190a
513/2
Mitau den 8
Aug.
1760
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Herzlich geliebtester Freund,
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Gott lob! daß ich nun weiß, woran ich bin. Nein! wäre mir eben so lieb
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als Ja! gewesen. Ich war mir des Neins schon so gewiß, daß ich dafür eben
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so entzückt gedankt hatte als ich jetzt für meines Bruders Ja! thue.
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Ein für alle mal. So lange ich hier bin, muß ich alle Posttage ein Paar
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Zeilen von Ihnen erhalten. Darauf müßen Sie mir, liebster Freund die
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Baßa
George Bassa
Hand geben. Können Sie nicht schreiben, so muß Baßa eine Stunde vor
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Abgang der Post immer erscheinen und Ihr
Secretair
seyn. Sie sehen, daß so
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schwer meine Forderungen sind, ich solche immer so leicht als möglich Ihnen
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zu machen suche. Der Geld hat und es nicht ausgeben will ist ein Narr; aber
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ein noch größerer, der gute Freunde von Gott bekommen und
das
Herz
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nicht über sie zu
disponir
en.
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Battons …
Sprichwort: Das Eisen schmieden, solange es heiß ist.
Battons le fer, pendant qu’il est chaud.
Mein Bruder
will
– – seinen
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Abschied
von der Anstellung als Lehrer am Domgymnasium in Riga, um nach Königsberg ins Haus des Vaters zurückzukehren.
Abschied. So weit sind wir Gott lob! Nun komt es darauf an: Mein Bruder
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hat
– seinen Abschied.
Termin
ist eine Sache für sich und kommt immer
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auf andere Umstände an zu verkürzen und zu verlängern. Ich werde nicht ein
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Wort
daher
sagen; und mir und meiner Reise ist es gleichgiltig, ob er in 8
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tagen oder Wochen abkommen kann; weil mein
Termin
nicht seiner, und
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seiner nicht meiner ist; ich eben so lieb ohne ihn als mit ihm reisen möchte.
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Wenn ich von meinem Bruder seine
WillensErklärung
verlangt: so
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weiß ich sehr gut, daß ich ihm mehr zugemuthet als er leisten kann; ich habe
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aber auch selbige nur als eine
Formalität
nöthig mich in Ansehung des
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Noth
die psychische Erkrankung
vergangenen und künftigen vor Menschen zu
legitimir
en. Seine Noth, die
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Kenntnis seiner Verfaßung ist Wille genung von seiner Seite; und Beruf
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genung von der meinigen, ihn herauszureißen. Wie schwach, wankelmüthig,
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matt übrigens sein Wille ist, kann ich von selbst ohne nähere Umstände leicht
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erachten.
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Da Sie ihm, liebster Freund, seinen Abschied schon zubereitet, ehe er mit
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seiner Willens Erklärung fertig geworden: so bitte ich jetzt um nichts mehr,
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als dies Werk so geschwind als möglich zu vollenden. Da er nicht einmal
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wollen
kann; so darf man gewiß wenig Thätigkeit auch hierinn erwarten
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von ihm selbst. Wenn man schon ein Samariter seyn will, so muß man die
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Last des Kranken auf seinen Esel zu laden wißen um bald die Herberge zu
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erreichen, wo für seine Wunden gesorgt werden kann.
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Es wäre mir lieb, falls er mit seiner
Supplique
noch nicht eingekommen
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beyliegenden Brief
nicht überliefert
und der rohe Entwurf in meinem beyliegenden Briefe an ihn zum Grunde
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gelegt werden könnte. Es sind nichts als Empfindungen der Natur und
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Wahrheit darinn, der man sich nicht schämen und von deren Bekänntnis man
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sich durch nichts abschrecken laßen soll. Ob man ein guter oder schlechter
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Schulmann ist, dadurch ist unser Glück weder gemacht noch verdorben; ein
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ehrlicher Mann zu seyn, und das Bild davon unserm eigenen Gemüth und
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andern vorzuhalten, durch diesen Spiegel uns selbst und andere dazu zu
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modeln, gehört so wohl zu unserm Glück als zu unserer Pflicht, wenn wir
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beyde kennen und lieben.
