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Gütiger Herr Baron,

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Ich danke Ihnen für die Gefälligkeit, womit Sie sich zu meinen Einfällen

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beqvemen. Da ich mir Ihren Nutzen zum Endzweck unsers Briefwechsels

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Schreibens
nicht überliefert
gesetzt; so werden Sie mir eine freye Beurtheilung desjenigen Schreibens,

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das ich die Ehre gehabt von Ihnen zu erhalten, nicht übel deuten können.

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Erlauben Sie mir, lieber Herr Baron, bey dem Äußerlichen den Anfang

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zu machen. Dies ist das leichteste und einfachste bey einem Briefe; der

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Wohlstand und der Gebrauch hat darinn eine gewiße Ordnung eingeführt, worinn

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wir nicht unwißend noch nachläßig seyn müßten. Nach diesem Handwerksleisten

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und Schlendrian allein zu schreiben, ist aber mehr Schulfüchserey denn

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Wißenschafft. Der gute Geschmack besteht sehr offt in der bloßen

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Geschicklichkeit Ausnahmen von Regeln anbringen zu wißen; und es gehört zu Ihrem

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Stande, sich bey Zeiten zu einem feinen Urtheil im Anständigen und in

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Achtsamkeiten zu gewöhnen.

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Wenn sich der Innhalt meiner Briefe, und der vertrauliche, offenherzige,

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freundschafftliche Ton, in dem ich mir vorgenommen Ihnen zu schreiben, mit

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Curialien
Titel, Anredeformen, formelle Schlusssätze etc.
dem förmlichen Zwange und Zuschnitte der
Curialien
zusammenreimte; so

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würde ich ein Muster von Ihnen nehmen. Jetzt muß ich selbiges aber zu

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Ihrem und meinem Nachtheil auslegen. Entweder Sie sind zu steif sich in

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die unschuldige Freyheit und Ungebundenheit zu schicken, in der ich mit

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Ihnen umgehen will, oder Sie haben mir einen künstlichen Vorwurf daraus

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machen wollen, daß ich mir selbige gegen Sie herausnehme, und ohne rechten

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Titel auch viel zu hoch nach meinem Stande meine Briefe an Sie anfange,

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oder Sie wollen mir einen kleinen Betrug spielen, um mir die Kürze Ihres

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Schreibens nicht merken zu laßen.

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Ich habe Ihnen schon gesagt, daß die Sprache, die wir in unsern Briefen

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mit einander führen wollen, sich nicht zu den
Schau-gerichten
gedrechselter

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Höflichkeit schicke. Sie sollen ein Beyspiel davon aus den ersten Zeilen Ihres

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eigenen Briefes haben. Ist ein HochEdelgeborner Herr wohl vermuthend mit

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einer Nachricht von offenen Munde angeredet zu werden? Ich traue Ihnen

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so viel Geschmack zu, das darinn liegende Misverhältnis empfinden zu

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können. Dieser Einfall würde seine rechte Stelle gehabt haben, wenn er auf einen:

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Mein Herr, oder auch Wehrter Freund, gefolgt hätte. In dem Mangel eines

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solchen Urtheils und Empfindlichkeit über das Anständige liegt der Grund,

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daß man einem Schmeichler und bloß höfflichen Menschen so selten eine gute

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Lebensart zuschreiben kann. Wer wird nach den Schönheiten des Witzes und

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der Beredsamkeit auf Stempel-
Bogen
Papieren suchen?

