726
S. 111
Kgsberg den 15
Xbr.
83.

2
Herzlich geliebtester Freund, Gevatter und Landsmann,

3
Es ist mir höchst angenehm
Sie
und
Herder
auf der Welt allein unter dieser

4
dreyfachen Verhältnis denken zu können. Wenn alle unsere Wünsche aus

5
unserm Munde in Gottes Ohr
, wie der kursche Bauer sagt
e
, gestiegen

6
sind: so wird die Zufriedenheit Ihrer neuen Vermählung eben so steigen und

7
sich in
Ruhe
verlieren, wie die Freude des gestrigen Tages und die

8
freundschaftliche Feyer deßelben.

9
Schon den 9 Nov. erhielte aus Weimar den ersten Laut von Ihrem
Glück
,

10
und daß Sie sich wahrscheinlich durch eine neue Ehe mit einer

11
Tochter des seel. Past. Alberti
,
die er in ihres Vaters Hause als ein

12
junges liebenswürdiges Mädchen gekannt
,
verjüngen und trösten

13
würden
. Ich führe Ihnen die selbsteigenen Worte an. Den 28
ej.
besuchte

14
mich unser liebe D. mit Bestätigung und avthentischen Belegen, und ich habe

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mich herzlich gefreut und Gott gedankt, daß er Sie zum wirklichen Vater Ihres

16
bisherigen Pflegsohns bestimmt, an dem ich immer einen geheimen Antheil

17
genommen, vielleicht als an einem künftigen Freunde meines Sohns.

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Gestern vor 8 Tagen bin zum erstenmal ausgegangen, konnte aber nicht

19
weiter als in die Mennoniten Kirche kommen, und bin erst vorgestern imstande

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gewesen die Stadt zu erreichen – wiewol mir das Gehen noch immer so

21
unbeqvem fällt, wie einem Buben, der
s.v.
ein derbes Fell bekommen. Mein erster

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Gang war zu unserm würdigen Oberbürgermeister, der mich wider meine

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Absicht zu Mittag nöthigte – Von da eilte zu unserm Kreutzfeld, den ich kaum

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mehr lebend zu finden glaubte, weil er den Tag vorher von Kant Abschied

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genommen – Ich fand seine alte Mutter bey ihm, und brachte bey ihm eine

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außerordentliche Stunde zu, die eben solche Eindrücke bey mir zurück lies. Sie können

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sich kaum die poetische liebenswürdige Schwärmerey vorstellen, worinn sich das

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letzte Oel seiner Lampe zu verzehren scheint. Tod und Leben scheint bey ihm so

29
zusammenzufließen, daß er selbst nicht mehr den Uebergang zu unterscheiden

30
imstande zu seyn scheint. Erinnerungen und Ahndungen laufen durch einander,

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wie Baß und Discant, in einer Harmonie, die mich in eine Art von Taumel und

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Rausch versetzte,
indem
worinn ich noch ein paar
glückliche Frauen und

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Mütter
, und zwar beide wohnhaft im Hospital, besuchte und noch zehn kleine

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Geschäfte mehr bestellte, daß ich nicht nur sehr spät zu Mittage erschien sondern

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auch das während meiner Krankheit gethane Gelübde, mich nicht im Laufen zu

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erhitzen, ärger wie jemals übertreten hatte – und nach einer tapfern Mahlzeit,

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wie aus einem warmen und kalten Bade zu Hause kam, um mich aus- und

2
umzukleiden. Mir bekam alles so gut, daß ich wieder meine Gewohnheit und
Diät,

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ja was noch mehr, der verjährten Sabbaths- und Sonnabends-
Etiquette
alles

4
vergaß und bis nach Mitternacht aufzusitzen im stande war – um Extracte aus

5
meinen Hauskalendern von 769 bis zum vorgestrigen
dato
für meinen Sohn

6
nach Graventihn zu machen, den ich ehstens zu einem kleinen Besuch erwarte, zu

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einem Leitfaden seines Lebens von der Wiege an.

