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Liebster, guter, treuer H.
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1. Ihr Brief hat mich herzl. erfreuet: er kam, da Fr. Jacobi u. Claudius hier
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waren u. wir Sie, Sie, Sie, so oft zu uns wünschten. Claudius ist hier nicht
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warm geworden; er sehnte sich unmittelbar nach seinem ankommenden Gruße
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nach dem Postwagen, der ihn wegfahren sollte u. ob er gleich von Sonnabend
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bis Dienstag hier war, so war er doch wie abwesend. Jacobi habe ich zum
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erstenmal kennen gelernt, ein edler lieber Mann, voll Geist u. Herzens, der sich aber
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selbst verzehret. Der Tod seiner Frauen hat ihn noch zuletzt ganz hingerichtet u.
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ich wünsche ihm, daß er sich erhole. An Ihnen hangt er sehr: ihre Schriften sind
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ihm Balsam; wie er überhaupt ein Mann ganz
vltra gustum communem
ist.
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Eine Bekanntschaft solcher Art muß die Last von dreißig andern ersetzen, die
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dörren u. krank
machen;
aber nichts geben u. von welchen wir seit einiger Zeit
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erstaunend leiden. Fast keine Woche ist seit
se
dem Frühling unser Bethlehem
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in Juda von Fremden leer gewesen, daß ichs fast nicht mehr ertrage. Die Fr. v.
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Reck ist noch nicht erschienen
und
da sie sich schon seit 4. 5. Monaten öfters
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vergebens durch die jungen Neanders hat anmelden laßen: so gehts ihr fast wie
34
l
der letzten Weltankunft bei den Spöttern,
u
sie wird nicht mehr geglaubet.
S. 247
Reichard ist nicht hier gewesen u. ich sende ihm Ihren Brief mit dieser Post nach
2
Berlin nach.
3
Den jungen Buchholz aus Münster kenne ich persönlich. Vor 3. oder 4. Jahren
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war er mit dem Statthalter hier u. ich gewann ihn, gleich aufs erste Ansehen,
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bei Hofe sehr lieb, daß ich ihn auch nach meinem Hause nahm u. meiner Frauen
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zeigte. Er blieb nur Einen Tag u. hat seitdem Einmal an mich geschrieben,
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worauf ich ihm leider! nicht geantwortet habe. Voriges Jahr hörte ich, daß er auf
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Reisen gewesen u. der Referent, der ihn in Mannheim lange gekannt zu haben
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vorgab, beschuldigte ihn der Schwärmerei mit Lavaters, Hemsterhuis, Ihren u.
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meinen Schriften. Nachher habe ich nichts von ihm gehöret. Er ist ein junger,
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liebenswürdiger Mensch, voll Innigkeit u. ganz außer der gewöhnlichen Weise.
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Er ist reich u. kann seinem Geschmack folgen. Ihr Zug hat Sie also nicht
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fehlgeleitet, u. ich wünsche, daß auch die Weißagung Ihres Herzens daß wir uns
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einander noch wiedersehen, prophetisch seyn möge. Es wäre für mich eine
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seltene u. einzige Freude; so wie für meine Frau u. Kinder. Gott gebs u. er giebt
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ja was uns gut ist.
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Wie soll ich Ihnen für die Mühe danken, mit der Sie mir Ihre Metakritik
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geschenkt haben. Es sind herrliche Fingerzeige drinn, ganz für die Ahndung meines
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innern Sinnes, der eben so sehr nach dem Ursprung u. Quelle der Sprache u.
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Weisheit schmachtet, wie Sie u. bei allen löcherichten Brunnen umsonst schon
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nach Waßer gesucht hat. Das Ende meines zweiten Theils der Ideen wird
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hierüber mein Herzensbekenntniß wagen; leider aber ist von diesem
2ten
Theil
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noch kein Wort zum Druck abgeschrieben worden: es liegt noch alles in
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Materialien u. dem ersten unvollkommenen Abriß begraben. Zerstreuungen u. das
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unselige Heer der Fremden, so wie mancherlei Verdrießlichkeiten u. Unmuth
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haben mir bisher Geist u. Herz so auseinander gescheucht oder
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zusammengeschnüret, daß ich zu keinem freien Gedanken Raum gehabt habe. Jeder der
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meinen Zustand kannte, würde sich wundern, daß ich noch eine Zeile zum Druck
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schreibe u. ich wundre mich selbst: so unzusammenhängend mit meinen
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Geschäften, so ganz ohne Lust u. Anmunterung ist meine armselige
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Autorbestimmung. Sie ist die Arbeit eines Taglöhners, der sich nach dem Schatten
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sehnet u. auch dieser, hoffe u. weiß ich, wird mir werden. Alsdenn
hänge
ich
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mein mit Tinte u. Druckerschwärze besudeltes Kleid dem Janus auf u. will
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meine Feder der heiligen Jungfrau weihen. Mitte Novembers hoffe ich meine
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Phantome zusammen zu suchen u.
will,
was unter ihnen Idee seyn möchte,
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mustern. Wünschen Sie mir Glück zur mühsamen Arbeit, die dem 2. u
3.ten
d. i.
