792
S. 300
Dußeldorf
den 30
ten
Dec. 1784.


2
Vermerk von Hamann (nachträgliche Nummerierung mit roter Tinte):

3
No
3.
  Erhalten den 12 Jänner 85 Geant. den 16


4
Lieber edler theuerster Freund

5
Ihr herzliches Schreiben vom 14
ten
Nov kam mir, über Aachen, am ersten

6
Advent. Ich war seit vielen Tagen krank u traurig. Das verschwand mir in

7
Ihren Armen u ich hatte einen schönen Abend. So stark ich mich getrieben fühlte

8
Ihnen gleich zu antworten, so konte ich doch nicht. Darüber kam am Sonnabend

9
Ihr zweyter Brief vom 1st.
Χ
stmon. Aus diesem duftete mir nicht so wie aus

10
dem ersten der volle Hauch der Liebe u des Vertrauens entgegen, u ich machte

11
die Bemerkung, daß Sie am 14
ten
Nov den Brief an Hemsterhuys noch nicht

12
getr
gelesen hatten. Sagen Sie mir doch, ob Sie durch diesen Brief irgend an

13
mir irre geworden sind. Ich fahre unterdeßen fort Ihnen aus dem innersten

14
meines Herzens zu sagen, was mich der Anlaß Ihrer Briefe sagen heißt.

15
Es freut mich inniglich daß Ihnen meine Papiere so willkommen
waren,
u

16
noch weit mehr, daß Sie sich mit
Ih
dem Inhalt derselben ernstlich

17
beschäftigen, u fortfahren wollen sich damit zu beschäftigen –
Der
bisher geholfen hat,

18
wird weiter helfen! – Sein Rath ist wunderbahrlich – Halte an, mein Herz, daß

19
ich glauben lerne u. Vertrauen gewinne!

20
Als ich in HofGeismar Ihr Golgatha zum ersten Mahle las, fiel mir gleich

21
die Stelle S 71 in Beziehung auf Leßing auf, u wie Mendelssohn dabey

22
erschrecken würde. Ich dachte so gar, Sie wüßten vielleicht etwas von der Sache

23
durch unsern Herder. Es kann seyn daß Mendelssohn eben diesen Argwohn

24
hegt. Dagegen ist, wenigstens fürs erste, nichts zu thun. Mit seinem Versuch

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gegen den Spinozismus wird er wohl nicht säumen, aus Furcht es möchte

26
geschehen was Herder wünscht, sey es auch nur durch meine Unvorsichtigkeit. Ich

27
schicke Ihnen einliegend einen original Brief v Elise Reimarus, der mir die

28
erste Nachricht v Mendelssohns
v
Vorhaben
ertheilte. Mit dem System des Sp

29
welches L. M nach dem Tode des Sp bekannt gemacht haben sollte,
ist
war

30
zuverläßig nichts anders als die Ethik gemeint;
er
Mendelssohn hätte sie ja

31
sonst besonders nennen müßen. Von L. Mayer ist weiter
nichts vorhanden als
was Sie

32
kennen u in Ihrem Briefe anmerken; zu Ihrer Beruhigung will ich aber doch

33
bey Mendelssohn durch Reimarus noch anfragen laßen. Läge Königsberg nicht

34
so weit von hier, ich hätte Ihnen Augenblicklich die
pr. Ph. Carth.
des Spinoza

35
u sein Leben v
Colerus
geschickt. Die
pr. P. C.
finden sich gewöhnlich bey den

36
gesammelten Werken des
Cartes.
Ich habe noch ganz kürzlich ein
Exemplar

S. 301
davon, welches ich doppelt hatte verschenkt. Schreiben Sie mir inskünftige,

2
wenn Ihnen etwas abgeht, daß ich es Ihnen schicken soll wenn ich es habe oder

3
zu schaffen weiß, u ich werde Sie auf das schleunigste zu befriedigen suchen. Ich

4
möchte Ihnen sagen können, mein liebster Hamann, wie ich mich freue, u wie

5
ich darauf gen Himmel sehe, daß Ihnen diese Sache so angelegen werden mußte!

6
Sie urtheilen ganz recht, edler Mann, daß in Leßings Eifer für die

7
Fragmente Feindschaft gegen das Christenthum auf dem Boden lag, u daß es

8
keines weges
die Rolle eines
Χ
stl. Philosophen war die er spielte. Er wollte aber

9
für letzteres auch nicht angesehen seyn. Die Maske die er brauchte sollte ihn

10
nicht verbergen sondern nur beschützen. Es lag tief in Leßings Character, daß er

11
keines Menschen und keines Dinges Narre seyn wollte, auch nicht der Narre der

12
Philosophie. Bey seiner Verachtung gegen die
Χ
stenLehre, die zuletzt sehr bitter

13
wurde, hätte er es für Schimpf gehalten, im Kampfe dagegen etwas auf das

14
Spiel zu setzen; seine äußerlichen Verhältniße sollten ungefährdet bleiben; er

15
wollte nicht ausgelacht seyn, am
wenigsten
s
v sich
selbst. Uebrigens scheute

16
er so wenig, seine wahre Meynung entdeckt zu sehen, daß ihn jeder Mißverstand

17
darüber zornig machte. Als seine Erziehung des Menschengeschlechts von

18
einigen als eine nicht unchristliche Schrift, beynah als eine Palynodie angesehen

19
wurde, stieg sein Aerger über die Albernheit der Nation bis zum Ergrimmen.

