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296/13
Königsberg am zweyten Christtage, St. Stephani u Sontage nach

14
Weynachten den 26
Xbr.
84.

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Mein alter lieber Freund, Gevatter und Landsmann,

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Zuförderst wünsche Ihnen Glück zu der kleinen Tochter, die Ihnen Gott

17
gegen Ende des
Nov.
geschenkt und wünsche, daß er sie Ihnen erhalten und

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Ihnen noch mehr von Ihrer lieben Frau beschären wolle, und Ihrem ganzen

19
Hause so viel Freude und Seegen schenken wolle, als er mir den 15
d.
hat

20
erleben laßen. Amen.

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Ohngeachtet Ihnen oft gnug meine Noth geklagt: so können Sie sich doch

22
kaum vorstellen, wie weit selbige gieng. Wenn Gott nicht den jungen Lindner

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auf ¾ Jahr in mein Haus geschickt; so wäre schon längst in Schulden vertieft.

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Ich habe mich von seiner
Pension
bisher erhalten und das OelKrüglein gieng

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auch zu Ende bis auf die letzte Neige – dennoch hatte ich das Herz monathlich

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noch 2 rth an meine Töchter zu wenden und zu verschwenden, einen für einen

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ehrl. Soldaten
, den
mein lieber Hill mir vermacht hatte, um das italienische

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worin meine
Lisette
bey Hill den Anfang gemacht hatte zu erhalten und den

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andern Thaler für seine Schwester, welche meine beyde älteste Mädchen im

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Nähen unterrichtete. Mit dem neuen Jahre sollte alles eingehen. Bier, das ich

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nur des Abends trinke,
Caffe,
Taback, den ich starker schnupfe als rauche – um

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Holtz kaufen zu können, mich und mein Haus zu versohlen und unsere Blöße zu

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bedecken. Ohngeachtet ich weder zum Helden noch Märtyrer noch Mönch noch

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Schmarotzer geboren bin: so besitze ich doch eine kleine Anlage zu allem, und in

2
dieser Mischung
besteht
so verschiedner Elemente besteht vielleicht die

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Idiosynkrasie meines Characters.

4
Den 4
ten
Sept
komm ich von meiner Gevatterinn
Me Courtan
zu Hause und

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finde einen Brief von einem literarischen Freunde, mit dem meine Verbindung

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seit langer Zeit aufgelöst nebst einer Einlage von einem ihm ebenfalls

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unbekannten jungen Mann, der ihn ausdrückl. aus der dortigen Gegend besucht um

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sich meinethalben zu erkundigen. Dieser unbekannte schreibt mir von

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Verbindlichkeiten gegen mich, die ich bis diese Stunde weder zu begreifen noch zu

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ergründen imstande bin. Wenn ihn sein schlechter Gesundheitszustand nicht

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abgehalten, würde er mich schon dies Jahr besucht haben. Ich überlese seinen Brief

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2 mal und qväle mich die halbe Nacht wegen dieses Gastes, der mich zugl. bat

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ihn zum Sohn anzunehmen.

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Den Morgen drauf lese ich
noch einmal
zum drittenmal den Brief über,

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und zwey Wörter machten
mich
aufmerksam, die ich den Abend vorher

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übergangen haben muß; dennoch schienen sie mir doch noch zu zweydeutig um meine

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Besorgnis ganz zu unterdrücken. Von einer beynahe römischen Idee begeistert

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lauf ich den gantzen
XIII. Dom.
herum um den Leuten oder meinen Freunden

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und Freundinnen worunter auch Ihre liebe Schwester
Me Dorow
gehört

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anzumelden:
Mir ist ein Sohn gegeben
! Alles machte große Augen in der

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Meinung daß mir wirklich ein Kind geboren werde. Ich lachte noch mehr über

22
das Zutrauen, das man zu einem alten Mann hatte, noch ein solches
opus

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operatum
leisten zu können. Mit meiner Antwort war auch nicht saumseelig;

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machte es aber wie die Boten Benhadads,
nahm eilend das Wort von ihm

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und deutete es auf mich
1 B. der Kön.
XX.
33.

