765
206/22
Königsberg in Preußen den
7
Sept.
84.

23
Liebwerthester HErr und S
ohn,

24
Wie die Männer Benhadad (
I
Kön.
XX.
33) hab ich das Wort eilend von

25
Ihnen genommen und auf mich gedeutet. Ich habe Ihren Brief vom
7
Aug.

26
den
4
d. erhalten, und mache mir auch die erste Wärme des Einfalls zu Nutz,

27
um der feuchten Kälte
des hypochondrischen
Nachdenkens zu entgehen. Ein junger

28
Mann, den Lav. liebt, giebt mir wenigstens so viel Vertrauen, das Seinige nach

29
Vermögen zu erwidern. Wodurch ich Ihren Dank verdient, weiß ich nicht. Da

30
aber meine schon verwelkte Blätter noch in Ihrem frischen Andenken
sind,
so

31
werden Sie durch
HE.
Kl. (wie ich bestellt) das jüngste Kind meiner Wehen und

32
Schmerzen brüderlich aufnehmen, und vielleicht hinterher ein Verzeichnis der

33
Muttermahle und Makeln, womit es auf die Welt gekommen.

34
Ich habe den 27 des verfl. Augusts mein 55stes Jahr angetreten. Mein Vater

S. 207
war aus der Lausitz, meine Mutter aus Lübeck gebürtig. Sachsen und Schlesier,

2
Lübecker u Hamburger wurden als Landsleute von meinen Eltern angesehen,

3
und mein akademischer Umgang war vornehmlich mit Lief- und Ausländern.

4
Daher ich auch noch ein Fremdling in meinem Vaterlande hier bin. Meine

5
seelige Mutter
starb
entschlief 56 an einer Auszehrung, ehe ich eine Reise

6
durch Deutsch- u Holl- nach Engl. unter dem Mantel von Handlungsgeschäften

7
antra
f
t, die eben so vereitelt wurden, als meine vorgängige

8
Hofmeisterversuche in Lief- u Curl. – Mein seel. Vater war ein ziemlich allgemein beliebter

9
Wundartzt, Vornehmen und Armen unter dem Namen des
Altstädtschen

10
Baders
, der sein angenehmster
Titel
war, wohl bekannt. Er starb nach einigen

11
Anfällen von Schlagflus und vieljährigen Lähmungen 66, in eben dem Jahr,

12
da die Pest der welschen
Regie
ins Land kam – und hinterlies ein Vermögen,

13
das er blos seinem ehrlichen Fleiß und christlichen Glück, auch zum Theil der

14
Sparsamkeit unserer häuslichen und sorgfältigen Mutter zu verdanken hatte,

15
und ohngeachtet seiner Mildthätigkeit und Gastfreyheit für seine beyden

16
einzigen Söhne hinreichend und zulänglich gewesen wäre.

17
Eine stotternde Zunge und ich weiß nicht was in meiner Seele vereckelte mir

18
alle öffentl. Geschäfte und feyerlichen Umgang; jedermann glaubte dafür, daß

19
mein jüngerer Bruder einen desto entschiedeneren Beruff zu einem geistl. Amte,

20
dem heil. Ehstande und seinem zeitlichen Fortkommen hätte. Ich baute also im

21
voraus darauf, einmal das Gnadenbrodt in seiner Familie zu eßen, und an

22
ihrer Hut, Erziehung und Gesellschaft auf meine alte Tage den nächsten Antheil

23
zu nehmen. Dieser Lieblingsgrille habe ich viel, und hätte beynahe
alles

24
aufgeopfert. Eine Melancholie und eigensinnige Krankheit bemächtigte sich dieses

25
einzigen Bruders, und ich wurde zuletzt genöthigt sein Vormund zu werden,

26
und zur Erhaltung seiner Person, seines ganzen und meines halben Vermögens

27
das erste das beste Amt zu ergreifen.

28
Pour la rareté du fait
und aus philosophisch-patriotischem Vorwitz wurde ich

29
67
französischer Uebersetzer
bey der hiesigen
Provinzial Accise
u Zoll

30
Direction.
Ein geheimer Instinct zu dieser Sprache vor allen übrigen kam mir

31
zu statten; nunmehr hab ich allen Geschmack daran verdorben und verloren.

32
Ein noch geheimerer Instinct führte ein Landmädchen in meines Vaters Haus.

33
Ihre blühende Jugend, eichenstarke Gesundheit, mannfeste Unschuld, Einfalt

34
und Treue brachte in mir eine solche hypochondrische Wuth hervor, welche weder

