725
S. 106
Kgsberg den 8
Xbr
83.
2
Herzlich geliebtester Gevatter, Landsmann und Freund,
3
Ihren angenehmen Brief erhielte den 9
pr Dom. XXI
eben da Sie vielleicht
4
den meinigen erhalten
haben
.
Einl. habe schon heute vor 8 Tagen erhalten – aber
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nicht eher schreiben können. Gestern habe meinen Kirchengang gehalten nachdem
6
ich 7 Wochen nicht aus dem Hause gewesen und den 1 Adv. mit einem Durchfall
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heimgesucht wurde, der bis zur Ohnmacht kam, aber auch meine
Cur vollendet
.
8
Nun Gottlob! daß alles in Ihrem Hause auf gutem Wege ist. Was ist die
9
Moosmilch
? Nun sie sey was sie wolle, so wünsche daß sie gute Wirkung
10
thun möge.
11
Freund Reichardt
addressi
rte mir den Prof. Becker aus Deßau; er hat mich
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2 mal besucht. Ich habe aber keine nähere Bekanntschaft von ihm genießen
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können, weil ich noch an der Gicht bettlägericht war, und er nicht im stande
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gewesen seyn muß seinem Versprechen gemäs den dritten Besuch abzulegen.
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Wegen seiner Verbindungen mit Dahlberg und seiner Preisschrift hätte ich mich
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gern eine Viertelstunde unterhalten. Durch Dorow
,
seinen Schwager
,
hat er
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mir seine neue Verbindung melden laßen, an der ich vielen Antheil nehme. Aus
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einem Pflegvater wird er nun ein Pflichtvater seines bisherigen Züglings – und
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auch hier scheint die Vorsehung im Spiel gewesen zu seyn.
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Kommen Ihre Kreutzschmerzen von Verkältung oder Bewegungen der
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güldenen Ader her? Mein letzter Anfall der Gicht schien mir eine wolthätige
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Wirkung der bittersüßen Stengel zu seyn; bestand in einem bloßen Schmertz,
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der im Liegen und bey einer ruhigen Wärme sehr erträglich war, ohne alle
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Symptome.
Appetit und Schlaf litten fast gar nicht dabey – Ich habe also wenig
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gelitten und mich desto mehr gepflegt. Hänschen besuchte mich den 5
pr.
auf eine
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einzige Nacht u kaum halben Tag. Jedermann ist mit ihm zufrieden; ich nicht
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so sehr. Es geht mir
wie
einer Glucke, die Enten ausgebrütet hat.
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Ihre Einl. an Hartknoch ist gl. den Tag drauf nach Memel an den Post Sekr.
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Schultz deßen Canal er mir angewiesen abgegangen, weil ich aber am Podagra
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lag, konnt ich selbst keine Zeile hinzufügen, habe auch noch keine von ihm
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erhalten. Werde ihm nächstens schreiben und Antwort bitten. Ihren Gruß an
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Scheffner habe auch noch nicht bestellt, weil wir in keiner Verbindung stehen
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und uns nur bey Hippel sehen wo er einkehrt, wenn er von seinem Gute
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Sprintlacken nach der Stadt kommt. Er scheint sich gantz der Landruhe gewiedmet zu
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haben – Wegen
Gagliani
bin ich auf des
Mercier Espion devalisé
zufällig
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gewiesen worden, den ich auch nicht auftreiben kann. Nach seinem Buch von der
S. 107
Münze, das der Lemgoer übersetzen wollte, hab ich umsonst durch unsere
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Israeliten nach Italien geschrieben, unterdeßen wünschte ich sehr daß Scheffner
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uns mehr lieferte ohngeachtet ich von seinen welschen Uebersetzungen noch gar
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nichts kenne. In meiner Krankheit hab ich die 3 erste Theile von der neuen
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Ausgabe des
Tableau de Mercier
mit viel Geschmack durchgelaufen. Es ist von
6
2 zu 8
Tomes
aufgeschwollen. Die 4 ersten Theil
e
seiner
Portraits des Rois de
7
France
machen mich auch nach der Fortsetzung lüstern. Ihm zufolge ist das
8
Siecle de Louis XIV
lauter voltairischer u poetischer Wind.
La Fronde
ist die
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Mutter der besten Köpfe gewesen die alle in Ludwig
XIII
Regierung fallen.