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letzten Theil in reichem Maas bevorsteht. – Nichts hat mir dies Jahr gelingen
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sollen u. so ists mir auch mit dem Krittler u. Kräckler Hartknoch gegangen,
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nicht ohne meine Ahndung. Als er hieher kam u.
mit
meiner Frauen alle die
3
Anerbietungen
kam
that, die ich immer abzuwenden u. zu verreden suchte,
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sagte ich gleich u. sagte es immer neu: „ich kenne ihn; es ist mit ihm nichts.“
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Ich mußte mich recht dazu zwingen, ihm auf sein ewiges Vorwerfen u. Mahnen
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das Buch zu geben u. nun macht ers so. Meine Frau soll Ihnen den Vorgang
7
in extenso
schreiben: denn ich habe dazu nicht Zeit. Aber nur das Eine, daß Er
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eigentl. den Hohn u. Spott angefangen hat, nicht ich. – Nun, wie ihm sei. Die
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Ideen soll er haben; aber auch nichts mehr. Ich habe mit dem Buchdrucker
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bereits gesprochen u. wenn der
HE.
Verleger nicht schreibt, so schicke ich ihm, wenn
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das Buch gedruckt ist, einen höfl. Brief, daß wir
uns
mit einander abrechnen
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u. damit Gott befohlen. Das Symbol meines jetzigen fatalen Jahrs ist:
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vergiß, was dahinten ist; u. in dieser Lehre werde ich Schritt vor Schritt geübt.
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Gnug deßen!
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2. So sehr ich mich über die Sammlung Ihrer
Schr.
freue
n
, liebster H.,
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so ganz u. gar mißfällt mir der Titel = Saalbadereien; sie mögen auch
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Ursachen anführen, welche Sie wollen. Ich bitte Sie um unsrer Freundschaft
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willen: opfern Sie ihn mir auf: denn ihre Sokratischen Denkw. ppp gehören
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doch wahrlich nicht unter diesen Namen, der in der That die Wirkung des Buchs
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stört u. seinen reinen, wahren Gesichtspunkt hindert. Ich lege also ein
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förmliches u. feierliches Interdict drauf u. kanns thun, weil mein Kirchensprengel
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an die Saale grenzt u. ich alle Eingriffe in die Badereien derselben aus Recht
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u. Macht, auch des Eigenthums aller u. jeder
Saalbader
wegen, die zumal
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in Jena an ihr wohnen, verbieten kann. Alle Ihre vorigen Titel, zumal der
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ersten Schriften, sind so rein,
u.
ausdrückend u. gewählt, daß der Name der
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Sammlung ihnen entsprechen muß; u. gewiß ihnen entsprechen wird, wenn
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sie noch einmal dran denken. Ich sagte Claudius davon u. er war ganz meiner
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Meinung. Da nun in 2. oder 3. Zeugen Munde, alle Sache besteht: so
p,
halten
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Sie es für
conclamatum est
u. setzen einen andern Namen vor, deren Sie ja
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solche Menge in Ihrem tief ausdrückenden Herzen haben. Ich hoffe, Sie werden
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mich bald damit erfreuen oder ich bewege dagegen Himmel u. Erde. Mich freuet
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der Gedanke der Sammlung sehr; verändern oder verkürzen Sie doch aber
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nicht viel, u. beschenken sodenn mich u. Göthe, (der Ihre Schriftchen alle
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ungebunden in einer eignen Lade, wie in einem Heiligthum gesammlet hat) mit
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einem hübschen Expl. auf Postpapier. Ich wills wettmachen, wenn ichs zu thun
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vermag. Sobald Sie von Mendels. Aufnahme Ihres Golgatha etwas
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erfahren: so theilen Sie mirs doch mit. Uns, d. i. Göthe, Jacobi u. mir hat es herzl.
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Freude gemacht; von so verschiednen Seiten wir auch die Schädelstäte faßen
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mochten. Auch dieser Titel ist so außerordentl. schön u. paßend (Scheblimini
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verstehe ich nicht; wollen Sie mir wohl mit einem Wort Aufschluß drüber
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geben?) daß ich mich ärgre, daß
Golgatha
, (dem prächtigen Jerusalem
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entgegengesetzt) daß Kreuzzüge des Philologen u. f. E. unter jenen Titel kommen
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soll.
Also, lieber Gevatter, rein ab! rein ab mit dem Titel. Sie verzeihen auch
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meine Andringlichkeit, weil mir die Sache sehr anliegt u. der Titel, so wie unser
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Gesicht, Ausdruck des Innern seyn muß. – – Die
Mem. de Volt.
kann ich
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Ihnen leider! diesmal nicht schicken; mein Expl. hat Berlepsch mitgenommen
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u. sonst ist keins hier. Ich wills aber von Gotha aus baldigst besorgen.
