738
143/2
Königsberg den 2 May
Dom. Iubilate
84.

3
Herzlich geliebter Freund, Ich habe kein Jahr auf Hartknoch so ängstlich

4
gewartet und schickte alle Tage mich nach seiner Ankunft zu erkundigen; dennoch

5
wäre er mir beynahe entwischt, und ich hätte ihm weder Ihre Einlage noch die

6
übrigen Aufträge, die gantz zufällig von allen Seiten gekommen waren,

7
mittheilen können. Den 29
pr.
kam er Nachmittags an und fuhr noch denselben

8
Abend ab. Gegen 7 erfuhr ich erst ganz von ohngefehr, daß er hier war. Ich

9
hatte ein paar Stunden auf dem Bette zugebracht und war schon ganz

10
ausgezogen, warf mich gleich in Kleider und lauf zu ihm hin. Er war ausgegangen –

11
Neue Unruhe, daß er den Weg zu mir genommen, neue Bedenklichkeit, daß er

12
mich vielleicht nicht sehen wollte, weil HE
Toussaint
ohngeachtet seines

13
Versprechens und meiner widerholten Erinnerungen seine Ankunft mir melden zu

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laßen, gar nicht daran gedacht. Ich wollte schon wider umkehren und blos

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Ihren Brief abgeben mit der Anzeige, daß mir dieser vornehmlich auf dem

16
Herzen gelegen hätte, und ich alles übrige schon in den Wind schlagen müste.

17
HE
Toussaint
versicherte mir, so gl. einen Burschen nach dem
Licent

18
abgefertigt zu haben, welches auch wirklich bestellt, aber durch die Schuld der Leute

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unterlaßen worden war. Auf sein Zureden ein wenig zu verweilen, weil er gleich

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zurück kommen müste und der Abgang der Post nahe wäre, legte sich mein

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Unwille und Verdacht. Kurz er kam, und wir hatten kaum eine halbe Stunde Zeit

22
übrig, unter vieler Unruhe ein wenig mit einander zu plaudern. Ihre
Einl
. ist

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also treulich bestellt und der Innhalt empfohlen. Gegenwärtige hatte ein paar

24
Tage zuvor erhalten unter einem Umschlage von Ihrer lieben Frau Schwester,

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welche in einer eben so ängstlichen Verlegenheit auf Antwort von Ihnen u dem

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jungen Neumann wartete, an den ich im Februar eine Einl. erhalten, die treul.

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befördert war. Da haben Sie ihre eigene Worte:
Ich weiß nicht, was ich

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denken soll. Ich schreibe gantz ins Ungewiße, indem Sie in

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Morungen todt sind, aber wie ich hoffe in Kgsb. noch leben. Ich hatte Ihnen

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viel zu schreiben, weil aber nicht weiß, an wen der Brief kommt – – so

31
bitte ich herzl. den Erbrecher dieses Briefes wenn nicht aus Liebe

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zu meinem lieben Bruder, den Sie vielleicht nicht kennen, so bitte

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ich, thun Sie es aus Liebe für den HE Hamann – (seelig
hat sie noch

34
nicht zusetzen wollen)
und besorgen den Brief daß er je eher je beßer

35
auf die Post komt
. Ich antwortete ihr gleich mit der Post
in puncto
meines

36
eigenen Lebens, und daß ich dem ohngeachtet die Abfertigung des Briefes

S. 144
nicht eher thun könnte, bis Hartknoch
s
Ankunft oder Ausbleiben entschieden

2
wäre. Mit der gestrigen Post hab ihr wider geschrieben, daß Neumann sich in

3
Riga ganz gut und nach Wunsch befindet, sein Herr mit ihm zufrieden u er es

4
auch mit ihm ist. Daß Hartknoch keine Antwort mitgebracht, wär blos

5
Leichtsinn und Abneigung für Briefwechsel. Er käme fleißig zu Hartknoch, der aber

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mit seinen Geschäften bisher den Kopf so voll gehabt, daß er ihn nicht zum

7
Schreiben und Antworten hätte anhalten können, welches künftig geschehen

8
würde. Unterdeßen ist es mir doch kein
gutes Kennzeichen von dem
jungen

9
Menschen, die mütterl. und
S
zärtliche Sorgfalt seiner Muhme nicht durch

10
eine kleine Antwort erkannt zu haben. Ich habe Ihrer Frau Schwester alles

11
nöthige aus Ihrem letzten Briefe vor der Hand zu Ihrer Beruhigung

12
mitgetheilt und Ihr zu einer baldigen Antwort auch von Ihnen Hoffnung gemacht.

