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Mein lieber Bruder.
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Es würde mir herzl. lieb seyn wenn Du Dich wohl befinden möchtest. Ich
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Friedland
Prawdinsk, etwa 50 Kilometer südöstlich von Königsberg
Gerdauen
Schelesnodoroschny, 71 Kilometer südöstlich von Königsberg
Schwansfeld
Łabędnik, 75 Kilometer südlich von Königsberg
bin
netto
3 Wochen auf dem Lande in Friedland, Gerdauen, Schwansfeld
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Friedeberg
nicht ermittelt
und Friedeberg Gott Lob sehr vergnügt gewesen und letzten Freytag erst wieder
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nach Hause gekommen. Jetzt beyde Hände mit einer Arbeit voll, die ich gern
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diese Woche aus dem Weg haben möchte; muß daher kurz und
confus
schreiben.
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Unser alter Vater hat sich Montags Ader gelaßen und befindet sich heute
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sehr schläfrich, matt und verdrüslich. Er hat es diesmal wieder am Arm
S. 34
gethan. HE
Diaconus
Buchholtz wird hoffentl. mit nächsten antworten; und
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munterte sich zum voraus zur Gedult, Ruhe und Zufriedenheit auf; nach dem
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Beharre in …
Sir 11,20
Spruch: Beharre in Deinem Beruf und übe dich darinn –
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Blindau
N. N. Blindau
Tilse
Tilsit, heute Sowetsk
Blindau ist auch die Woche meiner Zuhausekunft nach
Tilse
gegangen und
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Degnerin
NN. Degner
Jgfr. Degnerin hält morgen ihre Andacht daß ich also das Haus allein
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hüten muß.
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Gedicht
nicht ermittelt
Dein Gedicht habe gelesen. Einige gute Züge darinn ersetzen noch nicht den
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Mangel der Feile. Ich danke Dir herzl. für Mittheilung deßelben. Das schwere
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und erhabene ist nicht für Dich, und
bisher
noch mehr Schwulst als Natur.
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Es sollte mir leyd thun, wenn Du Deinen Leib und Dein Gemüth durch eine
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heterogenea
im Sinne von wesensfremden Tätigkeiten
Anstrengung der Lebensgeister auf
heterogenea
noch mehr zu deiner
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gegenwärtigen und künftigen Verfaßung verhudeln solltest. Die Ode selbst ist wie
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imitationi seruili
sklavische Nachahmung
der Titel
nachgeahmt
oder sieht wenigstens einer
imitationi seruili
ähnlich.
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Ich bewundere Deine Biegsamkeit in die Feßeln des Reims und
metri,
und
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wünschte eine gleichförmige in sanftere und leichtere Bande, als Sylbenmaas
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und Reimklang immer für mich gewesen.
Dr. L.
hat mir seine
Ode
auf den
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Einzug eingeschickt, von der ich nur Anfang und Ende habe lesen können. Es
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war in meinen Augen ein Uebelstand einen
comi
schen Dichter über das Motto
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zu finden. So zärtlich ist mein Gefühl oder so kindisch daß selbst ein großer
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Name am unrechten Ort mir verächtlich wird, wenn er sich nicht recht eben
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Empfehlung eines sehr sonderbaren jungen Menschen
nicht ermittelt
paßt. Der Anlaß von ihm einen Brief zu enthalten war die Empfehlung eines
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sehr sonderbaren jungen Menschen von 22 Jahren, der als Schreiber in
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Mitau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
Mitau ausgelernt und durch seine
Hypochon
drie 3 Jahre der elendeste Mensch
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coll. Fridericanum
Collegium Fridericianum, Gymnasium in Königsberg
klein Secunda
d.i. das drittletzte Schuljahr
gewesen, jetzt aber ins
coll. Fridericianum
verkauft worden, wo er auf klein
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Secunda
sitzt. Weil er mir
recommendi
rt worden von einem alten guten
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Freunde, so geht mir sein Schicksal desto näher. Sein Name weiß noch nicht,
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weil er mir nicht im
recommend.
Briefe gemeldet worden; ich hab ihn aber
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gebeten mich alle Tage auf eine Viertelstunde zu besuchen. Müste ich jetzt nicht
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die kleinste Zeit zu rath halten und von allen
abstrahi
ren, so sollte er nicht bis
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Michel
Michaelis, d.i. bis zu den Herbstferien
consilium abeundi ad altiora
dt. Ratschlag, zu höheren Dingen fortzuschreiten
Michel im
Colle
g
io
bleiben und im vierteljahr
consilium abeundi ad altiora
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Gewerkspatron
Vorsteher
erhalten auch vom Gewerkspatron losgesprochen seyn. Wenn ich des HE.
