721
93/28
Königsberg
Dom XX. p
Tr.
den 2 Nov 83.

29
HöchstzuEhrender HErr und Freund,

30
Ihre liebreiche und höchsterfreuliche Zuschrift nebst der gedruckten Beyl. vom

31
16
Jun.
erhielt im Päckchen unsers Claudius eben an Seinem Geburtstage.

32
Heute vor 8 Tagen schickte mir eine Freundin zu eine kleine Erzählung nach

33
Raphael, die mir eine seelige Viertelstunde machte, und worinn ich Sie zu erkennen

S. 94
glaubte, daß ich die ganze Woche an Sie gedacht und mich dabey meiner alten

2
Schuld erinnert. Ich schreibe gegenwärtig auf dem Bette, weil ich einen kleinen

3
Anfall von der Gicht in den beyden großen Zehen, fast ohne alle Schmerzen,

4
während dem Gebrauch der bittersüßen Stengel oder
Dulcamara
bekommen.

5
Ich habe mit 6 Qventchen heute den Anfang gemacht und hoffe mit dieser Woche

6
zu schlüßen.

7
Die Reisen der Päpste haben eben den Eindruck auf mich gemacht und mich

8
mit dem ersten Theil der Schweitzergeschichte ausgesöhnt, worinn zu viel

9
achillisches für mich war und dem Gott Mäusim zu viel geräuchert worden.

10
Die
Reisen
stimmen mehr mit meinem Geschmack an der Odyßee und mit

11
meinen übrigen Grillen über die
Jüdische
und
Kirchengeschichte
;
als die

12
ältesten, fruchtbarsten, unerkannten Qvellen einer transcendentalen

13
Philosophie u Politik. Auch was Leßing gesagt,
komt
mir eben so
alt
als wahr vor.

14
Ohne den Verfaßer zu ahnden machte ich eine Ausnahme von
dem

15
Nothgesetz
, und kaufte mir diese kleine Schrift bey dem ersten Anblick. Ich hatte also

16
beym Empfang Ihres Geschenks wenigstens die Freude den Vater und Freund

17
zu kennen, und habe mir oben angeführte Erzählung nicht gekauft, ohngeachtet

18
der innigen Beziehung zweyer Stellen auf meine Umstände und
Bedürfniße
.

19
Ihre Vorsicht mir die Stelle meines eignen Briefes
mir
wider mitzutheilen,

20
ist wirklich nicht überflüßig gewesen, weil es mir sonst schlechterdings

21
unmöglich gewesen mich auf einen einzigen Buchstaben zu besinnen, und jetzt ebenso

22
wenig im stande bin mich in den damaligen Gang meiner Begriffe zu versetzen.

23
An ein wenig Unzufriedenheit mit dem Wege unserer Philosophie fehlt es mir

24
auch wol nicht, und in diesem Punct konnt ich wol sagen, was Horatz zu Mäcen:

25
Vtrumque nostrum incredibili modo

26
Consentit astrum –

27
Dem ohngeachtet scheint mir doch
jenes ungeheure Loch
, jener
finstere

28
ungeheure Abgrund
beynahe ein wenig
à la Pascal
ergrübelt zu seyn. Nicht

29
daß ich an den Tiefen der menschl. Natur den geringsten Zweifel hätte; aber

30
diese Schlünde zu erforschen, oder den Sinn zu solchen
Gesichten
auch andern

31
mitzutheilen ist mißlich. – Ich zweifele beynahe wie Sie Selbst,

32
HöchstzuEhrender HErr und Freund, daß ich Sie verstehe; denn Ihre Resultate scheinen mir

33
Folgen individueller Erfahrungen, getäuschter Erwartungen fehlgeschlagner

34
Entwürfe zu seyn die vielleicht noch gar
in crisi
sind.
Que sais-je?

35
Ich hoffe, daß alle unsere Misverständniße der Freundschaft keinen Eintrag

36
thun werden, und fahre mit aller Sorglosigkeit u Freymuth fort. Es geht mir

37
mit der Vernunft wie jenem alten mit Gott (dem Ideal der reinen Vernunft

S. 95
nach unserm Kant) je länger ich darüber studiere, je weniger komm ich von der

2
Stelle mit diesem
Ideal
der Gottheit oder
Idol
– Das ist die Natur der

3
Leidenschaft, daß sie nicht am Dinge selbst, sondern nur an seinem Bilde hangen kann

4
– und ist es nicht die Natur der Vernunft, am Begrif zu hangen – Trift also

5
nicht
also nicht
beide der Fluch des dürren Holtzes? Sie machen die Vernunft

6
zum Strom und die Leidenschaft zum Ufer. Thür oder Mauer!
wie man’s

7
nehmen will
. Wenn’s ja Strohm seyn soll: so ist’s der
einzige
in seiner Art,

8
der wunderbare des weisen Ägyptens.

9
Werdt wie die Kinder, um glücklich zu seyn, heist schwerlich so viel als: habt

10
Vernunft, deutliche
Begriffe. Gesetz und Propheten gehen auf Leidenschaft

11
von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften – auf Liebe. Ueber

12
die deutlichen Begriffe werden die Gerichte kalt und verlieren den Geschmack.

13
Doch Sie wißen es schon, daß ich eben so von der Vernunft denke, wie St Paulus

14
vom ganzen Gesetz und seiner Schulgerechtigkeit –
ihr nichts als Erkenntnis

15
des Irrthums zutraue, aber sie für keinen Weg zur Wahrheit und Leben halte
. Der

16
letzte Zweck des Forschers ist, nach Ihrem eigenen Geständniße, was sich nicht

17
erklären, nicht in deutl. Begriffe zwingen läst – und folglich nicht zum

18
ressort
der Vernunft gehört. –

19
Ich habe aber diese Untersuchungen gantz aufgegeben wegen ihrer

20
Schwierigkeit und halte mich jetzo an das sichtbare
Element
, an dem
Organo
oder

21
Criterio
– ich meyne
Sprache
. Ohne
Wort
, keine Vernunft – keine Welt.

22
Hier ist die Qvelle der
Schöpfung
und
Regierung
.

23
Was man in morgenländischen Cisternen sucht, liegt im
sensu communi
des

24
Sprachgebrauchs, und dieser Schlüßel verwandelt unsere beste und wüste

25
Weltweisen in sinlose Mystiker, die einfältigsten Galiläer und Fischer in die

26
tiefsinnigsten Forscher und Herolde einer Weisheit, die nicht irrdisch, menschlich und

27
teufelisch ist, sondern einer heimlichen verborgenen Weisheit Gottes, welche

28
Gott verordnet hat vor der Welt, zu unserer Herrlichkeit – welche keiner von den

29
Obersten dieser Welt zu erkennen im stande ist – – 1
Cor.
II.
– und diese

30
Philosophie läßt keinen Rechtschaffenen, der an öde Stellen und Wüsten

31
hingeängstigt wird, ohne Hülfe und Trost.

32
Ich weiß auch nicht
, lieber Verehrungswürdiger Freund, ob
Sie mich

33
verstehen
– was ich Ihnen von meinem Lager ins Ohr sage. Für die Dächer

34
gehört es noch nicht.


35
den 22
Novbr

36
Hier kam eben der Besuch eines Fremden aus Deßau, HE Becker, der mich

37
zweymal besucht, ohne daß ich einmal im stande gewesen, ihn recht ins Gesicht

S. 96
zu faßen. Mein angefangener Brief ist 20 Tage liegen geblieben, während

2
welcher ich schon ziemlich hergestellt gewesen, aber wider das Bett hüten muß, doch

3
Gottlob! ohne sonderliche Schmerzen, wenn ich liege und die beyde Patienten in

4
Ruhe und Ausdünstung erhalte.

5
Sie vergeben es mir, daß ich ohne Bedenklichkeit über Formen und Regeln

6
des Weltbrauchs fortfahre und mit Uebergehung aller verdrüslichen

7
Kleinigkeiten blos der angenehmen Eindrücke mich erinnere, die ich in dem

8
Zwischenraum der ganz zufälligen Lectur von den 8 Heften der Pomona zu danken

9
gehabt. Ich hatte dies Buch von einem Freunde für eine Freundin besorgt, die es

