740
150/26
Vermerk von Hamann:
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den 10 May 84.
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Erhalten den 28 –
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Hier haben Sie, liebster bester ältester Freund, den ersten Theil meiner
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neugebackenen Philosophie der Geschichte. Kein Wort vom alten steht bisher drinn
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u. die Grundlage ist so weit u. tief umhergeholt, daß mich vor der Ausführung
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des Baues selbst grauet. Gott wird
daß
indeß den guten Willen für die That
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nehmen u. wenn es seyn soll, werde ich mit dem Buch zu Ende kommen, deßen
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Fortgang aus diesem Anfange noch schwer zu errathen stehet. Keine Schrift in
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meinem Leben habe ich unter so vielen Kümmernissen u. Ermattungen von
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innen u. Turbationen von außen geschrieben, als diese; so daß wenn meine
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Frau, die eigentlich
Autor autoris
meiner Schriften ist u. Göthe, der durch einen
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Zufall das erste Buch zu sehen bekam, mich nicht unabläßig ermuntert u.
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getrieben hätten, alles im
αδης
der Ungebohrnen geblieben wäre. Ich dürste u.
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verlange nach Ihrer Meinung. Daß ich in die Grundsätze u. manchmal in die
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Flitterbeschäftigungen unsrer Zeit habe eingehen müßen, als ob sie große Sachen
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wären,
muste
ich, um Platz zum folgenden zu gewinnen u. von dem Punkt,
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worauf jetzt alle Naturgeschichtschreiber als die Lieblingsautoren unsres
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Viertheil Jahrhunderts (zumal in Frankreich, das durch Helvetius,
Büffon
etc.
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etc. etc.
Gesetze giebt,) stehn, nur allmälich wegzulenken. Lesen Sie also, alter
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reiner Prophet, mit Geduld u. Schonung, ohne doch Ihrer Strenge etwas zu
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vergeben u. erfreuen, belohnen u. ermuntern Sie mich mit einem Nachhall, er
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sei wie er wolle, aus
Ihre
n
r
lieben Brust. Ich habe hundertmal gedacht: was
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wird Hamann zu dem u. jenem wißenschaftlichen Kram sagen u. muste doch
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fortfahren, ihn auszupacken um dem Jahrhundert in seinen eignen Tönen ein
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ander Lied vorzusingen oder vorzupfeifen. Im Grunde enthält das Buch nichts
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als das Resultat des 1ten Th. der Urkunde nur auf andern Wegen. Doch was
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weiß ich: ein Autor kann u. sollte nichts von der Frucht seiner Gedanken so
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wenig als von seinem eignen Gesicht sagen. Könnte ich unsichtbar Ihnen zur
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Seite stehen, wenn Sie das Buch lesen u. mit Ihnen sprechen u. nur Ihre
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Minen lesen! Aber Sie werden mir Ihre Gedanken sagen u. das wird mich zu
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Ihnen rücken u. mir auch auf den Verfolg Winke geben. Mahomend fängt eine
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Sura seines Korans an: Lob dem Barmherzigen Gott: er hat die
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Schreibfeder dem Menschen gegeben; er gebe
S
sie auch Ihnen!
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Vielleicht bringt mir Hartknoch von Ihnen mit, warum ich Sie so herzlich
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gebeten habe. Und wären es auch nur Linien u. Geberden: sie werden mich
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erqvicken, wie der Regen ein dürres Land, Sela.
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Meine Frau, die den ganzen Grönländischen Winter durch gekrankt hat,
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beßert sich Gottlob u. ich hoffe, die langsam rückkehrende Sonnenwärme werde
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auch
ih
n
r
kleines Fünkchen
Glut
u. Lebensmuth wieder anfachen u. erneuren.
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Es ist beinah der einzige, wenigstens der sehnlichste Wunsch den ich von
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irrdischen Wünschen habe.
Ich
bin mir selbst ganz unkänntlich worden, meine
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Flügel sind gelähmt, ihre Schwingen ausgerupft u.
ist
stehe wie Kleists lahmer
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Kranich am dürren Meeresufer oder vielmehr ich liege wie Lazarus unter den
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Todten. Meine Bande mit Menschen sind ziemlich abgeschnitten oder durch den
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Fraß der Zeit verzehrt. Den Winter über hat sich Göthe, der auch in seiner Seele,
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aber großmüthiger als ich, leidet sehr freundlich u. mit seiner alten Biedertreue
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zu uns gethan: wir sind meistens alle Woche einmal bei ihm; aber doch alles
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ohne mich zu erquicken u. zu erwärmen.
