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Grünhof den
28 Februar 756.

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Herzlich Geliebteste Eltern,

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Gestern Abends habe dero letzte zärtliche Zuschrift erhalten; in welcher mir

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die Nachricht von dero beyderseitigen Beßerung sehr getröstet. Gott sey Lob

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Friesel
fiebriger Ausschlag
für den glücklich überstandenen Friesel; den armen Docktor Lindner habe auch

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schon beweint; er ist aber derselbigen Krankheit für diesmal glücklich

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entkommen, die hier im Lande gefährlicher als bey uns ist. Mein ältester ist auch

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schon beßer zu meiner großen Erleichterung; der jüngere hat ihn abgelöst, noch

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weiß man nicht, wohin die fieberhaffte Zufälle bey ihm hinaus wollen. Wir

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haben vorigen Mittwoch vor 8 Tagen ein Schrecken gehabt, das übel hätte

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ablaufen können. Der
Schorstein
brannte an unserm hölzernen Schloße.

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Die Fr. Gräf. lag zu Bett, v wir waren ohn die geringsten Anstalten dem

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Zufall ausgesetzt, der mit Gottes Hülfe nicht wieder uns ausfiel. Wie viel gehört

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dazu ein Hausvater, ein Wirth, ein Herr zu seyn. Ich habe mich weniger

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erschrocken, als geärgert und verkältet, doch ohne Nachtheil meiner
Gesundheit,

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die auch jetzt leidlich ist. Meine Natur kommt in Ansehung der Verstopfungen

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wieder in Gange; sollte sie Hülfsmittel nöthig haben; so will mich der

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vorgeschriebenen bedienen, für die ich kindlichst danke. Ein hiesiger Landarzt hat mir

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einen Kräuterthee empfohlen, den ich Ihnen hier abschreiben will, um

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Leberkraut
Waldmeister
Geliebtester Vater, Ihr Gutachten darüber zu hören. Salvey, Ysop, Leberkraut

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primul. ver.
Schlüsselblume
Centaur. minor.
Tausendgüldenkraut
Betonika, jedes eine Handvoll.
Flores primul. ver. Centaur. minor.
jedes eine

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halbe Handvoll. Ich wäre geneigt mich deßelben zu bedienen, wenn er mir

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auch nur bloß dazu
dienen
helfen möchte um mir den
Coffé
abzugewöhnen,

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der mir schmeckt auch weder an Schlaf noch Appetit fehlen läßt. Sie richten

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mich mit der Hofnung eines gesunden Alters auf. Ich glaube, daß man

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niemals zu früh sich alt und reif zu werden wünschen kann, wenn man nicht

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umsonst lebt oder gelebt hat. Wenn dies nur an mir erfüllt würde! Traurige

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Beyspiele umgeben mich, bey denen ich für mich selbst zittere. Vielleicht bist

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du eben das, was du in andern verabscheust; eben der Gräuel vielleicht in

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einer andern Gestalt; oder sie haben
vielleicht
dem Schein nach den

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traurigen Vortheil ruhiger und sorgloser bey ihrer Gefahr und Schande zu seyn.

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– – Den 29.
Hier habe ich des Abends der heißen Stube wegen aufhören

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müßen, die mir Kopf v. Rumpf ganz mürbe gemacht. Ich bin heute daher auch

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leider mit Wehtag an dem ersteren v einem Fluß an der rechten Seite

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aufgestanden, der hoffentlich bald übergehen wird. Zur Schule gehören jetzt zwo

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Stuben, v die eine ist vor 2 Jahre mehrerer Beqvemlichkeit wegen ganz neu

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angebaut worden im Winter aber nicht zu hitzen u. dient die andern

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ungesunder zu machen wegen des Zuges, der durch alle mögliche Ritzen durchweht.

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Hofcalefactor
Aufwärter
Kalmuckischer Mursa
Mitglied des privilegierten Standes im westmongolischen (buddhistischen) Volk der Oiraten
Ein Kurscher Bauer ist Hofcalefactor und mein Bedienter ein Kalmuckischer

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Mursa
oder Edelmann, der sein höchstes Gut im Trunk oder Schlaf findt,

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auch schlecht gehalten wird. Außer einem treuen Freunde hier im Hause, der

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Türke
vll.
George Bassa
ein Türke ist, würde ich jetzt von allem menschl. Umgange abgeschnitten seyn.

