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Geliebtester Freund,

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Von meinem Bruder noch keine Nachrichten; ich habe heute ganz gewiß

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einige erwartet. Gott wolle ihn bald und gesund herbringen. Ich weiß, daß

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Sie diesen Wunsch mir nachbeten.

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Warum vergeßen Sie mich gantz. Heißt dies die Pflichten der Freundschafft

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erfüllen? Ich habe nicht Zeit, sagen Sie – – Schaffen Sie sich welche durch

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eine beßere Anwendung derselben und durch eine größere Herrschafft über Ihre

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Begierden. So werden Sie niemals zu viel noch zu wenig sondern immer

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genung haben. Wie viel kann der Weise entbehren, der nicht mehr zu wißen

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verlangt er als
zu seiner Nahrung und Nothdurft nöthig hat, und nicht zu

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zu Steinen spricht
Lk 4,3
Gott aus Steinen
Mt 3,9
Steinen spricht, daß sie Brodt werden sollen; dabey aber glaubt, daß Gott aus

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Steinen uns Kinder erwecken kann.

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Ehe es mir entfällt, versäumen Sie doch nicht mit erster Gelegenheit mir

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meine Laute, meine Schlüßel, meine 3 Hemde, Klopfstocks Lieder v das schon

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Rectorin
Marianne Lindner
Leipziger Journal
nicht ermittelt
erbetene Leipziger
Journal
überzuschicken. Die Frau
Rectorin
hat uns heute

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einen Staatsbesuch abgelegt; Sie so wohl als Ihr Herr Bruder haben mir

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immer einen sehr argen Begriff von Ihrem Glück und Gedächtnis in

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Kleinigkeiten und
Commissionen
zu machen gewußt. Eine alte
Serviette
klagt ihre

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Noth über Sie, demohngeachtet blieben Sie unerbittlich – – Ich nehme mir

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zugl. die Freyheit eine Fürbitte für ihre Loslaßung und Heimsendung

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einzulegen. Sie werden mich als einen eben so unbarmherzigen Treiber und

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Preßer erfahren, wie Sie ein zurückhaltender und aufschiebender Erfüller sind.

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Ich überlaße es Ihnen und ich hoffe nicht, daß Ihnen diese Arbeit

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beschwerlich seyn wird aus Freundschafft für mich und Gefälligkeit gegen Ihren jungen

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HE. Noten und Kreutzer zu meinen Briefen zu machen, als Dollmetscher

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und Kunstrichter mit meinen Einfällen und Schreibart umzugehen.

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So toll Ihnen auch der Eingang meines Briefwechsels vorkommen mag,

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so könnte doch vielleicht derselbe mit der Zeit klüger werden und ein

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Zusammenhang wie von ungefehr darinn entstehen, wenn ich einigen Beystand von

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Ihrem Zügling erhalte. Werden Sie also so gütig seyn selbige lieber Selbst

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aufzuheben – – auf allen Fall, daß ich weiter käme, als ich jetzt noch absehe.

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Bleiben Sie nur genau bey den Punkten, die ich mir ausgebeten. Ich will

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mir gern dafür
diejenige
Gesetze gefallen laßen, denen Sie mich unterwerfen

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wollen.

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Arbeit
nicht ermittelt, vll. besagter Briefwechsel
Es ist mir lieb, daß ich jetzt geschrieben, weil ich Arbeit bekomme, von der

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ich nicht weiß, wie lange sie mich beschäfftigen wird. Gott wolle mir Kräffte

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geben, und alle die gute Hoffnungen erfüllen, die er uns von weiten zeigt.

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Er muß uns gutes und böses tragen helfen; erlösen von der Gefahr des

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Glücks und stärken zur Arbeit des Leidens.

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Ich bin Gott Lob! gesund und zufrieden; und wünsche Ihnen gleichfalls

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beydes zu seyn.

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Was macht mein ehrlicher Baßa? Reden Sie bisweilen von mir – – doch

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in allen Ehren – – denn ich bin auf meinen guten Namen so zärtlich als eine

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Jungfer; aber zugl. so grosmüthig als jener Feldherr gegen das, was im

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Gezelt gesprochen wird.

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Grüßen Sie bey Gelegenheit im Pastorath und erkennen mich allemahl für

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Dero aufrichtig ergebenen Freund.

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greg. 27.9.1758
Riga den 16/27
Sept.
1758.
Hamann.


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Adresse mit rotem Lacksiegel:

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à Monsieur / Monsieur Lindner / mon / ami à Grunhoff. par fav:

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 4 (2).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 298–300.

ZH I 254 f., Nr. 117.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
254/11
verlangt er als
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
als er

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): verlangt als er
254/34
diejenige
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
diejenigen