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75/25
Deine Mutter sagte mir, daß Du
betrübt
fortgegangen wärest, und ich

26
wurde es auch, da ich gleich beym Aufstehen in Deine Kammer kam und ein

27
unberührtes Glas voll Tafelbier unter Deinem Bett stehen fand. Du weist, wie

28
oft und dringend ich Dir dies untersagt habe, und dennoch hast Du doch diese

29
Gewohnheit unter der Hand fortgesetzt, mir wenigstens zu
guter Letzt
einen

30
Beweis
zurückgelaßen, wie wenig Dir an meinen Worten und Erinnerungen

31
gelegen ist.

32
Entwöhnten Kindern und Kranken erlaubt man auch im Bett und des Nachts

33
zu trinken, aber ein gesunder Mensch, der noch oben ein, vorm Schlafengehen

34
zum Trinken angehalten wird, fühlt nicht so leicht einen Durst im Bett, und

S. 76
die meiste Zeit bleibt auch das Glas unberührt. Ein Schluck von einer so

2
verrauchten und neben einem Nachtgeschirr stehenden Jauche ist eher imstande

3
Eckel
und
Uebelkeit
zuzuziehen und den Schlaf zu stören, als zu befördern

4
und einen wirklichen Durst zu stillen. Es ist also ein bloßer
nisus in vetitum,
den

5
Du zu stillen suchst, und dergl. blinde Begierden haben eine
Qvelle
und

6
Folgen
, die Du nicht einzusehen imstande bist;
daß
und Deine Gefälligkeit gegen

7
selbige ist noch blinder.

8
Ich weiß, wie sehr diese Zaubereysünde des Ungehorsams in meinem Hause

9
herrscht und wie wenigen Einfluß die Verheißungen des
vierten
Gebots auf

10
eure Gesinnungen und Handlungen haben, ohngeachtet meiner
Bitten
, nicht

11
um meinet willen, sondern um
Gottes
und
Eurer
Selbst willen
, zu

12
hören und zu folgen – Aber unter zwey Uebel, will ich lieber euren Ungehorsam,

13
als einen betrüglichen und knechtischen Augendienst. Wenn ihr nicht Gott

14
fürchtet; was liegt mir daran, von euch verachtet und verlacht zu werden! Wenn ihr

15
nicht Ihn liebt; so verlang ich nicht euer Oelgötze zu seyn! Wenn Du, Johann

16
Michel, Deinen Taufbund und das durch die neuliche Einseegnung bestätigte

17
Gelübde so bald vergeßen kannst; so vergiß auch alle meine Lehren – und

18
erwarte keine
neue
von mir.

19
Du bist schon
satt
worden, Du bist schon
reich
worden, Du
herrschest

20
schon
ohne uns – 1
Cor. IV.
Wenn Du die Verbindlichkeit des
vierten

21
Gebots
nicht fühlst; so werde ich so stumm seyn als Du taub
ist
. Ich wünsche

22
von Grund der Seelen, daß Du eher daran
glauben
und nicht nöthig haben

23
möchtest erst durch
Erfahrung klug
zu werden, wie viel der Seegen oder

24
Fluch dieses Gebots in unser ganzes Leben würkt, und wie unser Herz durch

25
selbiges zu einer wahren
Liebe des Nächsten
gestimmt und vorbereitet

26
werden muß.

27
Ich habe mir heute am linken Fuß und Deine Mutter hat sich am linken Arm

28
Blut gelaßen. Gestern erhielt mit der Post ein Päckchen vom HE Hartknoch,

29
neml. das 7
te
Stück der nordischen Miscellaneen des Hupels u den ersten Band

30
des diesjährigen Petersb.
Journals.
Ihm ist an dem mathematischen Buch, das

31
er hier liegen laßen, viel gelegen. Er erwartet es mit seiner Frau, die in 8 Tagen

32
abgehen wird. Ich habe es Dir befohlen gut aufzuheben, und finde es nirgends,

33
so sehr ich auch den ganzen Tag gesucht.
Schreib mir mit der ersten Post
,

34
wo
Du es hingelegt. Ich bin nicht imstande den Namen recht zu lesen, noch mich

35
zu besinnen ob es roh oder geheft gewesen. Ich vermuthe ersteres. Daß ich Dir

36
aber
ausdrücklich befohlen es
zu
verwahren und gut aufzuheben
,

37
weiß ich gantz gewiß.

