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        153/14
Königsberg den 10 May 84.
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Geliebtester Freund, 
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Ohngeachtet ich durch Einschluß an HE Hartknoch vorige Woche ein paar 
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Zeilen an Sie befördert, erhalte ich heute den 
ersten
 Gruß von Ihrem 
Neveu
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durch 
HE.
 Stadtrath Wirth, den ich wegen einer Angelegenheit besuchen muste 
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und im Heimwege begegnet mir HE. 
Assessor Hoppe,
 der eben an Sie schreiben 
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will u noch ein Plätzchen übrig hat. Ich glaube, daß Sie die genaueste und 
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zuverläßigste Nachricht wegen der Umstände Ihrer alten würdigen Frau Mutter 
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bereits werden erhalten haben; und weiß dem, was ich damals gemeldet nichts 
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mehreres hinzuzufügen. Um Sie nicht durch das schwarze Siegel des 
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Morungschen Briefes ohne Noth zu beunruhigen, habe darin rothes entgegen gesetzt. Sie 
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werden sich aber auch wol eines schwarzen 
sich
 ehstens gewärtigen müßen; 
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und dafür Gott danken können und müßen, als den einzigen Weg der Erlösung 
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von allem Uebel des Fleisches. Allem menschl. Ansehen nach wird die letzte 
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Auflösung durch einen sanften Schlaf geschehen. Sie sieht alle Tage im Kalender 
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und berechnet vom 
dato
 Ihrer Abreise – Dies ist der einzige Zeitvertreib, der Ihr 
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noch übrig ist; denn zu lesen und zu schreiben scheint Sie gar nicht mehr 
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vermögend zu seyn. Von den Besuchen des Regim. Feldsch. und ihrer guten 
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Wirkung hab ich schon neulich gemeldt. Nun ich hoffe, daß Sie uns nicht mehr so 
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lange auf Nachrichten werden warten laßen und uns auch vom 
Termin
 Ihrer 
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Abreise einen Wink bey Zeiten ertheilen werden, um uns darnach richten zu 
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können. 
S. 154
Ich habe vor kurzem das allgemeine Tolerantz und Religions System des 
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von 
Großing
 gelesen, an deßen schwärmerischen Autorschaft ich einigen 
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Antheil nehme und heute fallen mir ein paar Bogen in die Hände: 
Geschichte 
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der Abrahamiten, Israeliten und Deisten
 in 
Böhmen
. 
Vielleicht
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erhalten Sie auch ein paar Bogen 
nach
 der Meße: 
Golgatha
 und 
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Scheblimini
. (So nannte Luther sn 
Spiritum familiarem.
) Christenthum u Luthertum 
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dem Judentum u der Philosophie entgegengesetzt, 
i. e.
 des berlinschen 
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Hebräers u Sophisten. 
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Ein schreckl. Gott gebe ungegründetes Gerüchte läuft hier von einer 
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Verwüstung zu Neapolis durch ein Erdbeben. Die Dengelsche Zeitung hat es schon 
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angemeldet. Alle übrige Grüße habe bestellt; aber nicht an Dengel weil er schon 
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zur Meße abgereist war und wie ich gehört Sie an ihn selbst geschrieben. HE 
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Stadtrath Wirth freute sich auch gute Nachrichten von Ihnen zu hören – Die 
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Zeugniße aus Berl. sind sehr widersprechend. Ich zweifele, daß der Vater den 
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rechten Weg mit sm Sohn eingeschlagen, und vermiße Lauterkeit in seinem 
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gantzen Betragen, das mich Gottlob! weiter nichts angeht. Daß der gute 
Lieut.
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in Steinbeck gestorben, habe Ihnen auch wol gemeldet. Der Kopf war mir so 
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wüste, wie gewöhnlich – und noch mehr bey der damaligen Eilfertigkeit, daß 
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Sie mir 
redites
 zu gute halten müßen. 
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Die herzl. Gegengrüße von unsern gemeinschaftl. Freunden und den 
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Meinigen. Vielleicht bekomm ich bald meinen Sohn wider vom Lande zu Hause durch 
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Versorgung seines Hofmeisters HE Scheller, wozu HE Stadtr. Wirth mir das 
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Seinige beyzutragen versprochen, weil Cammerdir. 
v
 Domhart das 
Patronat
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der Kirche hat. 
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Gott gebe Ihnen Gesundheit und Zufriedenheit mit Ihrem gegenwärtigen 
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Aufenthalt und ein wenig 
Heimweh
 zur Anwendung mit Ruhe, und theilen 
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dann auch meinem Johann Michel von Ihren Erfahrungen u Beobachtungen 
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mit, den ich gern mit Griechisch u Arabisch zu einer Wallfahrt nach Holl. 
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auszurüsten wünschte, wo ihn 
Capt.
 von Hogendorp an 
Camper
 empfohlen. Zu 
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Anfang dieses Jahres habe einen Brief vom Kap der guten Hoffnung erhalten, 
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davon ein Stück in der Berl. Monatsschrift befindl. ist. 
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Erfreuen Sie uns bald mit Nachrichten, bey denen ich immer ein wenig 
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Motion
 aber wenig 
Trost
 gewinne; denn das laute Reden 
wird
 mir so sauer 
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wie Ihnen, und noch schwerer, die Erinnerungen zu erneuern und ins klare zu 
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bringen. Ich umarme Sie unter Anwünschung alles Göttl. Seegens zu 
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Erreichung Ihrer Absichten. Vergeßen Sie nicht Ihren 
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alten Freund JGHamann.
S. 155
Adresse mit Mundlackrest:
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Des / HErrn Doctor Lindner / Wolgeboren / zu / 
Wien
.
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von G. I. Lindner vermerkt:
4
den 10. 
May.
Provenienz
 Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 4. 
Bisherige Drucke
 ZH V 153–155, Nr. 741. 
Zusätze fremder Hand
| 155/4 | Gottlob Immanuel Lindner | 
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
                geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
                vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
                vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
                Quellen verifiziert werden konnten.
            | 153/18 | HE.] |   Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:  HE | 
| 154/23 | v] |   Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:  v. | 
