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S. 101
Königsberg den
7. Aug. 1761
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Herzlich geliebtester Freund,
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HErr Kanter ist Ueberbringer dieses, den Sie als einen
Deput
irten von
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mir aufnehmen werden, weil ich dies Jahr nicht selbst kommen kann. Wißen
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Sie noch, daß es um diese Zeit war, wie wir uns die Zeit einander bald lang
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bald kurz machten. Denk
t
en Sie noch an den merkwürdigen Morgen des
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27ten dieses Monaths, da ich mich meiner Kinderstreiche auf eine so feyerliche
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apocrustisches
Medicamen apocrusticum: zurücktreibende Arznei
Art erinnerte und ein
apocru
stisches holla! rief.
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Ich danke Gott für Gesundheit und Zufriedenheit. Wer die hat, kann alles
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entbehren, alles übrige Puppenwerk mit Füßen treten. Geld hab ich nicht,
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weil ich keins brauche. Vergnügen mag ich nicht, weil es mich in dem Spiel
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meiner Arbeit stöhren würde. Ehre, Ruhm, Stand – dazu ist der Bursch noch
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zu jung – ein groß Gewicht, das auf der Spitze einer Feder oder eines Dolchs
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ruht! – ein gut Lager ist beqvemer als ein hoher Stand – – – Wenn Sie alles
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haben, was mir fehlt; so tausche meinen Mangel noch nicht mit Ihrem Ueberfluß.
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Hof-Sünden-Diener
als Arzt des Hofes in Mitau
Was machen Sie denn Hof-Sünden-Diener! Sind Sie schon in der
Praxi
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so weit gekommen, daß Sie Ihre ganze Kunst für Marktschreyerey erkennen,
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oder sind
Hippocratis, Boerhavens
und
Baglivis Aphorismi
noch immer
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Göttersprüche in Ihren Augen? Laßen Sie diesen Glauben Ihren Apothekern
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und Patienten, die sich beßer dabey befinden als Sie.
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Gesetzt, liebster Freund, daß ich auch im Stande wäre in diesem Ton
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meinen Brief fortzusetzen: so will ich doch Ihre Stärke selbigen aushalten zu
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können, nicht auf die Probe setzen. Weil Sie mit Nachrichten von Ihrer Person
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sehr rückhaltend sind: sind Sie deswegen gegen das, was ich hier mache,
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gleichgiltig. Ich denke: Nein.
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Meine Lebensart ist so einförmig, daß Sie wenig Stoff zu Erzählungen an
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die Hand giebt. Das vornehmste wißen Sie schon. Es verdrüst mir manchen
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Augenblick, daß ich diesen Sommer nicht vor dem Thor und nur einmal im
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öffentl. Garten gewesen bin. Voriges Jahr desto mehr Abwechselungen und
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vielleicht zu viel gehabt, daß ich jetzt abrechnen kann. Wer weiß was künftiges auf
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mich wartet. Gedächtnis und Hofnung ersetzen das Leere des Gegenwärtigen.
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Ich habe diesen Monath vornemlich der Ruhe und Eingezogenheit
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gewidmet. Was für Vortheile oder Nachtheile ich davon ziehen werde, weiß ich
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Lauson
Johann Friedrich Lauson
Däntler
N.N. Däntler
nicht. Lauson und Däntler sind die einzigen, die ich sehe. Der letztere wird
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Michaelis
29. September
Michaelis die Schule verlaßen. Hohe Zeit für ihn – Er hat sich ziemlich erholt
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in Ansehung seines Körpers, ist aber noch nicht ganz heraus.
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Was macht Ihr Herr Bruder? – Der meinige ist bey Kriegs Rath v. Wegner
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Hofmeister. Ich muß in Ansehung seiner auch noch fasten, weil ich seinen
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Umgang eben so wenig als Kieselsteine verdauen kann. Gott helf ihm und mir!
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Mein alter Vater hat sich sehr erholt und genüst einer neuen Jugend. Er
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Groß sind
Ps 111,2
beschämt in Munterkeit und Feuer seine Söhne. Groß sind die Werke der
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Natur, wer ihr achtet, hat eitel Lust daran. Das weiß niemand so gut als die
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Herren Ärtzte – –
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Ihre liebe Mama habe auch kürzlich gesprochen. Ich beklage, daß Sie in
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neuen Verwickelungen ist. Wer hätte das
denken
sollen, da die Sache mit so
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viel Vorsicht und Liebe ins reine gebracht war. Denken können, muß freylich
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zum voraus gesetzt werden; wenn
schöne
Wörter nicht Masken seyn sollen.
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Feinde lieben
Mt 5,44
Ich werde die großen Leute, die ihre
Feinde lieben
und ihre
Freunde haßen
,
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nicht eher bewundern können, biß ich wißen werde, ob sie ihre Tugenden
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wachend oder im Schlaf ausüben. So bald ich über ihren
Zustand
mehr
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Einsichten haben werde, soll es mir leichter seyn von ihren Handlungen zu
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Manum de tabula
dt. „Hand vom Bild!“ (im Sinne von: nicht weiter anrühren, nach
Plin.
nat.
, XXXV,36,80)
urtheilen.
Manum de tabula.
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Fiscal
Christoph Anton Tottien
Was macht der Herr
Fiscal?
Ich wollte auch schreiben; es schickt sich aber
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nicht und ich habe jetzt alle Mühe einen französischen Brief
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zusammenzubringen, weil ich alle Uebung in dieser Sprache bey Seite gesetzt. Und mein
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Deutsches ist so vertrackt, daß sich nur sehr vertraute Freunde oder das Publicum
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damit behelfen können, weil das letztere ohnedem Amts wegen die
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Gefälligkeit haben muß jeden Narren zu hören.
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Empfehlen Sie mich aufs beste dem HErrn
Fiscal
und Seinem geEhrten
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Hause, dem ich alles Gute von Grund des Herzens wünsche.
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Ich umarme Sie nach herzl. Begrüßung von meinem Vater und verbleibe
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mit aufrichtiger Hochachtung Ihr ergebenster Freund und Diener.
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Hamann.
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Adresse:
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à Monsieur / Monsieur
Lindner
/
Doct
Medecin de la Cour / de
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S. A. R.
Son Altesse Royale, Seine Königliche Hoheit
S.A.R. Msgr.
le Duc de / Courlande et Semgallie etc / à /
Mitou
. par fav:
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 3 (4).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 91–94.
ZH II 101 f., Nr. 210.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
102/30 |
Mitou |
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH: Mitou |