarkeit
8
und Verdruß aufnehmen sollte. Alle Leidenschaften, die mit der Religion
9
bestehen und durch das Christenthum eingeschränkt werden, können uns weder
10
beschwerlich noch nachtheilig seyn. Wie leicht können wir aber nicht durch
11
diejenige Triebe selbst verführt werden, welche die Natur uns vorzüglich
12
geschenkt und die Vernunfft auf ihre Seite haben. Ich stelle mir meine liebe
13
Eltern bisweilen in einer Verlegenheit, in einer aufgebrachten Unruhe vor,
14
mit der Sie sich fragen: wo bleibt denn unser Sohn? was wird denn aus
15
ihm? Wenn er uns doch gefolgt hätte! Wie ist seine Aufführung, sich
16
selbst überlaßen? Wohin gehen seine Absichten? Straft der schlechte
17
Fortgang sie nicht ihrer Eitelkeit? Ich könnte mich gegen allen ihren Verdacht
18
vielleicht rechtfertigen, meine Grundsätze entschuldigen. Ohne mir die Zeit lang
19
werden zu laßen wünschte mir bisweilen alle diese Zweifel mit einer
20
Nachricht beantworten zu können, die meine liebste Eltern zufrieden spräche: hier
21
ist das, was ich durch meine Gedult zu verdienen gewartet.
22
Es kann seyn, daß die Krankheit in Gliedern meine Hypochondrie vermehrt;
23
es kann seyn, daß selbige zum Theil in meinen Umständen liegt. Ich
24
verzweifle hier daran meinen Endzweck zu erreichen. Der älteste ist gesund, man
25
schont seine Gesundheit nicht v die Unmäßigkeit macht selbige sehr mißlich.
26
Die Fähigkeit seines Kopfes, die Lebhafftigkeit und Geschmeidigkeit seiner
27
Einbildungskraft hintergeht die Eltern. Man legt mir alle Hinderniße, die
28
ehedem meine Mühe vereitelt haben; und ich liege denselben wieder Willen
29
unter. Die Welt will betrogen seyn. Es ist nicht jedermanns Sache sich diesem
30
Verlangen zu bequemen. Was sagt Gewißen, Pflicht dazu. Siegt über alles!
31
Der eine Theil weiß gar nicht was Erziehung ist. Der andere weiß nicht was
32
Söhne sind. Braucht zu einer Tochter Schminke und Eitelkeit. Wenn ihr nicht
33
Tugend haben wollt, last wenigstens Ehre in das Herz eines Kinds und seine
34
Vernunft gesund seyn; weil ein Mann aus ihm werden soll. Man hat mich
35
gekannt; bin ich nicht lange genung hier gewesen um mich kennen zu lernen.
36
Da man mich wieder verlangt; konnte ich nicht muthmaßen, daß man meinen
37
Absichten Recht wiederfahren ließe und sich ändern würde. Ich habe keine
S. 167
Ursache dazu gehabt. Glaubt ihr daß ich für euch lebe und euch zu Gefallen
2
auf den Kopf gehen soll; weil ihr deßelben euch so wenig als eurer Füße
3
gehörig bedienen könnt. Ich sehe zu, schweige und wundere mich. Mit
4
diesem Monath ist mein erstes Vierteljahr zu Ende. Die Zeit wird mehr
5
lehren.
6
Sie sehen hieraus, Geliebtester Vater, daß ich meinen Beruf mit Ernst
7
treibe. Der äußerliche Beyfall genügt mir nicht, der Schein auch nicht. Ich
8
kann weder kalt noch lau seyn. Ich schütte mein Herz gegen Sie aus, damit
9
Sie mich desto richtiger beurtheilen können. Der Coffe ist ganz abgeschaft. Ich
10
werde mich der Pferde auch bedienen und will meine Wege der Vorsehung
11
anvertrauen. Der kürzeste v. sicherste Richtscheid! Mein Gemüth ist ruhiger
12
übrigens als Sie vielleicht denken. Es thut mir bisweilen leidt, daß man
13
sich um seinen Nächsten so sauer werden laßen muß ihm die Liebe
14
aufzudrängen, die man gegen ihn hat. Die ganze Welt kommt mir alsdann als
15
jene Stadt vor, die Jesus mit Thränen ehmals anredte: Wenn Du
16
wüßtest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Besten dient. Wir Menschen
17
wißen es nicht und verlangen es auch leyder! nicht. Wir qvälen
18
diejenigen, die uns gut wollen und sehen unsere Feinde für unsere besten
19
Freunde an. Wird dem Teufel selbst nicht mehr als Gott gedient und jenem
20
größere Opfer als unserem Schöpfer gebracht – – Ich habe ein klein
21
Schnittchen Brodt mit weichen Eyern geeßen v hat mir sehr gut geschmeckt. Meine
22
Adern sind noch ebenso voll ich hoffe wenigstens mein Blut etwas
23
leichter und dünner gemacht zu haben. Auf die Woche erwarte meinen
24
werthen Freund den HE. Regimentsfeldscherer Parisius, der auch ein hart
25
Lager ausgestanden, einen sehr behutsamen v vernünftigen Arzt. Wegen des
26
Aderlaßens werde ich seinem Rath folgen. Ich glaube nicht deßelben
27
entbehren zu können.
28
von
Melchior Kade
In was für Freuden wird das Kadsche Haus seyn. Wie spät das Gute
29
kommt. Gott helf Ihnen bald lieber Papa um Ihrer Neigung und Wünschen
30
genüge thun zu können. Lesen Sie meine Briefe zu einem Zeitvertreib, wie ich
31
einen darinn finde sie zu schreiben. Ich empfehle meine besten Eltern der
32
Göttlichen Vorsehung, die über uns alle wacht. Gott gebe Ihnen tausend Gutes.
33
Mit erster Post mehr und so Gott will frisch und gesund aus dem Bett und
34
voller Freuden. Ahmen Sie mir hierinn nach. Ich küße Ihnen 1000 mal die
35
Hände und ersterbe nach den aufrichtigsten Grüßen Dero gehorsamster und
36
kindlich ergebenster Sohn.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (37).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 270–272.
ZH I 165–167, Nr. 67.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
165/3 |
Der ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies Der o Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Der o |