35
Religion, Vernunft, Wohlstand, Arzney, Fasten, neue
Reisen
und Zerstreuungen

36
überwältigen konnten. Diese Hamadryade wurde die einzige, liebste und beste

37
Stütze meines alten, gelähmten verlaßenen Vaters, und seine Pflegtochter, der

S. 208
ich ihn und sein ganzes Haus anvertrauen konnte. Sie wurde nach seinem bittern

2
Tode meine Haushälterin und ist die Mutter meiner vier natürlichen und

3
Gottlob! gesunden und frischen Kinder.

4
Daß eine reiche, weiche Erziehung unsere Bedürfniße vermehre, weiß ich aus

5
leidiger Erfahrung. Meine seel. Eltern haben an unserer intellectuellen

6
Erziehung besonders verschwendet, keine Früchte ihrer Aussaat erlebt und es

7
unschuldiger Weise in 2 Stücken versehen. Mein Vater, wenn er sich den ganzen

8
Tag unter Patienten von jedem Stande müde geplackt hatte, liebte sehr

9
häusliche Gesellschaft und alle Freyheit eines vertrauten Umgangs, besuchte kein

10
öffentliches Haus, gieng fast gar nicht oder ungern zu Gast und
w
hielt streng

11
auf die Ordnung seiner Lebensart und Hausgenoßen; unsere Mutter war wegen

12
ihres kränklichen Leibes und weitläuftigen Wirthschaft noch mehr einheimischer.

13
Wir wurden also fast gantz dem öffentl. Umgange entzogen und dafür durch

14
alle häusliche Gemächlichkeiten und Freuden eines bürgerlich behaglichen

15
Wohllebens schadlos gehalten. Das zweite Versehen bestand darinn, daß uns fast kein

16
Taschengeld anvertraut wurde, daher ich auch bis auf diese Stunde äußerst

17
unwißend, verlegen und ungedultig bin bey allen
Geld-
Handel- und

18
Wandelangelegenheiten. Ich habe 2 Häuser mit Verlust des halben Capitals mir vom

19
Halse geschafft und hange noch mit dem dritten und letzten, das ich weder los

20
werden noch auf sichere Zinsen davon rechnen kann.

21
Endlich wurde aus einem welschen Charon und Uebersetzer 777 Königl.

22
Packhofverwalter
beym hiesigen
Licent
mit einem Gehalt von 25 rthlr. des

23
Monaths, freyer Wohnung, davon mir aber die welsche
Regie
oder
General

24
Administration
die
Hälfte
entzogen und seit beynahe 2 Jahren das einzige

25
rechtmäßige
Emolument
einer seit undenklichen Zeiten uns zum Antheil des

26
Salarii
bestätigten Schiffabgabe, welche unter dem holländischen Namen
Fooi-

27
d. i.
Bier
- oder
Trinkgelder
bekannt ist. Noch bin ich Gottlob! ohne

28
Schulden; wo ich aber künftig Jahr Geld zu Brief
porto,
Holtz, Kleidung und

29
Unterhalt meiner Kinder hernehmen soll, weiß ich nicht, bin kaum einen Heller im

30
stande zu ihrer
Erziehung
(welcher ihre ehrliche Mutter nicht gewachsen ist

31
besonders in Ansehung der Töchter) anzuwenden und gehe daher mit halsbrechenden

32
Entwürfen der Selbsterhaltung, Nothwehr und Verzweifelung schwanger, habe

33
schon den 1 Jänner 83 ins Cabinet geschrieben, ohne einer Antwort gewürdigt zu

34
seyn – der Philosoph von S. S. verstopft seine Ohren gegen alles Schreyen

35
seiner Unt
h
erthanen
u
Zollbedienten über die Schelmereyen,

36
Ungerechtigkeiten p
seiner heillosen Beutelschneider und Windbeutel von Plusmachern.

37
Ist dieser reine Wein der Wahrheit nach Ihrem Geschmack: so sind Sie dem

S. 209
unverdienten Vater Ihrer Wahl herzlich
willkommen:
Eine Sommerstube – ein

2
kleiner Hayn Mamre,
ein
e
verwilderter Geköchgarten und die Aussicht einer

3
Stadtwiese steht zu Ihrem Befehl und Diensten. Für Tenne und Kelter u.s.w.

4
ist Ihre eigene Sorge.

5
Mein einziger Sohn Johann Michael ist 69 den 27
Sept.
geboren, lebt seit

6
länger als einem Jahr auf einem Landgute 4 Meilen von hier,
Graventihn
,

7
das einem
Kriegsrath
Deutsch gehört, der als künftiger Erbe deßelben vor kurzer

8
Zeit aus Potsdam ins Land gekommen, und ein einziges Kind, einen Sohn

9
gleichen Alters mit dem meinigen hat. Dieser ist bereits im vorigen Jahr

10
eingeseegnet und diesen Frühling immatriculirt worden und hat sich der

11
Arzneykunde zu meiner großen Zufriedenheit gewiedmet. Sein guter Fortgang im

12
Griechischen
, das er vor dem
Latein
gelernt und zu seiner Facultät nicht

13
eben so nöthig
gehört
scheint als das arabische, wozu ich ihn durch das

14
Hebräische
schon ziemlich vorbereitet – ein Anfang im
Pollnischen
zum

15
Correctiv
der Erbsünde seiner Zunge – oder auch zum künftigen Fortkommen

16
in den gelobten Ländern für die Artzte (Pohlen u Rußl) – und noch mehr

17
Fähigkeit das Engl. zu verstehen, ist alles was ich von ihm zu sagen weiß. Ich

18
erwarte seine Widerkunft, die von der bevorstehenden Versorgung des

19
Hofmeisters abhängt, der ein geschickter
Cand. Th.
u naher Blutsfreund des

20
berühmten
Schellers
zu Brügg ist – um das Französische mit ihm und

21
wenigstens seiner ältesten Schwester von neuem anzufangen. Diese heißt
Lisette