13
Daß
Skubich
todt ist, hab ich Ihnen vermuthl. gemeldt. Sie können von der

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Wittwe leicht urtheilen, weil die alte Großmutter, die Cons. Räthin Lindner,

15
keine Lust hat sie hier zu haben, so nöthig sie auch die Pflege eines Großkindes

16
hätte. Ihre liebe Frau Schwester
scheint aber noch mehr auf dem Herzen

17
zu haben
, deßen Mittheilung ich erwarte, wenn ich oder meine Freunde mit

18
Rath u That zu dienen behülflich seyn können.

19
Da ich die Weitschweifigkeit eines alten Mannes in meinen Erzählungen

20
liebe: so muß ich noch einen Umstand anführen, ohne den mir Hartknoch gewiß

21
entgangen wäre. Denselben Tag wie er ankam, erhalte ich einen Brief gantz

22
unerwartet von Hintz, bisherigen Advocat u Notar zu Hasenpoth, der mir seine

23
Ankunft in Königsberg anmeldt in wenigen Zeilen. Vor Freuden lauf ich zur

24
Gevatterin
Courtan
und versäume nicht meine Unruhe auch anzuführen in

25
Ansehung ihres Schwagers. Sie meldet mir den Tag vorher bey ihrem Bruder

26
Toussaint
einen Pathen gehabt zu haben, und denselben Nachmittag zu ihrer

27
ersten Pathin feyerlich eingeladen worden zu seyn. Sie kommt von ihrem

28
Staatsbesuch zu Hause, kleidt sich aus und darauf erfährt sie von dem
Musico

29
ihrer Familie, daß Hartknoch angekommen; ist bey ihrem Bruder

30
vorbeygefahren, der ihr einen Kuß zugeworfen ohne ihre Kutsche anzuhalten – noch die

31
geringste Nachricht in ihrem Hause von des Schwagers Ankunft gefunden zu

32
haben. Voller Verdruß schickt sie ihren Sohn, der bey Hintz über ein Jahr in

33
Pension gewesen, wie einen
Courier
nach dem
Licent
ab, und wie ich zu Hause

34
kam, find ich einen Boten aus dem Dengelschen Buchladen mit eben der

35
Nachricht, die aber für mich zu spät gekommen wäre, weil es schon über 8 war. Wenn

36
Hintz nicht geschrieben, hatte ich vielleicht Hartknoch nicht zu sehen bekommen.

37
Gestern komm ich von der Post zu Hause, nach meiner Gewohnheit, von
Schweitz

S. 145
benetzt, steh mit nacktem Kopf, den mir die Mutterchen abtrocken und reiben

2
muß – wie 2 Mädchen mich überraschen,
Me Courtan
Tochter
und
eine

3
Fräulein die sie in Pension hat, um meine Kinder zu besuchen mit einer feyerl.

4
Einladung zu ihr zu kommen. Ich konnte nicht ausschlagen und muste wider meinen

5
Willen
ausgehen,
da ich mir vorgenommen hatte den 1 May mit einem Briefe

6
an Sie einzuweihen. Da hab ich einen
jungen liebenswürdigen Menschen

7
Jachmann einen
amanuensem
des Kant, der
Medicin
studiert und den ich zum

8
Freunde meines Sohns ausgesucht an Hill’s Stelle der schlechterdings
a la

9
Reiske
wandern wird diesen Sommer – kennen gelernt, der einem Curländer

10
das Geleit gegeben u mir zu erzählen wuste, daß Hintz seinen Laden an

11
Hartknoch verkauft u junge HErren auf Reisen führen würde. Ich vermuthete, daß

12
er als Advocat nach Warschau oder als
Maçon
in Geschäften nach

13
Braunschweig gienge. Die Wahrheit wird sich bald finden.

14
Ohngeachtet alle meine
Meßfreuden
auf Hartknochs Reise beruhten: so

15
verleugnete doch alles, und war nur wegen seiner Gesundheit oder eines

16
Unglücks wegen des erschreckl. Weges zu der damaligen Jahreszeit besorgt, und

17
verlangte nur
Gewißheit
, um mich darnach einrichten und Sie bescheiden zu

18
können. Ich habe das wichtigste Gottlob! mit ihm in der halben Stunde

19
verabreden können und verspreche mir desto mehr Zufriedenheit bey seiner Rückkunft.