Mem. de
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Volt.
ist der Titel, auch auf dem
Fr
Pariser
Expl.,
das ich zuerst gelesen
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habe; es kann indeßen seyn, daß noch ein anderer
Nachricht
Nachdruck unter
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obigem Namen, um den Lästerer
Volt.
zu schonen, vorhanden ist. Es sollen
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mehrere
Vies privées
von der Art vorhanden seyn z. E.
du Duc de Chartres
p
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deren keins ich aber gesehen oder zu lesen Lust habe. Man lieset nichts als die
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geheime Schande des Jahrhunderts. – Wollten Sie mir auf Ostern durch
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Hartkn.* oder wer sonst zur Meße geht, Mezgers Disput. von der
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Selbsterkenntniß schicken: so verbinden Sie mich; ich habe neulich seine andern Sachen
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gelesen oder vielmehr durchlaufen u. ohngefähr das über ihn geahndet, was Sie
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mir schreiben. Wenn irgend eine gescheute Rec. der Ideen in meinem
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Vaterlande, dem ich freilich
exsul
u.
extorris
bin, erscheint: so erinnere ich Sie an
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Ihr Versprechen. Es ist jemand hier, der die Rec. drüber aus Neugierde
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sammlet. – Mosers polit. Journal haben Sie doch gelesen? Er hat mir den ersten
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Theil zugeschickt, in den er ein Fragment von einem Briefe von mir namenlos
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eingerückt hat; ich hoffe, daß es Niemand kennen werde. Aber sein Buch über die
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Regenten müßen Sie ja lesen. Der jüngere
Sto
Graf Stolberg hat in dieser
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Meße:
Jamben
herausgegeben, in denen auch starke Stellen gegen die Götter
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unsres Jahrhunderts sind; doch wie mich
dünkt
mehr noch
aus
der
vollen
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jugendl. Brust als aus dem in der Mittagshitze der Trübsal gedörrten u.
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reifgewordnen Herzen. Und was hilft endlich alles Reden u. Keuchen? Sie lachen
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ins Fäustchen und sind,
die sie sind
, wie Joseph der Reformator u. am Ende
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jeder Narr in seinem kleinen Winkel. Mich graut, wenn ich für mich u. meine
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Kinder an die politische Zukunft denke!
Deus providebit.
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Nun liebster H., verzeihen Sie das Mengsel meines Briefes, das gnugsam
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von meinem armen u. leeren Kopf zeigt, so wie von meinem umhergetriebnen
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dürren Herzen. Gott laße uns dem neuen Kirchenjahr mit Freude
S. 250
entgegengehen u. das alte als einen Plunder von uns werfen. Der Himmel sei mit
2
Ihnen u. den Ihren, vorzüglich Ihrem ältesten Sohn, an dem Sie bald viel
3
Freude u. Trost haben mögen. Meine Frau, die jetzt auch eine Nichte bei sich hat
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u. also mit 7. Zweigen umkränzt ist, grüßet sie sehr u. wird selbst schreiben. Die
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Kinder sind so ziemlich u. empfehlen sich Ihnen, wie insonderheit Ihr Pathe,
6
der fleißig lernt u. zeichnet. Empfehlen Sie mich
Kant
u.
Scheffner
, an den
7
ich immer mit Hochachtung u. alter Freundschaft zurückdenke. Eine jugendliche
8
Fehde machte mich mit ihm bekannt u. ich habe einige Jahre lang viel angenehme
9
Briefe von ihm gehabt, bis meine Entfernung aus Riga mich auch ihm
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entfernte. Ich wünschte, daß da er als
Sulli
u.
Necker
nicht wirken kann, er doch
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als ein solcher schriebe: so machte er sich doch auf einige Art andern Entfernten
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gegenwärtig mit seinem Geist. Ist Ers nicht, der
den
etwas vom Guicciardini
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übersetzen wollte? – Leben Sie wohl, liebster H., u. laßen Sie mich bald etwas
14
von Ihnen lesen.
15
* Ich bitte ihm etwas Guts von mir zu sagen.
Provenienz
Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 29).
Bisherige Drucke
Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 200–204.
ZH V 246–250, Nr. 777.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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machen; ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: machen, |
246/32 |
und ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: u. |
247/32 |
hänge ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: hänge |
247/35 |
will, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: will |
247/36 |
3.ten ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: 3ten |
248/10 |
HE. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: HE |
248/15 |
Schr. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Schriften |
248/15 |
freue n |
Geändert nach der Handschrift; ZH: freue |
248/25 |
u. |
Geändert nach der Handschrift; ZH: u |
249/6 |
soll. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: soll: |
249/11 |
Expl., ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Exemplar, |
249/28 |
aus der ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: aus der |