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Gestern war ich im stande den für mich steilen Berg nach der

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Neuroßgärtschen Kirche zu ersteigen und erbaute mich an dem Vortrage meines jüngst

10
erworbenen Freundes, des Pf. Borowski – und erwartete auf ein kümmerliches

11
und lächerliches Gastgebot den Prof. Kraus der mit einem seiner besten Schüler,

12
Gettkant und jetzigen
Control.
Brahl, die auch ungeachtet des rauhen Wetters

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und Sturms sich einstellten, auch zufriedner, wie der Wirth selbst zu seyn

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schienen, den vermuthlich eine gute Ahndung in seinem Appetit und Genuß

15
mäßigte. Die Gäste waren schon bey den Aepfeln meines Gartens, als ein feiner

16
Knabe, mit dem Namen, der Bildung und dem Amt eines Engels,
Raphael

17
Hippel
, der sonst meinen Sohn und gegenwärtig mich alle Tage sieht, mich

18
herausruffen lies um mich zum
Caffe
und Abendmal des HErrn Kriegsraths, seines

19
nächsten Anverwandten, und zur Gesellschaft der
D. Ruffm.
und
Fischer
schen

20
Familie einzuladen. Dies kam mir so unerwartet, und ein ganz anderer

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Entwurf den Abend zu Hause anzuwenden war auch schon gemacht – – Ich wurde

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aber nicht nur für meine eigene Gäste heiterer und erträglicher; sondern die

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Freude des ganzen Abends stieg so sanft und zu einer solchen Fülle und Höhe,

24
daß Ihnen und Ihrer
liebenswürdigen jungen Frau
, wie H. Sie

25
gezeichnet, das Andenken des gestrigen Abends nicht so heilig seyn kann, wie er mir

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unvergeslich bleiben wird.

27
Daß HE von Sch. und
D.
B. dortige Mitgenoßen gewesen, haben Sie wol

28
nicht nöthig gefunden, uns zu melden, weil sich dies am Rande versteht.

29
Die
Pucelle d’Orleans,
welche mir so viel Spuk gemacht, ist vorgestern von

30
Marianchen hinter einigen Folianten gefunden worden. Ich wünschte, daß Sie

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nicht Zeit gehabt an diesen tummen Auftrag von mir zu denken. Im Grunde ist

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es mir tausendmal lieber, daß die Schuld an ihm nicht liegt, sondern an mir.

33
Sollten Sie einige Bewegungen deshalb gemacht haben; so bitte
mir
,
liebster

34
Freund! es zu melden
, damit ich es gut zu machen imstande bin; denn mein

35
eingebildeter Verdacht kann dem jungen Menschen so schimpflich nicht seyn, als

36
er und ich Nutzen davon ziehen können.

37
Da ich, liebster Freund! nichts als meine Thorheiten Ihnen von hier aus zu

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melden weiß; so muß ich Ihnen noch einen tollen Streich beichten, der mir am

2
1. Advent begegnete, wo ich schon willens war auszugehen. Den Abend vorher

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laß auch später, wie gewöhnlich, eine Abhandl. des Zürcher Prof. Meisters,

4
worunter eine über die Schaamhaftigkeit. Bey der Gelegenheit führt er des

5
Willis Anatome cerebri cit
an, der aus den Aesten des 5
ten
Nervenpaars erklärt,

6
warum Liebäugeln und Küßen zur allgemeinen Sprache der Liebe gehörten. Ich

7
glaube hier eben den Gedanken mit denselben Worten ausgedrückt zu finden aus

8
den Kreutzzügen des Philologen. Aus Mistrauen meines Gedächtnißes schick ich

9
meine älteste Tochter nach dem Buch in dem großen Kasten, die nichts finden

10
kann. Ich stehe selbst auf, wühle alles durch, und dieses Buch fehlt mir auch.

11
Wegen der
Pucelle d’Orleans
komme ich auf den neml. Verdacht, kann aber

12
nicht begreifen, was ihn bewogen mir dieses einzige durchschoßene Exemplar

13
mitzunehmen, denn der Innhalt der
Pucelle
machte mir eine Lüsternheit eines

14
jungen Menschen sehr erklärlich.