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Hofmedici
Johann Ehregott Friedrich Lindner
Hof
medici
Einladung ihn zu besuchen Gehör geben könnte; so würde ich gewiß
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einen
hippocrati
schen
aphorismum
aus dem Buch:
περι τεχνης,
der sich zu
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dem
casu
mit dem jungen Menschen reimt, mitbringen.
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Beyliegender Brief
nicht überliefert
Beyliegender Brief ist bald 14 Tag alt; weil ich nicht zu Hause gewesen,
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Rector
Johann Gotthelf Lindner
Degnerinn
NN. Degner
vermuthl. an HE.
Rector.
Die Jgfr. Degnerinn hat vergeßen sich bey der
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Fr. Consistor. R.
Auguste Angelica Lindner
Fr.
Consistor.
R. darnach zu erkundigen.
S. 35
Mein Vater verlangt mit Schmerzen auf Nachricht von Deiner
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Gesundheit, und Deiner
Cu
r, ob du selbige angefangen, wie weit Du darinn
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letzten Briefe
nicht überliefert
gekommen und wie sie anschlägt pp weil in Deinem letzten Briefe nichts daran
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HE. Mag.
J. G. Lindner
gedacht. Wir verlaßen uns hierinn auf des HE. Mag. gütiges Versprechen für
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HE Buchh.
Johann Christian Buchholtz
dich zu sorgen. HE. Buchh. hat mir Deinen Brief nicht weisen wollen,
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sondern nur
contenta
daraus vorgesagt und einige katechetische Gewißensfragen
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an mir gethan, zu denen Du ihm Anlaß gegeben haben must, aus denen ich
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aber nicht klug werden können.
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1.) Worinn
mein Unglück
bestünde, das ich dorten gehabt hätte? Ich weiß
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von nichts als von dem Glück alle ersinnl. Freundschaft und Liebe in und von
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Hause
Das Haus Berens
einem Hause genoßen zu haben, das ihre
Wohlthaten
mit einer
Qwittung
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aller ferneren Verbindlichkeiten
gekrönt.
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2.) In welchen Stücken ich mich
feindseelig gegen
Dich bezeigt? Mit
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meinem Wißen und Willen nicht anders als im Bekenntnis der Wahrheit, die ich
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mit Ernst und Scherz, süß und bitter, geredt und geschrieben.
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Hast Du viel Erfahrung gesammelt; so ist selbige allenthalben anzuwenden und
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brauchbar. Ein Prophet aber ist nirgends verachteter als in Seinem Vaterlande.
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Mein Vater ist sehr geneigt Dich aufzunehmen, und ich neben Dir zu
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wohnen oder auch Platz zu machen. Ob Brodt hier ist? Wer arbeitet soll auch eßen.
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Ich trinke in meines Vaters Hause alle Tage
Coffée
, Wein, so oft es mir
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einfällt, und habe heute zu Mittag Blaubeeren, Sauerbraten, Steinpiltzchen
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gegeßen, auch eine Melone ungerührt zurückgehen laßen, und mein Vater unser!
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wird täglich reichlich, nach Herzenslust erhört.
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Freund
Johann Gotthelf Lindner
Du hast an Stell und Ort einen Freund, zu dem Du Vertrauen hast. Er kann Dir
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mit Rath und That an die Hand gehen, und hat sich gegen uns dazu anheischig
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gemacht. Er ist Dein Nächster, der alle Umstände am besten beurtheilen kann.
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Giebt er Dir einen guten Rath; so
folge ihm
. Ich ersterbe Dein treuer Bruder.
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Pflegmutter
Auguste Angelica Lindner
noch herzl. Gruß an Deinen liebreichen Wirth und
S
Deine Pflegmutter.
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Baßa
George Bassa
Baßa bitte freundl. zu grüßen. Mit erster bester Gelegenheit werde auch an
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ihn 2 Worte schreiben.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (72).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 25 f.
ZH II 33–35, Nr. 187.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
35/20 |
Coffée |
Geändert nach Druckbogen (1940); ZH: Cofféc Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Coffée |