20
Das Gedicht
Prometheus scheint mir näher mit 2 Gesprächen des Lucian, dem

21
beschämten u dem tragischen Jupiter, als mit dem Trauerspiel des Eschylus

22
verwandt. Leßing mag mit seiner ersten
wohl
Hand wohl auf die Natur der

23
Dinge selbst gedeutet haben.

24
Ich vermuthe einen Mißverstand wo Sie sagen: „Was Leßing anbetrift, so

25
beruhigt mich sein letztes Geständniß, vermöge deßen dieß sein gewesenes

26
LieblingsSystem, das vermuthl. in seinem Kopf eine ganz andre Gestalt als

27
im Carthesianischen u Jüdischen gehabt – ihm
selbst nichts erklärt hat,

28
sondern
ihm am Ende nichts mehr als die Substitution einer

29
Formel für die andre zu seyn schien, wodurch man eher auf neue

30
Irrwege geräth
ohne
als dem Aufschluß näher
zu
komm
en
t
. – Leßing

31
redete hier von des Hemsterhuys System von der Liebe in dem Briefe
sur les

32
desirs,
u nicht v dem System des Spinoza.

33
In den Zusätzen zu denen v Leßing herausgegebenen philosophischen

34
Aufsätzen v
Karl.
Wilh. Jerusalem, befindet sich S 113 eine Stelle, welche

35
Aufmerksamkeit verdient.

36
Εν και παν
soll nach Leßing die Aufschrift eines Tempels der Alten gewesen

37
seyn. Welches Tempels habe ich vergeßen, u so auch die Authorität worauf sich

S. 302
Leßing stützte. Ich habe in meinem Gedächtniße gesucht, aber es gab nur

2
Verwirrung.

3
Daß Sie von meinen Papieren Abschrift genommen haben, ist mir gar nicht

4
zuwider, sondern angenehm u erfreuend; nur bedaure ich daß Sie diese Mühe

5
größten Theils selbst übernehmen mußten. Auch die Mittheilung durch

6
Vorlesen überlaße ich Ihnen uneingeschränkt mit dem freyesten frohesten Muthe.

7
Sie werden schon sorgen daß vor der Zeit nichts auskommt. – Aber worum ich

8
Sie nicht kräftig genug zu bitten weiß, mein lieber gütiger Hamann: erfüllen

9
Sie mir so bald es seyn kann Ihr Versprechen, über das System des Spinoza

10
mir Ihre Herzensmeynung zu sagen.

11
Ich kann heute (den
31
ten
) meinen Brief nicht vollenden, will aber das

12
geschriebene doch abgehen laßen, u den nächsten Posttag auf einem frischen Blatte

13
fortfahren. – Gebe Ihnen Gott ein glückliches neues Jahr. – In Ihrem Briefe

14
vom 14
ten
Nov haben Sie 3 Mahl meine Gesundheit getrunken, welches mir

15
ungemein bekommen ist. Den 15
ten
sollten Sie bey Kriegsrath Hippel speisen.

16
Ich möchte wißen, ob auch dort meine Gesundheit getrunken wurde. Wenn Sie

17
wieder zu dem Kriegsrath kommen, so bringen Sie ihm einen Gruß v mir, u

18
machen Sie ihm den Gruß so angenehm als Ihr Gewißen es Ihnen erlaubt, u

19
Ihr Herz es Ihnen eingiebt.

20
Der liebe Jacobi zu Zelle (er verdient das Beywort) ist mein leiblicher Oheim

21
u mein Freund. Der
rechtschafene
liebenswürdige Greis soll es wißen daß Sie

22
nach ihm fragen, u in seinem Herzen darüber froh werden.

23
Herder bot mir zu Weimar den Bruder-Bund, den ihm mein Herz schon

24
gebothen hatte. Wir heißen einander Du.

25
Indem ich den Brief von Elise Reimarus hervorlange um ihn beyzulegen,

26
wandelt es mich an Ihnen noch etwas beyzulegen, einen
Brief den
ich vor

27
4 Jahren an Lavater schrieb. Sie schicken mir beydes zurück.

28
Seelig sind die nach Recht u Wahrheit hungern u dursten; denn sie sollen

29
ersättigt werden.

30
Gott sey mit uns, liebster Hamann! –
F. Jacobi

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, I 396–399.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 27–29.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 3: 1782–1784. Hg. von Peter Bachmaier, Michael Brüggen, Heinz Gockel, Reinhard Lauth und Peter-Paul Schneider. Stuttgart-Bad Cannstadt 1987, 410–413.

ZH V 300–302, Nr. 792.

Zusätze fremder Hand

300/3
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
300/1
Dußeldorf
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Düßeldorf
300/3
No
3.
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
300/28
v
Vorhaben
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Vorhaben

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
v
Vorhaben
300/31
nichts […] als]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
nichts als

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): nichts vorhanden als
300/36
Exemplar
]
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Exempl.
301/8
keines weges
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
keineswegs

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): keinesweges
301/15
wenigsten
s
v sich
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wenigsten
s
v sich

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): wenigsten
s
v sich
301/20
Das Gedicht
]
Geändert nach der Handschrift; in ZH kein Absatz.
301/28
sondern
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
sondern

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): sondern
nicht unterstrichen
301/30
komm
en
t
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
kommt
301/34
Karl.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Karl
302/11
31
ten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
31
sten
302/21
rechtschafene
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
rechtschaffene
302/26
Brief den
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Brief, den

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Briefn den