15
Diese Einbildung erhitzt mich so, daß ich kalt Waßer des Morgens zu mir

16
nehmen muß und allen Appetit Mittags zu eßen auf einmal verliere, desto mehr

17
Durst nach Wein und hitzigen Getränk, den ich nicht befriedigen kann. Ich werde

18
außer mir – und zum Glück, weil ich weiß nicht an wen? geschrieben, bekomm

19
ich einen Durchfall, der gegen Abend bis zu einer Ohnmacht ausschlägt. Den

20
andern Morgen findt sich das Buch anstatt im Kasten zu liegen, oben drauf –

21
und ich dankte dem Himmel daß ich nicht die Feder anzusetzen im stande

22
gewesen war. Dafür währte meine
Quarantaine
eine Woche länger – das ganze

23
Misverständnis hatte unterdeßen eine gute Wirkung auf meine Genesung

24
gethan. Sie können sich aber nicht vorstellen, wie mistrauisch mich dergl.

25
Quidproquos
gegen meine Sinnen, geschweige Urtheilskraft machen, daß ich

26
bisweilen an mir selbst verzage. Die abscheuliche Stelle ist folgende:


27
De tous ces Rois accouplés bout-à-bout

28
Charles second sur la belle Portsmouth

29
George second sur la tendre Yarmouth

30
Et ce devot Roi de Lusitanie

31
En priant Dieu, se
pamant
sur sa mie

32
Et ce Victor, attrapé tour-à-tour

33
Par son orgueil, par son fils, par l’amour.

34
Mais quand au bout de l’auguste enfilage

35
Il apperçut, entre Iris et son page

36
Perçant un cu, qu’il serroit des deux
m

S. 114
Cet auteur roi, si dur et si bizarre

2
Que dans le Nord on admire, on compare

3
A Salomon, ainsi que les Germains

4
Leur Empereur au César des Romains.


5
Nun noch eine Thorheit, die mir auf dem Herzen liegt – Wenigstens bin ich

6
wegen des Umstandes, der mir Unruhe macht nicht sicher. Unsere
Fooi
gelder

7
Sache ist wirkl. von der Cammer untersucht und an das
General-Directorium

8
gegangen. Durch ein eigen Spiel des Zufalls muste ein gedrucktes
Circulare

9
von der
Gen. Administration
an die
Hiesige
Licent-
Cammer
kommen, um

10
einen
Etat
der alten
Repartition
zu liefern, die eben an dem Sonnabend vor

11
meinem Ausgange abgefertigt worden, und blos von den Bedienten der

12
Licent-
Cammer
, dem
Insp. Marvilliers
und
Inspector
der
Brigade
von

13
Eichstädt unterzeichnet worden, aber von keinem Bedienten des Packhofes.

14
Nach diesem alten
Etat
trift mich nun ein ganz besonderes Schicksal, daß

15
mein
wirklich alter Posten
unter dem eckeln
neuen Namen
eines
Garde-

16
Magazin
verkleidet und der
neugebackene
Regie-
Posten
den alten Namen

17
eines
Licent-Inspector
s lügt. Unter dieser Täuschung würde ich Gefahr laufen

18
mein ganzes Antheil an den
Fooi
geldern entweder gar zu verlieren oder

19
wenigstens geschmälert zu sehen, ungeachtet mein altes Gehalt kaum die Hälfte des

20
neuen
Licent
insp. ausmacht, beyde Posten unmittelbar zusammengehören und

21
ich = 0 bin, so lange selbige getrennt sind. Haben Sie Gelegenheit dieser

22
Gaukeley alter und neuer Namen und die dadurch unvermeidliche Verwechselung

23
respecti
ver Posten durch einen Weg vorzubauen, oder mir einen guten Rath

24
deshalb zu ertheilen, oder einige Erkundigung darüber einzuholen zu meiner

25
Warnung: so erwarte alles von Ihrer alten Güte. Nun auch auf dieses alte

26
Jahr ausgeleert! Gott schenke Ihnen und Ihrer neuen LebensGehülfin

27
geseegnete Feyertage, einen guten Schluß und noch glücklichern Anfang vieler

28
bevorstehenden Jahre. Meinen zärtlichen Handkuß, meine herzliche Umarmung an

29
Ihre liebe Kinder und besonders mein Pathchen. Gott seegne Sie mit allem

30
Guten, was Ihnen u Sich selbst wünscht und wünschen mag Ihr alter ewig

31
ergebener Freund.
Johann Georg Hamann


32
Adresse mit Mundlackrest:

33
An / HErrn Reichardt / Konigl. Kapellmeister / zu /
Berlin
/ Einschl.

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 367–370.

ZH V 111–114, Nr. 726.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
111/9
Glück
,
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Glück
113/31
pamant
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
pamant
113/36
m
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
mains