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Währender Zeit erhielt allerhand Nachrichten von der
Individualität

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dieses edlen Jünglings und seines Characters, die meine Einbildungskraft aufs

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höchste spannten. Sie wurde aber unendlich übertroffen durch das
fürstl.

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Geschenk
einer Anweisung auf ein so ansehnl. Capital für jedes meiner 4 lieben

30
Kinder zu gleichen Theilen, daß ich ebensosehr über die
unaussprechliche

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Gabe als die
unaussprechliche
Art, womit mir selbige aufgeopfert und

32
aufgedrungen wurde, in Erstaunen und Verehrung der Göttl. Vorsehung und

33
Ihrer Individualität, die sich auf
Spatzen
und
Eulen
erstreckt, vergehen

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möchte.

35
Da ich meinen lieben Hans Michel mit Furcht und Zittern auf Ostern

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erwartet, wo er seine akademische Laufbahn anfangen soll, weil ich kein einziges

37
Collegium
zu bezahlen im stande war noch den geringsten Zuschub zufließen zu

S. 298
laßen: so erwarte ich ihn noch diese Woche zu sehen auf unserer beyder Freunde

2
Kriegsrath Hippel u Scheffner Vorbitte, die sie gestern nach Graventihn haben

3
ergehen laßen, wie auch an Scheller, der zur allgemeinen Freude auch Hofnung

4
hat versorgt zu werden.

5
Auf einmal bin ich gegenwärtig vermögend, wenn ich das
Capital
als ein

6
heil. Eigentum so wol meines
unbekannten Wohlthäters und
eventuell
es

7
meiner lieben 4 Kinder verwalte, sie wie ein rechtschaffener Vater von den Zinsen

8
zu ernähren und zu erziehen. Meine
Lisette
geht diese Woche vielleicht noch in

9
Pension
meiner alten Freundin, der preuß.
Beaumont,
unserer Julie oder

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Julianne Bondeli, die sich als eine Mutter bewiesen und schon vor einem halben

11
Jahr anerboten diese älteste oder eine ihrer Schwestern aus christl. Liebe in Ihr

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Haus zu nehmen – daher ich sie seitdem nicht mehr das Herz gehabt zu besuchen

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ohngeachtet ihrer widerholten Einladungen u den Verdacht einer undankbaren

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Vergeßenheit –

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Ich weiß Sie freuen sich mit mir, lieber guter Reichardt, und werden die

16
Anwendung von diesem Zeichen u Wunder, das Gott an mir armen verlaßenen

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verschmähten
Mann von selbst zu Ihrer Stärkung u Tröstung anwenden.

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Ich allein hätte zur Noth einzeln leben können und für meine Bedürfniße

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war meine Habseeligkeit hinreichend – diese muste ich aber durch ein Testament

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der in meines seel. Vaters u meinem Dienst alt gewordenen Mutter vermachen

21
und meine Kinder auf ihren Tod warten laßen. Gottlob! nun sind sie reicher

22
wie ihre Eltern und jeder hat sein bescheiden Theil, worum ich sie von ihrer

23
Kindheit an tägl beten gelehrt aus Spr. Sal.
XXX.
8,9.

24
Behalten Sie alles dieses für sich und melden Sie nichts nach Weimar, wo

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ich längst eine Antwort schuldig bin, aber wegen Umstände noch nicht geben

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kann. Entschuldigen Sie mich mit dem Versprechen daß ich Sie für mein

27
Stillschweigen schadlos zu halten hoffe. Sie können leicht denken wie ungedultig ich

28
bin meinen
Schutzengel
von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Dazu gehört