10
Ich wollte schon gestern an Sie, liebster bester H. schreiben; aber Garvens
11
Cicero riß mich hin, daß ich nicht loß werden konnte. Ich habe ihn nebst der
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Heusingerschen Ausgabe für meinen Michel gekauft, damit er daraus
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construiren
und
übersetzen
lernen soll. Unterdeßen scheint doch seine
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Einförmigkeit ein wenig zu ermüden. Ich habe nur die Hälfte seiner Anmerkungen mit
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Aufmerksamkeit gelesen; das übrige durchgeblättert.
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Vorige Woche habe erst Gelegenheit gehabt die Garvesche Recension über die
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Kritik zu erhalten, ohngeachtet sie schon vor vielen Wochen ihm zugeschickt
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worden u ich ihn deshalb besuchte. Ich war aber zu blöde und zu schamhaft ihn
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darum anzusprechen. Er soll nicht damit zufrieden seyn u sich beklagen wie ein
20
imbecille
behandelt zu werden. Antworten wird er nicht; hingegen dem
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Göttingschen Recensenten, wenn er sich noch einmal auch an die Prol. wagen sollte.
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Der Göttingsche Extract macht acht Seiten; das
extensum
im Anhange von
23
XXXVII – LII
beläuft sich über 20 Seiten groß Format, feinen Druck. Sie
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können daraus die Verhältnis beurtheilen. Garvens Brief an K. machte mich
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neugierig den Mann näher kennen zu lernen. Ich trieb des Cochius Preisschrift
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auf, worinn sein
Accessit
steht, das jene ziemlich übertrift. Auch seine
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gesammelte Abhandl. hab ich den Anfang gemacht zu lesen und die erste über die
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Prüfung gefiel mir außerordentl. Jetzt komt seine ciceronianische Uebersetzung –
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Nun bekom ich beynahe Lust auch seine Fergusonsche Uebersetzung zu lesen,
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deßen Original ich nicht ausstehen konnte, weil ich meinen Liebling Steward zu
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gl. Zeit laß und mit ihm verglich.
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Ihre Aufmunterung hat mir wider ein wenig Muth gemacht an meine
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Metakritik über den Purismum der Vernunft
zu denken. Ob ich aber
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von der Stelle kommen werde, daran zweifele ich. Das
πρωτον ψευδος
zu
35
finden und aufzudecken, wäre für mich gnug. Aber hier liegt eben der Knoten.
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Bin ich im stande einen halben oder gantzen Bogen drüber zu schreiben, so theil
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ich ihn
D.
Biester mit, dem ich für sein Geschenk de
s
r Monathschrift einigen
S. 108
Dank schuldig bin. Wo nicht; so mögen Sie immer wißen, wie weit ich mit
2
meinem
guten Willen
komme. Das
Bidental
meiner ersten Recension, die ich
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entwarf, ist vom 1
Julii
81. Hoffe aber seitdem ein wenig weiter mit dem Buche
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gekommen zu seyn, doch nicht so weit, wie ich sollte um es aufzulösen. Aber mein
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armer Kopf ist gegen Kantens ein zerbrochener Topf – Thon gegen Eisen.
6
Alles Geschwätze über Vernunft ist reiner Wind;
Sprache
, ihr
organon
und
7
criterion!
wie
Young
sagt.
Ueberlieferung
, das zweite Element. Wie warte
8
ich auf den
Monboddo,
und wie gern möchte ich auch seine
Ancient
9
Metaphysics
sehen die lange auf einem Denkzedel stehen und seines Freundes
10
Harris
Philosophical Arrangements
Lond.
75. die mir schon Mendelson
11
empfohlen und von denen mir Kraus einen Auszug geben muste, damals in
12
Berl. aber der mir nicht Gnüge thut und
ej.
Philological Inquiries
in III
13
Parts
780. Vielleicht kann ich Hartknoch überreden diese 3 Werke kommen zu
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laßen, oder vielleicht können Sie es thun.
15
M.
und Hofprediger (nicht der
D.
u Oberhofpr.) Schultz hat seine Theorie der
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Parallellinien ausgegeben; verspricht auch seine
Theoriam situs.