20
Er ist das einzige
Vehiculum
meines
Iubilate
von der Meße, wenigstens
Ihre

21
Schriften
und der
Zehnte
seines Verlages ist mir sicher.

22
Am lieben
Palmsonntage
– der
mi
t
r
lieber geworden, seitdem er mir meine

23
älteste Tochter gebracht – kam Ihr Brief und einer von Reichardt an – Nun der

24
das
Leben
giebt,
wird
,
auch alles was dazu gehört uns schenken – und
Erndte

25
wird auch erfolgen zu seiner Zeit, wenn gleich die
Sichel
eben so müde macht

26
und bisweilen mehr Schweiß auspreßt als der
Pflug
. Gott wird für
Kelter

27
und
Tenne
sorgen, den
Mühseeligen
zu erqvicken.

28
Ihr Wunsch ist erfüllt. Meine
drey
Bogen: Golgotha u Scheblimini! gehen

29
mit der morgenden Post ab. Wäre Hartknoch nicht gekommen: so hatte ich es als

30
Schickung angesehen, und Ihnen zugeschickt oder wegen
der Sicherheit
noch

31
lieber
nach
in der Schweitz den Abdruck besorgt. Das ganze Jahr daran

32
gearbeitet und ich glaube über ein Buch Papier verschmiert, immer gegen

33
Verstopfung
und
Durchfall
der Gedanken u des Styls zu kämpfen gehabt;

34
wurde endlich überdrüßig die letzte Hälfte auszuglätten und zu vollenden. Das

35
Postgeld mir zu ersparen, leg ich diesen Brief bey, mit Auftrag an unsern

36
Freund ihn gl. auf die Post zu besorgen.

37
Hartknoch hat mir den Titel Ihrer Schrift mitgetheilt; ich weiß aber nichts

S. 146
mehr davon, als
Ideen
, und ich glaube daß Mendelssohn bey Gelegenheit

2
seines verewigten Freundes Leßing auf Sie gezielt. Wie er meinen Ausfall

3
aufnehmen wird, mag die Zeit lehren. Ihr
freymüthiges
Urtheil würde mir sehr

4
wohlthätig seyn; wie ich mir überhaupt einen Gegner wünschte der mich faßte

5
und mich nöthigte den Weitzen zu sicht
ig
en und mich selbst über manches

6
beßer zu erklären.

7
Vor 8 Tagen hatte ich das Vergnügen einen Brief von einem Kaufmann aus

8
Schaffhausen zu erhalten nebst einer Einlage von Lavater, der sehr

9
freundschaftliche Gesinnungen für mich erhält, an Mendelssohns Jerusalem u Kants Kritik

10
auch verweilt und dem ich vielleicht auch einen Gefallen
zu thun hoffe
mit

11
meinem
prodromo.
L. lamentirt, daß er meine Hand nicht lesen kann; ich

12
besorge, daß es Ihnen nicht beßer geht.

13
Vom
thörichten Autorwesen
, wie Sie es gut nennen, Herzensfreund,

14
gnug! Den Tod Ihres lieben Schwagers habe auch aus Göckings Journal

15
ersehen, wo dem Gram über den Tod seiner Gattin Schuld gegeben wird. Hat der

16
seel. Mann keine Erben nachgelaßen, denen zu Liebe er – Gott wolle Frühling

17
und Arzney an meiner verehrungswürdigen Frau Gevatterin gedeyen laßen,

18
und Ihnen auch nach verrichteter Arbeit und Wochenbette Ruhe und etwas

19
beßeres als
Autorruhm
und
Kunstrichter Beyfall
schenken – andächtige,

20
erkenntliche, zufriedene, erbaute Leser; denn über den sympathetischen Einfluß

21
des Geistes und die süße Eindrücke dieses Gefühls geht nichts. Er verhält sich

22
zur Frauenliebe, wie der sanfte stille Mondschein zum
urit fulgore suo
der

23
schwülen Sonne.

24
Eben erhalte einen Brief von
D.
Lindner aus Wien, deßen langes

25
Stillschweigen Mutter u alle seine Freunde besorgt gemacht hat. Es ist eine Einl. an

26
die alte Mutter. Muß mich also anziehen, um dieser armen verlaßenen Wittwe

27
eine Freude zu machen. Vorgestern fiel es mir ein, an ihn zu schreiben u bat auch

28
Hartknoch sich bey dem dortigen Buchhändler nach ihm zu erkundigen. Der

29
Brief soll auch in das Leipziger Pack – und so spielt der Lauf der Dinge mit

30
allem meinem Vornehmen. Ich dachte mich heute nicht von meinem

31
Großvaterstuhl zu rühren und hatte Ihnen den ganzen Tag zugedacht. Immer ein

32
anderes
Intermezzo
für die Fabel jedes Tages – und seinen gemachten Plan.