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Jetzt komme ich auch auf Ihr Schreiben selbst, und muß mich gleich

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Anfangs darüber beschweren, daß Sie mir zu hoch schreiben. Ungeachtet aller

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meiner Mühe ist es mir nicht möglich gewesen Sie zu verstehen, wenn Sie

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zur Entschuldigung Ihres Stillschweigens
einen Schlag
anführen, der

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anderswohin traff, als Sie sichs vorstellten
. Ich weiß nicht ein lebendig

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Wort von dem, was Sie mir hiemit sagen wollen. Sie wollen mir entweder

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Absichten und Gedanken aufbürden, die mir niemals in den Sinn gekommen;

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oder sich vor der Zeit in witzigen Wendungen üben. Was die ersteren

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anbetrifft, so werden Sie so gütig seyn mir immer die besten und unschuldigsten

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zuzutrauen, besonders gegen Sie, lieber Herr Baron; was die letzteren

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anbetrift, so glauben Sie nicht, daß die Güte einer Schreibart hauptsächlich in

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Briefen darinn besteht. Deutlichkeit, Einfalt des Ausdrucks, Zusammenhang

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sind mehr werth als drey seltene Worte und noch einmal so viel sinnreiche

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Einfälle. Was für ein Aufhebens machen Sie mir von einer Schulfüchserey,

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die man
analysiren
nennt? Sie geben mir bey dieser Gelegenheit die Ehre mich

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einen Freund zu nennen, sehen mich als einen Bürgen für den Nutzen dieser

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Uebung an, und ich als ein Freund soll
desto mehr Antrieb seyn dem

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analysiren
zu folgen
. In allen dem ist weder rein deutsch noch ein rechter Sinn.

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Endlich heißt es: Meine Meynung ist – – und an statt derselben kommt ein

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kleines rundes Unding zum Vorschein, das man wo ich nicht irre, eine

3
Maus … Berg
vgl.
Hor.
ars
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Definition
nennt. Und mit diesem Gerippe von einer Maus (Sie wißen daß jener

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kreischende Berg eine hervorbrachte, die wenigstens Fleisch und Fell hatte) ist

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die Frage beantwortet, worinn der Beruff bestehe? Das übrige, was Sie mir

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sagen, läuft auf entferntere Betrachtungen hinaus, davon einige eine so

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trotzige Miene haben, als des
Euclides
seine
Axiomata
und
Theoremata.

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Uns Schulmeistern müßen Sie ein wenig Gelehrsamkeit und den Gebrauch

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der Kunstwörter eher als Sich Selbst erlauben.
Oeil
wird mit einem einzigen

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l geschrieben, weil
oculus
das Stammwort ist. — Wer mit Hintansetzung seines

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Beruffs sich um fremde Sachen bekümmert, kann leicht lächerlich oder

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lasterhafft werden; oder kann sich leicht lächerlich und unglücklich machen. Das

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Charles Irenée Castel de Saint-Pierre
, der 1718 für seinen ‚Discours sur la Polysynodie‘ aus der frz. Akademie ausgeschlossen wurde.
Wort abscheulich ist zu hart. Das erste traf einen Abt
St. Pierre
– – Ich habe

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weniges von seinen Schrifften gelesen, weiß aber, daß selbst Staatsmänner

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mit Bescheidenheit und Hochachtung von seinem Herzen geurtheilt haben;

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daher würde ich mich unbestimmter ausdrücken, und lieber sagen: das erste

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Gelehrten
Johann Funck
soll an einen Abt eingetroffen seyn. – – Das letzte an einen andern Gelehrten,

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Distichon
überliefert etwa in
Allgemeine und Neueste Welt-Beschreibung aus Johann Caspar Funckens hinterlassenen MSC
(Ulm 1739), Sp. 3765; übers.: Fliehe den Hochmut.
deßen Name mir jetzt nicht beyfällt; der aber vor seinem Ende ein
Distichon

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hinterließ, worinn er die Lehre gab:
Fuge Polypragmosynen.
Ich habe nicht

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mehr Raum, muß daher abbrechen. Entschuldigen Sie meine freye

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Beurtheilung, v sehen Sie solche als eine Wirkung der Freundschafft an, mit der ich

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verharre Dero ergebenster Diener

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Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 34.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 315–319.

ZH I 255–257, Nr. 118.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
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Schau-gerichten
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Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
Schau-Gerichten