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Sollte mein Bruder, wie Sie mir dazu Hofnung machen, einen
honorabl
en
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Abschied erhalten: so ist er um desto mehr verbunden diese kleine
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Demüthigung sich selbst aufzulegen – Das Gefühl der darinn enthaltenen
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Gesinnungen ist nothwendig für ihn, wenn er und andere aus dieser seiner
Catastrophe
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klüger werden sollen pp.
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Wenn er seinen Abschied hat, so würde seine Gemüthsbeschaffenheit
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dadurch erleichtert werden und er könnte als
Volontair
die Schule so lange
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abwarten, als es erforderlich wäre.
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Eben das
Interesse
das sie gehabt haben dem
Publico
nützlich zu werden
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in Besetzung dieser Stelle wird Sie jetzt
selbige
antreiben ihren
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mislungenen Versuch so bald als mögl. dadurch abzuhelfen, daß einem würdigern
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darinn Platz gemacht wird.
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Eben die Freundschaft, die Sie in Ansehung meines Bruders leichtgläubig
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gemacht verbindet sie jetzt ihn von den Feßeln loß zu machen – Sie sind also
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der einzige, dem in dieser Sache mit Feuer zu
agir
en erlaubt ist, sie mögen
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ihre Schule, oder ihren Freund ansehen; so wird das Ende jetzt den Ton des
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ganzen Stücks – erklären, und ich weiß, daß man weder ihren öffentl. noch
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privat verbindlichkeiten etwas wird vorrücken können.
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Sie sehen selbst hieraus, daß ich nur mit Rath aber nicht mit That weder
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Ihnen noch meinem Bruder an die Hand gehen darf. Sie sind vielleicht zu
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nahe zum ersteren, und ich zu entfernt zum letzteren. Wir können uns
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einander eben so glückl.
secundir
en, als wir uns unglückl. überwerfen können.
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Bleiben Sie Ihrer Rolle so treu als ich der meinigen zu seyn gedenke; die
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Der Friede Gottes …
Phil 4,7
Blätter zu unserm Spiel werden uns von der Vorsehung ausgetheilt. Der
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Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und
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Sinne zum ewigen Leben, an den Nieten dieses lebens ist ohnedem nichts
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gelegen.
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Laß die Todten …
Mt 8,22
ruhen können …
Offb 14,13
Laß die Todten ihre Todten beweinen. Wohl dem, wohl der, die ruhen
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können von ihrer Arbeit und die sich des Gefolgs ihrer Werke nicht schämen
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Platohnen
Landgut v. Wittens, wo Hamann mit
Johann Ehregott Friedrich Lindner
dessen jüngsten Bruder
Gottlob Immanuel Lindner
besuchte, der dort Hauslehrer war. Heute Platone in Lettland (56°32′22″N 23°41′46″E).
dürfen. Ich erwarte mit erster Post Nachricht, gehe morgen nach Platohnen,
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wills Gott, in Gesellschaft meines Wirths
ihren
unsern lieben
Cadet
zu
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liebe Hälfte
Marianne Lindner
besuchen. Meinen herzl. Gruß an Ihre liebe Hälfte und übriges ganzes Haus.
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Gott laße sie allesamt Seiner väterl. Obhut empfohlen seyn. Ich umarme
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Sie und ersterbe
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Ihr
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aufrichtig ergebener Freund,
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Hamann.
Veränderte Einsortierung
Die Einsortierung wurde gegenüber ZH verändert, sie erfolgt chronologisch zwischen Brief Nr. 187 und 188. ZH vermutet eine falsche Datierung. Grundlage für die Annahme ist vmtl. HKB 191 (II 39/34) im Zusammenhang mit HKB 190a (VII 515/12) gewesen.
Provenienz
Deutsches Literatur-Archiv, Marbach am Neckar, Signatur DLA B: Hamann, Johann Georg 68.22.
Bisherige Drucke
ZH VII 513–515, Nr. 190a.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
513/13 |
das ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: d as |
513/19 |
daher ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: dazu |