33
Wie gestern, so heute!

34
Habe mich matt und müde getrabt, und komm gantz erschöpft nach Hause. Ich

35
hoffe, daß die Wünsche dieser frommen Matrone wol bald in Erfüllung gehen

36
werden. Alle ihre Sinnen und Seelenkräfte sind beynahe erloschen. Der jüngste

37
Sohn hat sich beynahe hier seiner Mutter aufgeopfert; und ist ein vortrefflicher

S. 147
ausgebildeter Mensch. Auch der Hofrath hat kürzl. geschrieben, sie wuste aber

2
nichts mehr davon, und ich muste ihr den Brief wider
vorlesen
.
Vor ein paar

3
Wochen ist ein Brief aus Dresden mit einem großen Stammbaum an den seel.

4
Kirchenrath angekommen, worinn ein Vetter der seinen einzigen Sohn

5
verloren, einen Erben zu seiner Bibl. und
Mst
en sucht. Es ist alles nach Mitau

6
übermacht worden, ohne daß ich davon etwas zu Gesichte bekommen.

7
Büschings Beyträge zu Wolfs Reinbecks und des unglückl.
Nüschlers

8
Geschichte sind das letzte Buch, welches ich gelesen, und werden auch Ihrer

9
Aufmerksamkeit nicht entgangen seyn. Der Artikel in den Gothaischen Zeitungen ist

10
vermuthl. durch den Prof.
Becker
aus Kanters Munde oder Tischreden bey

11
unserm Kr. R Hippel öffentl. geworden. Sanders Reisen habe ich noch nicht zu

12
sehen bekommen. Als
Rector
in Mohrungen hab ich mir eine runde Perücke

13
zugelegt, aber noch nicht eingeweiht. In einer elenden Compilation welche den

14
Titel führt:
Auszug aus dem Tagebuch eines Rußen auf seiner Reise

15
nach Riga
, stehen Sie auch und Kant angeführt. Dieser wird sein neues Haus

16
gegen Ende dieses Monats beziehen und fein repariren. Mit der Metakritik über

17
den Purismum der Vernunft komm ich noch Zeit gnug. Er arbeitet scharf an

18
der Vollendung seines Systems. Die Antikritik über Garvens Cicero hat sich in

19
einen Prodromum der Moral verwandelt. Morczini von Kraus ist auch fertig

20
und wird Ihnen vielleicht einen angenehmen Abend machen; noch hab ich kein

21
Dedication
s Exempl. erhalten.

22
Melden Sie mir auch den Namen des Uebersetzers und wenn es ein Schmidt

23
ist, auch seine Vornahmen, weil es leider so viele Schmide als Alexander giebt.

24
Kennen Sie auch des
Monboddo ancient Metaphysicks?
Mich hungert u

25
dürstet nach Ihren Ideen, und ich werde mit mehr Ungedult auf des

26
Ueberbringers Rückkunft warten, als seine Ankunft. Mein Sohn ist inscribirt, samt

27
seinem Freunde. Ich habe ihm Reiskens Leben gekauft, das ich mit Lachen u

28
Weinen gelesen. Gott laße Gesundheit, Seegen, Ruhe und Freude in Ihrem

29
ganzen Hause grünen u blühen. Ich küße Ihrer treuen Gehülfin, meiner

30
verehrungswürdigen Frau Gevatterin die Hände, umarme Sie unter tausend

31
Wünschen für Pathchen u
Geschwister;
Erfreuen Sie bald mit guten Nachrichten

32
Ihre Schwester und alten Freund, Gevatter u Landsmann. Empfehlen Sie

33
mich Ihrem guten Freunde G. Alle die Meinigen sind
die Ihrigen.


34
Adresse mit rotem Siegel:

35
Des / HErrn General Superintendenten
Herder
/ Hochwürden / zu /
Weimar
.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 259–260.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 132–134.

ZH V 143–147, Nr. 738.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
144/37
Schweitz
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Schweiß
145/5
ausgehen,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ausgehen;
145/22
mi
t
r
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
mir
145/24
wird
,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wird
147/2
vorlesen
.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
vorlesen.
147/7
Nüschlers
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Nüßlers
147/31
Geschwister;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Geschwister.
147/35
Weimar
.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Weimar