29
allerhöchste Erlaubnis, die ich nicht
directe
suchen kann, weder bey dem

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Oelgötzen, der weder mehr lesen noch schreiben kann, noch bey seinen welschen

31
Scorpionen, denen ich einen tödtl. Haß geschworen
habe

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Meine armen elenden
Commilitones in telonio
haben sich vor wenigen

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Tagen an den Printzen Heinrich gewandt und ich habe
nolens volens
auch

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unterschreiben müßen ohne zu wißen was? Mein Herz zieht uns zum Pr. von

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Pr. – thue ich das gerade oder können Sie das auf die sicherste Art ohne sich

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selbst zu exponiren durch einen
guten Weg und Canal
bewerkstelligen: so

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erwarte hierauf reife überlegte
positive
Antwort. Ich erwarte von Ihrer

S. 299
bewährten Freundschaft darüber die nöthige Erklärung und alles was zu meiner

2
Instruction
dienen kann. Ich erwarte meinen Sohn aus Graventihn um alle

3
gedruckte und geschriebene
Acten
mir aufzusuchen, weil er damit beßer

4
Bescheid weiß als ich, zu
Memoires
u
Confessions,
die wo nicht
interessant
er doch

5
wahrhafter seyn sollen als der welschen
Ciceros
unsers aufgeklärten

6
Jahrhunderts – und ein Scherflein zu dem kosmopolitischen Chiliasmo beytragen

7
und daß nicht die unschuldige Unmündigkeit sondern die allerhöchst verschuldete

8
Vormundschaft
Ursache sey,
predigen sollen: Gott gebe, daß es Ihm

9
gefälliger sey als der Philosophen Opfer die nicht wißen was sie böses thun, wie

10
der Prediger weißagt
IV
: 17.

11
Ist mein Schiblemini
d. ist.
Luthers
Spiritus familiaris
aus
Ψ
CX.
2.
glücklich

12
gehört und wie ich hoffte verstanden zu werden: so werde ich von meiner elenden

13
Autorschaft sagen können: Auch in der Dunkelheit giebts göttl. schöne Pflichten

14
und alle Helden unserer Litteratur auslachen, die deutsch zu sagen, nichts als

15
Schelme Schwätzer und Betrüger
sub pallio philosophico
sind – –

16
Wenigstens will ich all das Meinige thun uns einander widerzusehen u Ihnen

17
meinen Gegenbesuch abzustatten – Gott erfülle unsers Herzenswunsch und

18
gebe neuen Seegen zum Neuen Jahr – reiches Oel in unsere Lampen – Brodt

19
und Wein Zach
IX.
17. – und was wir uns selbst wünschen, Allen –

20
Empfehlen Sie mich Ihrer lieben Sechswöchnerinn küßen Sie mein Pathchen

21
und das kleine nebst dem größeren Geschwister – und bleiben Sie wenigstens

22
mein herzl. Freund in Berlin
instar omnium

23
Grüße von unsern Freunden, bereits genannten und ungenannten.
Vale et

24
fave
– Ich eile zur Kirche und
Dorow
und ersterbe

25
Ihr

26
herzl. Freund Gevatter u
Landsmann

27
Johann Georg Hamann.


28
So kommt Gott eh wir’s uns versehn

29
und läßt uns sehr viel Guts geschehn. Amen.

30
sang unsere seel. Mutter und Wärterinnen; leider! aber nicht mehr –

31
Unsere Kinder sollen erst Christen, hernach schöne Geister u wenn sie können

32
auch Philosophen werden; nicht umgekehrt, die Pferde hinterm Wagen

33
angespannt.

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 193–198.

Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 155 f.

ZH V 296–299, Nr. 791.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
296/19
d.
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
d.
298/31
habe
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
habe.
299/5
Ciceros
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Ciceroni
; bei Warda mit Fragezeichen über dem Wort (vmtl. unsichere Lesung)
299/11
d. ist.
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
d. i.
299/11
CX.
2.
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
CX.
1.