Daß er über
17
Kants
Th
Kritik schreiben wird, hab ich Ihnen gemeldt und daß dieser mit der
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Darstellung seines Systems völlig zufrieden ist. In der Stille treibe auf den
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Fortgang dieser Arbeit und werde selbige zu befördern suchen, sobald ich nur
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imstande seyn werde wieder nach der Stadt zu kommen; denn bey meinem
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gestrigen Kirchengange konnte ich nur der Mennoniten Vermahnung erreichen und
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traute mir nicht weiter wegen meiner schwachen Füße und des glatten Weges.
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Ihm ist Kantens Kritik Waßer auf seine Mühle; wegen seiner Vorurtheile für
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die Mathematik und ihrer Lehrart, deren Evidenz ich mir aus einem gantz andern
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Gesichtspunct erkläre. Es scheint mir, daß es den Mathematikern wie den
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Samaritern geht:
Ihr wißt nicht was ihr anbetet
.
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Von den Briefen eines Reisenden hab ich hier einen jüngern
Riedesel
als
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Verfaßer nennen gehört. Gelesen hab ich sie und unterhaltend gnug gefunden;
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aber ich weiß Gottlob! nichts mehr von ihrem Innhalt. Aschley’s Briefe hab ich
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sehr spät kennen gelernt ohne auch den
Verf
zu wißen.
31
Kann man sich wol ein Wort mehr von den Illuminaten ausbitten? Machen
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Sie nicht einen Zweig des Ordens aus? Grynäus Bibel heist hier die
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Freymäurer Bibel, ohne daß ich sie kenne, noch weiß wie sie diesen Namen verdient.
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Ist Bahrdt nicht Verf. des Horus?
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Von Gleichens System weiß ich hier auch nichts und ich zweifele daß
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Weikards Biographie von ihm hier wird aufzutreiben seyn. Wenn Chevila keine wirkl.
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Urkunde sondern erst eine zu erwartende Deutung seyn soll: so möchte ich
S. 109
freylich auch von ihr wie von seiner Sternkunde u Physik urtheilen; aber bey allem
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dem wünschte ich doch, wo es mögl. etwas mehr von den Wege des Mannes zu
3
wißen, und ist es Ihnen mögl. so sparen Sie wol nichts Ihrem alten Freunde
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eine Freude zu machen.
5
Eben so gern möchte ich Sie auch um den
Songe
des
d’Al.
von
Diderot
6
lungern, wenn ich eine Abschrift davon oder die Schrift selbst
sub lege remissionis
7
erhalten könnte. Was aber das
Systeme de la Nature
anbetrift: so bin ich auf
8
eine eigene Vermuthung gekommen daß der Name des
Mirabeau
wol vielleicht
9
wahr seyn könnte, u daß vielleicht sein Sohn, deßen Werk über
die
10
Staatsgefängniße
eben so vortreflich als Linguets das Gegentheil ist, dies gottlose
11
Werk seinem Vater untergeschoben haben könnte. Ich habe hier einen würdigen
12
Pendant
neml. das
Systeme social
gelesen vor vielen Jahren von einem eben
13
so frechen Innhalt gegen die Fürsten, als jenes gegen den Urheber der Natur.
14
Den 10
15
Bin noch nicht in der Stadt gewesen, so nöthige Geschäfte ich auch daselbst
16
hätte werde auch kaum diese Woche wegen des glatten Weges und weil mir mein
17
Michel
Scipio
fehlt, so weit kommen können. Dafür hab ich den
Conr.
Moritz
18
auf seiner Ausflucht nach Engl. begleitet u heute den
Xbr
der Berlinschen
19
Monatsschrift gelesen, wegen des wichtigen Articuls über den seel.
Ziehen
. Ich
20
wünschte, daß die
Capella
ihrer Wege gienge, und dafür etwas mehr von der
21
Chevilah zu hören. Von Gleichen hab ich auch kein Wort gewußt, bis ich
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zufällig in den Gothaischen Zeitungen seine Biographie von Weikard angeführt
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fand, die ich hier kaum zu finden hoffe – Von dem Engl. Logan und Weguelin
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weiß nichts; den letztern habe seit seinen ersten Schriften gantz aus dem
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Gesichte verloren und seit länger als 20 Jahr nichts von ihm gelesen. Es ist doch
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aber
der
welcher über den
Lykurg
schrieb?
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Ich freue mich im Geist auf Ihre Umarbeitung der Philosophie der Geschichte,
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da die erste Ausgabe schon so vielen Beyfall gefunden. Aber die
Fortsetzung
29
der Hebr. Poesie
müßen Sie nicht aufgeben; so wenig wie Ihre
Urkunde
–
30
zu der ich Ihnen aber gern einen späten schönen Feyerabend wünschen will.