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Mein Rittmeister hat nur einen Winter v zwar den ersten mir angenehm

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gemacht; der junge Pastor schwärmt schon fast einen Monath um eine Braut,

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mit der er verlobt ist, v
ihr Haus
das Pastorat habe noch nicht besucht,

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ohngeachtet
sie
es nicht weiter als der Roßgarten liegt.

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Ich erhole mich also mehrentheils von einer Arbeit an einer andern von der

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schweren an der leichteren, von der verdrüslichen an der angenehmen, von der

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nothwendigen an der freywilligen. Diese einförmige Ruhe oder Anstrengung

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nutzt den Geist und den Leib, oder macht wenigstens beyde schläfrich.

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Vielleicht würden Sie also, Lieber Papa, einen eben so trägen Socius an mir haben,

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als mein Bruder ist; ich unterstehe mir wenigstens nicht mich mit mehr

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Munterkeit und Feuer zu schmäucheln. 30 Jahre kommen mir schon als eine

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ungeheure Frist des menschl. Lebens vor. Ich freue mich, daß die Zeit verflüßt

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und wenn ich zurückrechne, erstaune ich wie ein Schuldner für seinen Termin.

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So widersprechend sind wir in unsern Wünschen. Wenn wir Meister

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derselben und unsers Glücks wären, wie schlecht würde uns dadurch geholfen seyn?

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Sie wünschen, herzlich Geliebtester Vater, meine Briefe. Ich werde Ihren

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Befehl nachleben und so oft als ich kann schreiben; Ihre Antworten

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abwarten, auch im Nothfall zuvorkommen. Wie gern möchte ich den Innhalt

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derselben Ihnen neuer und angenehmer zu machen suchen. Wie gern möchte ich

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Ihnen etwas schreiben, was
Ihnen
Sie auf dem Krankenbette aufmuntern,

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und wodurch Ihnen die Mühe meine Briefe zu lesen und zu beantworten

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Leberkuchen
Lebkuchen
erleichtert würde. Wie vielen Appetit habe ich nach den Leberkuchen gehabt, an

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den Sie sich erqvickt haben. Hat meine liebe Mutter noch eine gesunde

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Gehülfin an die treue Jgfr. Degnerinn? Machen Sie Liebste Eltern, daß Ihnen

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beyderseits Ihr Alter durch Pflege und Gemüthsruhe so erträglich als

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möglich werde. Hören Sie auf für Ihre Kinder zu sorgen; wie glücklich sind

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diejenigen, die dies für Ihre Eltern thun können? Gott erhalte in uns beyden

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den eyfrigen Willen dazu, er würdige uns denselben auch ausüben zu können.

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Mein Beruf zum Amt ist bey mir weniger als jemals; zu arbeiten, nützlich zu

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seyn, mich selbst zu unterrichten, mich selbst zu beßern. Komme ich hierinn

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weiter und weit genung; so wird es mir an Gelegenheit nicht fehlen mit diesem

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Fortgang anderen zu dienen. Ich freue mich, keine schwerere Verantwortung

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auf mir zu haben, als bey der meiner Freyheit keine Eingriffe geschehen. Der

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Eyfer würde mich bey einer Last verzehrt haben, die ich weder hätte tragen

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noch ablegen können. Gott erhalte meine liebste Eltern, Ihr Glaube, Ihre

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Geduld, Ihr Muth sey mir ein Beyspiel in guten und bösen Tagen. Seine

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väterliche Vorsehung wache über uns, führe uns und mache uns stark alles

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zu überwinden. Wir wollen uns mit unserm Gebeth einander beystehen und

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unsere Hofnung auf einen Herrn setzen, der uns befiehlt alle Vortheile dieses

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Lebens für unsern Schaden anzusehen. Wehe uns, wenn wir unser Gutes

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hier genüßen. Wehe uns, wenn uns hier nichts fehlt. Erfreuen Sie mich bald,

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Liebste Eltern, mit guten Nachrichten; noch sind wir Gränznachbarn. Ich

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küße Ihnen tausendmal die Hände und bin zeitlebens mit der kindlichsten

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Ehrfurcht Ihr gehorsamster Sohn.

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Johann George Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (35).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 267–269.

ZH I 152–154, Nr. 61.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
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Schorstein
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
Schornstein
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Gesundheit,
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Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
Gesundheit