S. 77
Ich habe Dich ausdrücklich gebeten der ältesten Schwester zu zeigen, wo die

2
ungebundene Sachen auf dem Hausboden liegen. Was für ein Gräuel der

3
Verwüstung! die blos von Deinen muthwilligen Grillen herrührt, Dinge zu

4
verschleppen, und von Deiner unüberwindlichen Halsstarrigkeit, womit Du aller

5
Ordnung und Ueberlegung widerstrebst.

6
Wohin ich sehe, finde ich Spuren von einer so blinden
pica
wie Dein

7
Nachttrinken ist. Da ist ein ganzer Bogen, auf dem Du eine engl. Antwort nach Pillau

8
angefangen; da ist ein anderer verwüstet, auf dem nichts mehr steht als

9
Exercitia linguae latinae.
den
783.


10
Unter den ungebundenen Sachen finde ich ohne den geringsten Umschlag und

11
oben auf den zehnten Theil des
Shakespear
voller Staub und Unrath,

12
ohngeachtet Du weist, daß dieser Theil entweder an Deinen Wohlthäter Hartknoch

13
zurück gehen oder dem HE v Auerswald zu Theil werden wird. Mit welcher

14
Schaam kann ich einem oder dem andern ein solches besautes Buch vor die

15
Augen legen?

16
Du weist, wie empfindlich und bitterböse ich oft darüber geworden bin, daß

17
Du Dir eine rechte Gewohnheit zuziehst allenthalben Bücher aufzuborgen ohne

18
auf die Rückgabe bedacht zu seyn. Wenn ich auch in keiner andern Sache Dir ein

19
gutes Beyspiel zu geben imstande bin; so ist es wenigstens meine ängstliche

20
Sorgfalt für jedes fremde Eigenthum, das ich beynahe meinem eigenen

21
vorziehe.

22
Bin ich denn so ein harter Vater, der auf einen blinden Gehorsam dringt?

23
Wenn Du ja besorgt gewesen wärst die letzte Nacht bey mir zu verdursten;

24
hattest Du mir nicht sagen können, daß Dich Noth triebe eine Ausnahme zu

25
machen? Aber bey einer solchen Denkungsart ist man freylich keines kindlichen

26
Vertrauens fähig.

27
Schreib mir mit der nächsten Post ob Du Dich nicht auf die mathematische

28
Schrift, welche Hartknoch von Kant brachte besinnen kannst, und wo Du selbige

29
hingesteckt, damit ich selbige durch seine Frau übermachen, oder ihm wenigstens

30
antworten kann.

31
Wenn Du durch meine Erinnerungen an statt aufgemuntert zu werden

32
gleichgiltiger gegen Deine Pflichten gemacht wirst, oder Dich beßer dabey befindst

33
ihnen entgegen zu handeln, oder in meinem brennenden Eifer für Dein Bestes

34
eine mürrische Laune argwohnst: so verlier ich allen Muth, alle Hofnung, mich

35
in Dir glücklich einmal zu sehen –

36
Sag mir selbst, ob Du nicht die Niederträchtigkeit zu fühlen im stande bist,

S. 78
wenn ein so alter guter Freund wie H. etwas in unserm Hause vergist, sollte es

2
nicht Deine Schuldigkeit seyn für Erhaltung deßelben zu sorgen, ohne daß ich

3
auch nöthig hatte es Dir anzubefehlen, geschweige, wenn ich Dich noch oben ein

4
dazu anhalte?

5
Ich werde nicht eher Ruhe haben, biß ich Deine Antwort erhalte, sie mag

6
ausfallen wie sie wolle. Frag Dich doch selbst, was Dich bewogen hat, eine solche

7
Unordnung unter meinen Papieren anzurichten? was auf dem Boden war in

8
Deine Kammer zu schleppen – alles unter einander zu werfen und dann liegen

9
zu laßen – mit meinen Sachen zu schalten, als wenn Du Herr davon wärst – so

10
viel Papier und Bücher zu verderben, ohne zu wißen warum? und wozu? ohne

11
Dich an mein Bitten, Vermahnen und Schelten zu kehren?

12
Wenn Du dem Apollyon und Abbadon, dem Geist der Unordnung und

13
Verwüstung nicht entsagst und Dir nicht Gott zu Deiner
neuen
Lage ein
neues

14
Herz schenkt: so habe ich umsonst Deine Versetzung aus meinem Hause

15
gewünscht, und wir würden
alle
der Früchte dieses erfüllten Wunsches beraubt

16
seyn. Mit der ersten Post antworte Deinem bekümmerten und betrübten

17
Vater. J G Hamann

18
den 9
Sept
83.


19
Adresse mit Mundlackrest:

20
An / Johann Michael Hamann / zu /
Graventihn
/
durch Preuß Eilau
.

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 57.

Bisherige Drucke

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, II 440 f.

Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 70–73.

ZH V 75–78, Nr. 713.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
76/11
Eurer
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Eurer
s
76/21
ist
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
bist