10
mir zurückgeschickt hatte. Meine Unpäßlichkeit und der Aufenthalt meines Sohns

11
auf dem Lande verhinderten die Ablieferung – Es lag mir vor Augen, ohn daß

12
ich Muth hatte anzubeißen. Ich verschwende so viel Zeit im Lesen, daß ich mir

13
bisweilen aus der Enthaltsamkeit auch am unrechten Ort ein Verdienst machen

14
muß. Unterdeßen war der Name Bondeli zu anzüglich, nicht wenigstens in

15
Ansehung deßelben meine Neugierde zu befriedigen.

16
Eine Baroneße von Bondeli ist eine alte und unschätzbare Freundin für mich,

17
bey deren seeligen Vater ich auf 2 Jahre wie ein Miethsmann und wie ein Kind

18
beynahe im Hause gelebt. Seine einzige Tochter hat ihre beste Lebenszeit der

19
Pflege ihres von Jahren und Krankheiten erschöpften Vaters aufgeopfert, der

20
ein sehr verehrungswürdiger Mann und Tribunals- u Pupillenrath war. Er

21
genoß in den letzten Jahren, da ich bey ihm lebte, die Zufriedenheit seinen Sohn

22
in Bern, wo er herstammte, auf eine sehr vortheilhafte Art versorgt zu sehen,

23
als Aufseher der dortigen Militz. Ich habe ihn selbst nicht gekannt; seine

24
herrschende Neigung zum Spiel, und noch mehr seine fast
unverzeihlige

25
Vernachlässigung einer einzigen verdienstvollen Schwester scheinen mir eben keine

26
Empfehlung seines Characters zu seyn. Zwar aus
Noth
Verlegenheit, aber mit

27
dem edelsten Gefühl der Ehre und des Gewißens entschloß sie Sich zum Beruf

28
einer
Beaumont
, und hat mit genauer Noth die Anzahl ihrer
Pensionairs
auf

29
5
gebracht,
ohne erkannt noch unterstützt zu werden. Sind Sie im stande von der

30
seel.
Julie
noch einige Umstände mir sowol als Ihrer Hiesigen an Geist und

31
Herz so nah verwandten
Bondeli
mitzutheilen oder allenfalls durch die

32
dortigen Verbindungen der
Me. de la Roche,
von dem dortigen Bruder: so würde

33
ich dies wie eine neue Wolthat Ihrer Gewogenheit erkennen. Die so reitzende

34
Scene zwischen Fritz – Seiner
Betti
und Ihrer Sophie gehört wol nirgends als

35
in
Pempelfort
zu Hause?

36
Ich bin auch genöthigt dieses
offene
Blat meinem Gevatter Claudius

37
beyzulegen, und seiner Verantwortung es zu überlaßen, ob er es zurückhalten oder

S. 97
befördern will. Es geht schon in die 6te Woche, daß ich nicht aus dem Hause

2
gewesen. Bey aller Gemächligkeit meines
Packhofverwalter
dienstes
am

3
hiesigen Licent, bey aller meiner Entfernung von Umgange und

4
gesellschaftlichen Verbindungen weiß ich nicht die
meiste Zeit
, was ich mit ihr anfangen

5
noch wo ich sie hernehmen soll, und
bin
also ein Märtyrer entgegengesetzter

6
Bedürfniße. Meine geläufigsten und ergiebigsten Thränen qvellen aus Wollust

7
und Freude; Ungedult und erstickter Zorn arten desto leichter bey mir in ein

8
Lachen aus. Nach dieser kleinen Idiosynkrasie habe ich mir einen etwas

9
abweichenden Character jener beiden
übelberüchteten
Philosophen gemacht. Mein

10
gröstes Hauskreutz liegt vielleicht darin, daß ich meine
r
natürlichen Liebe zu