31
Was ich von Claudius denken soll, weiß ich nicht. Reichard schreibt mir, daß
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er schlechterdings an meinem Leben zweifelt. Ich habe ihm meine Einnahme
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geschickt, ohn daß ich weiß, ob noch wie viel er erhalten, und mehr wie einmal an
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ihn geschrieben. Wenn er mir böse ist; so sollte er doch wenigstens sagen warum?
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und worüber? damit ich wenigstens zu meiner Beruhigung wißen könnte, ob
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ich schuldig oder unschuldig bin.
S. 110
Dem lieben Müller in der Schweitz bin ich auf 2 Briefe Antwort schuldig.
2
Nach beynahe 1½ Jahr hab ich mich gegen Lavater für seine Denkmüntze u
3
Schriften bedankt, ob er den Brief erhalten, weiß ich auch nicht. Pfenninger hat
4
mir vorige Woche eine Freude mit seiner Silhouette u dem ersten Theil seiner
5
Meßiade gemacht, die ich aber erst vom Buchbinder erwarte, um sie lesen zu
6
können.
7
Der arme Kreutzfeld hat gegenwärtig geschwollene Füße. Seine Abhandl.
8
über unsern Adel soll von Hartung in Verlag
genommen
und nach Berl. oder
9
Leipzig abgegangen seyn. Kraus hat auch während meiner
Quarantaine
einen
10
Anfall von Blutspeyen gehabt, und besucht mich immer seltener. Weil der
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König sich bey dem Minister v Z. nach der Deutschen hiesigen Gesellschaft
12
erkundigt; soll das äußerste angewandt werden zu ihrer
Erweckung
13
Unsere
Fooi-
und Biergeldersache ist auch zur Untersuchung bey der Kr. u
14
Dom.
Cammer gekommen, und dabey ausgemittelt worden, wie es heist, daß
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die
Adm.Gen
u der damal.
Dir. Magnier
eine Königl. Cabinetsordre
16
untergeschlagen von 72 wo diese Lumperey als ein Theil unsers Gehalts
stipulirt
17
worden. Da die Vertheilung sonst den 1
huj.
geschehen, werden wir wol bis künftig
18
Jahr warten müßen, ehe der Proceß entschieden seyn wird, u der Himmel weiß
19
noch wie? Ein Schreyhals und unnützer
LicentControl.
in
Pillau
hat endl.
20
durch seinen Schwager in Berl. einen Weg ins Cabinet gefunden. Wo meine u
21
meiner Amtsbrüder Stimme in der Wüsten hingerathen, kann niemand wißen.
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Nun mein alter liebster bester Freund. Ich habe Sie lange gnug mit
nugis
23
unterhalten, wo soll ich was beßeres hernehmen – in meiner gichtbrüchigen –
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kümmerlichen Lage?
25
Der heilige Christ kehre mit allen
s
Seinen Gaben und Verheißungen dieses
26
und eines beßeren Lebens reichlich in Ihre Probstey – mit Gesundheit, Freude
27
und Friede! Ich umarme Sie von Grund meiner Seele – und küße meiner
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Verehrungswürdigen Frau Gevatterin die Hände mit dem Wunsch des besten
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Gedeyens zu einer völligen Widerherstellung. Gott seegne meinen lieben Pathen
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und all sein Geschwister. Er laße Ihnen eben die Freude an Ihren Kindern
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erleben, die ich mir zum höchsten Gut meines Alters wünsche. Ich empfehle mich
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mit meinem ganzen Hause, den abwesenden miteingeschloßen, Ihrem
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hohenpriesterlichen und brüderlichen Gebet. Leben Sie recht wol und hören Sie nicht
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auf wie bisher, mit Huld und Liebe zu denken an Ihren
35
alten treuergebenen Gevatter,
36
Landsmann u Freund
37
Johann Georg Hamann.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 254–255.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 363–367.
ZH V 106–110, Nr. 725.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
106/4 |
haben . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: haben. |
106/7 |
Cur vollendet ]
|
Geändert nach der Handschrift; in ZH Druckkorruptel: Curvollendet |
108/30 |
Verf ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Verf. |
109/26 |
der ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: der, |
110/12 |
Erweckung ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Erweckung |
110/19 |
Pillau |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Pillau |