22
Reinette
ist 72 den 12 Apr. am Palmsonntage geboren, hat einen Anfang auf

23
dem Clavier und in dem Ital. gemacht u dies einem jungen Freunde
Hill
zu

24
verdanken, der gegenwärtig eine Wallfahrt zu Fuß nach Venedig anstellt. Lehne

25
Käthe ist 74 den 2
Dec
geboren kann mit genauer Noth lesen und die jüngste

26
Marianne Sophie noch nicht buchstabieren. Diese kam 78 den 18 Nov. zum

27
Ersatz meines Bruders, den ich an meinem Geburtstage deßelben Jahrs

28
begraben ließ, nachdem er sich selbst und mir lange gnug zur Last gelebt, aber

29
durch
sein
e
über ihn verhängtes träges Mönchsübel mich wider meinen Willen

30
thätig, geschäftig, gesellig und fruchtbar gemacht hatte.

31
Da ich wie jener komische Vater auch sagen kann:
Homo sum
– und etwas

32
endlich
zu handeln gewohnt bin, muß ich Ihnen noch melden, daß Ihre

33
Adoption
bereits vorigen Sonntag
Dom
XIII.
p Tr.
zwar feyerlich aber

34
zugleich
anony
misch bey Gerichten, die einer hypochondrischen Verdauung nicht

35
günstig sind, vollzogen, und von meinen 3 Parcen ihres neuen Herrn Bruders

36
Gesundheit in Kirschwein getrunken worden. Der kleine Johann Michel

37
taugt noch eben so wenig zu Ihrem Arzte als zu Ihrem Correspondenten, und

S. 210
uns beyden fällt das Schreiben oft noch schwerer als Reden, und beide sind eben

2
so sehr an eine strenge Oekonomie
dieser
ihrer Stunden und Kräfte gebunden.

3
Ist Ihre
Furcht
der Weisheit Anfang, und Ihr
Glaube
derselben Ende: so

4
wird Ihre Hoffnung auf Hülfe, und kein Werk Ihrer Liebe zu Schanden werden

5
noch verloren seyn. Mehr Beweise von meinem theilnehmenden Herzen bin ich

6
nicht im stande vor der Hand zu geben, kaum einen Rath, der Ihrer mir zu

7
unbekannten Lage und übrigen Verhältnißen angemeßen seyn könnte. Ich werde

8
übrigens Ihr unverdientes Vertrauen zu keinen eigennützigen Absichten

9
misbrauchen,
und
bin eben so wenig gewohnt
Pflichten
meinem eigenen Geschmack

10
als meines Nächstens seinem Preis zu geben, und bekenne mich nochmals durch

11
jede väterliche und brüderliche Gesinnung, der ich fähig bin,   für   Ihren

12
aufrichtig ergebenen Freund und Diener

13
Johann Georg Hamann,

14
den 7
Septbr
84.   
Packhofverwalter bey dem Königl. Licent zu

15
Königsberg in Preußen.

16
Adresse:

17
Des / Herrn Franz Bucholtz, / Herrn von Welbergern, / Hochwolgeboren / zu /
Münster
. / in Westphalen.


18
Vermerk von Bucholtz :

19
7. 7
br.
84.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1841a

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 160–165.

Ludwig Schmitz-Kallenberg (Hg.): Aus dem Briefwechsel des Magus im Norden. Johann Georg Hamann an Franz Kaspar Bucholtz 1784–1788. Münster 1917, 1–6.

Walther Ziesemer: Hamannbriefe. In: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft 7 (1942), 140–145.

ZH V 206–210, Nr. 765.

Zusätze fremder Hand

210/19
Franz Kaspar Bucholtz

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
206/22
7
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
7.
206/25
7
Aug.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
7. Aug.
206/26
4
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
4.
206/27
des […] hypochondrischen]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
hypochondrischen
206/30
sind,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
sind:
206/31
HE.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
HE
207/35
Reisen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Reise
208/17
Geld-
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Geld-,
208/26
Fooi-
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Fooi
208/30
Erziehung
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Erziehung,
208/35
u
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
und
208/36
Ungerechtigkeiten p
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Ungerechtigkeiten
209/1
willkommen:
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
willkommen.
209/2
ein
e
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ein
209/7
Kriegsrath
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Kriegsrat
209/29
sein
e
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
sein
209/33
XIII.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
XIII
210/9
und
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
und
210/16
–19
Adresse:Des […] 84.]
Hinzugefügt nach der Handschrift.