11
den vier gesunden Kindern, welche mir Gott geschenkt hat und deren ehrliche

12
Mutter zwar nicht meine Frau aber doch Haushofmeisterin ist, durch eine

13
angemeßene
Erziehung zu befriedigen außer stande bin. Mein ältester und einziger

14
Sohn geht ins 15te Jahr, hat sich der Arzneywißenschaft gewiedmet, auch

15
hierinn nach meines Herzenswunsch, und lebt seit diesen Sommer auf dem

16
Lande wenige Meilen von der Stadt, bey einem HE. Kriegsrath
Deutsch
, der

17
unlängst aus Potsdam als künftiger Erbe eines sehr ansehnlichen Gutes

18
Graventin
ins Land gezogen und zur Gesellschaft und Aufmunterung seines

19
einzigen Kindes und deßen geschickten Hofmeisters sich meinen Sohn

20
ausgebeten, der von gleichem Alter mit jenem ist und mit dem er gleiche Vorrechte in

21
allem genießt. Dieser außerordentliche Beweis göttlicher Vorsehung beruhigt

22
mich zugleich für meine 3 jüngern Töchter, deren Wachsthum ich blos zusehen

23
mu
ßte
ß
, ohne ihre nöthige Bildung befördern zu können. Was aber am meisten

24
die Oekonomie meiner Kräfte und ihres freyen Gebrauchs stört, ist wol ein

25
hypochondrisches Wechselfieber von Uebertreibung und Erschlaffung.

26
Vielleicht finden sich, HöchstzuEhrender Herr und Freund, in diesem Gespinst

27
einige
stamina
unser sympathetisches Gefühl zu entwickeln, oder zu berichtigen

28
oder auf die Zukunft zu befestigen. Vielleicht aber werden Sie gänzlich vereckelt

29
und abgeschreckt von Ihren günstigen vorgefaßten Meinungen – In beyden

30
Fällen unterwerfe mich dem Gewinn und Verlust meines Schicksals, wiewol

31
mit stärkerem Vertrauen auf Ihre Nachsicht und Liebe, als auf mein Verdienst

32
und Würdigkeit.

33
Gott
laße
es Ihnen und Ihrem ganzen Hause an keinem Guten fehlen, und

34
erfülle mit vollem Maas den Seegenswunsch der Göttin
Pomona!
Ich ersterbe

35
mit der herzlichsten Ehrerbietung

36
Ihr

37
ergebenster verpflichteter Freund und Diener

38
Johann Georg Hamann.


39
Vermerk von Jacobi:
Fischer
u
Lengnick
zu Konigsberg

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, I 368–374.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 5–10.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 3: 1782–1784. Hg. von Peter Bachmaier, Michael Brüggen, Heinz Gockel, Reinhard Lauth und Peter-Paul Schneider. Stuttgart-Bad Cannstadt 1987, 222–227.

ZH V 93–97, Nr. 721.

Zusätze fremder Hand

40/39
Friedrich Heinrich Jacobi

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
40/39
Fischer […] Konigsberg]
Hinzugefügt nach der Handschrift.

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
Am Fuß der Seite, von Jacobis Hand:
Fischer u Lengnick zu Konigsberg
93/28
Dom XX. p
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Dom. XX. p.
93/31
Jun.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Jun.
94/11
Kirchengeschichte
;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Kirchengeschichte
,
94/13
komt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
kömmt
94/18
Bedürfniße
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Bedürfnisse

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Bedürfniße
95/2
Ideal
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Ideal
95/2
Idol
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Idol
95/10
Begriffe. […] Leidenschaft]
Geändert nach der Handschrift; in ZH Absatz nach „Begriffe.“
95/14
–15
ihr […] halte]
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
95/29
II.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
II
95/35
Novbr
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Novbr.
96/24
unverzeihlige
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
unverzeihliche
96/29
gebracht,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gebracht
96/36
offene
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
offne
97/2
Packhofverwalter […] dienstes]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Packhofverwalter
dienstes
97/9
übelberüchteten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
übel berüchteten
97/13
angemeßene
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
angemessene

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): angemeßene
97/23
mu
ßte
ß
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
muß

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): mu
ßte
ß
97/33
laße
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
lasse

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): laße