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Und was machen Sie, gebundener Prometheus? Wie stehts mit den Ihren u.
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mit Ihrem Sohn
e
? Die Meinigen sind ziemlich wohl u. ihr Anblick u. bei
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allen Unarten ihre gute Hoffnungen sind uns die einzige Freude.
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In der Schweiz trägt man sich mit der
Nachricht.
Sie hätten eine Schrift
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„Zuruf an Arme“ geschrieben. Müller hats mir gemeldet; der Titel scheint
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nicht Ihrer Art u. Manier zu seyn; auch hätten Sie mir etwas davon geschrieben.
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Mosers Schr. über Regenten, Regierung u. Minister werden Sie gelesen
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haben. Er ist sich ganz gleich u. scheint mir (wir sind aber noch nicht weit
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darinn) sich in leichter Laune selbst übertroffen zu haben. Was hilfts aber?
cui
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bono?
Zu seinem Christl. politischen Journal wird er Sie wahrscheinlich auch
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eingeladen
zu
haben.
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Sonst weiß u. kenne ich von Neuigkeiten noch nichts, weil ich des Schreibens
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u. Lesens auf einige Wochen satt bin. Klopstocks Herm. u. die Fürsten sind ein
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ausgeklügeltes Spinnengewebe. Ich denke an nichts, als auf meiner Bahn
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fortzuschreiten u. so Gott mir Glück u. dem geschornen Schäflein meines
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Hauses, Schooßes u. Bechers, nach dem Trost der Maria des Yoriks einen
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linden warmen Wind giebt, den 2ten Th. meines Buchs, der geschrieben daliegt,
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auf Michael zu vollenden. So ist die Hälfte wenigstens zu Stande.
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Vielleicht schreibe ich Ihnen bald Nachrichten, die Sie wundern oder freuen
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werden (ich wünsche u. hoffe das Letztere) von denen jetzt aber keine Sylbe über
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meine Zunge will.
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Lavat. ist sehr krank gewesen; aber beßer. Häfeli geht als Hofprediger nach
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Deßau. Johannes Müller ist in der Schweiz u. befindet sich sehr wohl. Sein
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Bruder, das Reh auf den Bergen, noch muntrer u. beßer. Claudius lebt nach
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seiner Weise fort: seine Frau ist auch gesunder. Leuchsenring ist Instructor des
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Prinzen von Preußen worden u. man erzählt vom alten Monarchen das Bon-
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Mot, das er ihm als Instruction gegeben: „er solle u. dörfe
n
mit ihm machen,
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was er wolle, ihn lehren, was er für gut finde nur von
Religion
u.
Liebe
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solle er ihm kein Wort sagen.“ In Deutschland, wenigstens im Katholischen,
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werden sich bald sonderbare Dinge hervorthun, wenn es wahr ist, was man
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sehr gewiß sagt, daß Maximilian nicht Priester werden, oder als Priester
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heirathen will
etc.
Die Zeit ist schwanger, muß man mit Hamlet sagen, u. ihre
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Geburt wird der Analogie der Witterung nach, so gar liebenswürdig nicht seyn,
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wenigstens wird es ohne Kreissen nicht abgehn. Gott rette uns nur u. erhalte uns
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sicher u. führe uns, die wir keine Erzbischöfe u. Kurfürsten werden können, in
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eine Hütte der Ruhe u. des neuen Lebens. Amen. Gott empfohlen. Amen.
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Schreiben Sie bald bester Freund; es ist das 2te Exemplar, was aus meiner
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Hand komt u. das Erste, was ich vom 1. Bogen an für Sie abgelegt habe.
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Gott empfohlen. Ihr ewigtreuer
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H.
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Adresse mit Siegeln (M.C.H.):
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HErn. / HErn.
Hamann
/ Aufseher des Königl. Packhauses / in
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Königsberg
/ in
Preußen
. /
nebst einem Päckchen Bücher
fr. Berlin
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Vermerk von Hamann:
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den 28 May 84.
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Geantw. den 7–9 Aug.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 261–262.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 135–139.
ZH V 150–153, Nr. 740.
Zusätze fremder Hand
150/27 –28
|
Johann Georg Hamann |
153/12 –13
|
Johann Georg Hamann |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
151/11 |
Büffon ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Büffon, |
151/15 |
Ihre n r ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Ihrer |
151/32 |
ih n r ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ihr |
151/32 |
Glut ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Gluth |
151/35 |
ist ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ich |
152/8 |
Nachricht. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Nachricht: |
153/10 |
fr. Berlin |
Hinzugefügt nach der Handschrift. |