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Deine Mutter sagte mir, daß Du
betrübt
fortgegangen wärest, und ich
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wurde es auch, da ich gleich beym Aufstehen in Deine Kammer kam und ein
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unberührtes Glas voll Tafelbier unter Deinem Bett stehen fand. Du weist, wie
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oft und dringend ich Dir dies untersagt habe, und dennoch hast Du doch diese
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Gewohnheit unter der Hand fortgesetzt, mir wenigstens zu
guter Letzt
einen
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Beweis
zurückgelaßen, wie wenig Dir an meinen Worten und Erinnerungen
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gelegen ist.
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Entwöhnten Kindern und Kranken erlaubt man auch im Bett und des Nachts
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zu trinken, aber ein gesunder Mensch, der noch oben ein, vorm Schlafengehen
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zum Trinken angehalten wird, fühlt nicht so leicht einen Durst im Bett, und
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die meiste Zeit bleibt auch das Glas unberührt. Ein Schluck von einer so
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verrauchten und neben einem Nachtgeschirr stehenden Jauche ist eher imstande
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Eckel
und
Uebelkeit
zuzuziehen und den Schlaf zu stören, als zu befördern
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und einen wirklichen Durst zu stillen. Es ist also ein bloßer
nisus in vetitum,
den
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Du zu stillen suchst, und dergl. blinde Begierden haben eine
Qvelle
und
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Folgen
, die Du nicht einzusehen imstande bist;
daß
und Deine Gefälligkeit gegen
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selbige ist noch blinder.
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Ich weiß, wie sehr diese Zaubereysünde des Ungehorsams in meinem Hause
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herrscht und wie wenigen Einfluß die Verheißungen des
vierten
Gebots auf
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eure Gesinnungen und Handlungen haben, ohngeachtet meiner
Bitten
, nicht
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um meinet willen, sondern um
Gottes
und
Eurer
Selbst willen
, zu
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hören und zu folgen – Aber unter zwey Uebel, will ich lieber euren Ungehorsam,
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als einen betrüglichen und knechtischen Augendienst. Wenn ihr nicht Gott
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fürchtet; was liegt mir daran, von euch verachtet und verlacht zu werden! Wenn ihr
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nicht Ihn liebt; so verlang ich nicht euer Oelgötze zu seyn! Wenn Du, Johann
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Michel, Deinen Taufbund und das durch die neuliche Einseegnung bestätigte
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Gelübde so bald vergeßen kannst; so vergiß auch alle meine Lehren – und
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erwarte keine
neue
von mir.
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Du bist schon
satt
worden, Du bist schon
reich
worden, Du
herrschest
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schon
ohne uns – 1
Cor. IV.
Wenn Du die Verbindlichkeit des
vierten
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Gebots
nicht fühlst; so werde ich so stumm seyn als Du taub
ist
. Ich wünsche
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von Grund der Seelen, daß Du eher daran
glauben
und nicht nöthig haben
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möchtest erst durch
Erfahrung klug
zu werden, wie viel der Seegen oder
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Fluch dieses Gebots in unser ganzes Leben würkt, und wie unser Herz durch
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selbiges zu einer wahren
Liebe des Nächsten
gestimmt und vorbereitet
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werden muß.
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Ich habe mir heute am linken Fuß und Deine Mutter hat sich am linken Arm
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Blut gelaßen. Gestern erhielt mit der Post ein Päckchen vom HE Hartknoch,
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neml. das 7
te
Stück der nordischen Miscellaneen des Hupels u den ersten Band
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des diesjährigen Petersb.
Journals.
Ihm ist an dem mathematischen Buch, das
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er hier liegen laßen, viel gelegen. Er erwartet es mit seiner Frau, die in 8 Tagen
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abgehen wird. Ich habe es Dir befohlen gut aufzuheben, und finde es nirgends,
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so sehr ich auch den ganzen Tag gesucht.
Schreib mir mit der ersten Post
,
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wo
Du es hingelegt. Ich bin nicht imstande den Namen recht zu lesen, noch mich
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zu besinnen ob es roh oder geheft gewesen. Ich vermuthe ersteres. Daß ich Dir
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aber
ausdrücklich befohlen es
zu
verwahren und gut aufzuheben
,
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weiß ich gantz gewiß.
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Ich habe Dich ausdrücklich gebeten der ältesten Schwester zu zeigen, wo die
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ungebundene Sachen auf dem Hausboden liegen. Was für ein Gräuel der
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Verwüstung! die blos von Deinen muthwilligen Grillen herrührt, Dinge zu
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verschleppen, und von Deiner unüberwindlichen Halsstarrigkeit, womit Du aller
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Ordnung und Ueberlegung widerstrebst.
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Wohin ich sehe, finde ich Spuren von einer so blinden
pica
wie Dein
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Nachttrinken ist. Da ist ein ganzer Bogen, auf dem Du eine engl. Antwort nach Pillau
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angefangen; da ist ein anderer verwüstet, auf dem nichts mehr steht als
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Exercitia linguae latinae.
den
783.
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Unter den ungebundenen Sachen finde ich ohne den geringsten Umschlag und
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oben auf den zehnten Theil des
Shakespear
voller Staub und Unrath,
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ohngeachtet Du weist, daß dieser Theil entweder an Deinen Wohlthäter Hartknoch
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zurück gehen oder dem HE v Auerswald zu Theil werden wird. Mit welcher
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Schaam kann ich einem oder dem andern ein solches besautes Buch vor die
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Augen legen?
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Du weist, wie empfindlich und bitterböse ich oft darüber geworden bin, daß
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Du Dir eine rechte Gewohnheit zuziehst allenthalben Bücher aufzuborgen ohne
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auf die Rückgabe bedacht zu seyn. Wenn ich auch in keiner andern Sache Dir ein
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gutes Beyspiel zu geben imstande bin; so ist es wenigstens meine ängstliche
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Sorgfalt für jedes fremde Eigenthum, das ich beynahe meinem eigenen
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vorziehe.
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Bin ich denn so ein harter Vater, der auf einen blinden Gehorsam dringt?
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Wenn Du ja besorgt gewesen wärst die letzte Nacht bey mir zu verdursten;
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hattest Du mir nicht sagen können, daß Dich Noth triebe eine Ausnahme zu
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machen? Aber bey einer solchen Denkungsart ist man freylich keines kindlichen
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Vertrauens fähig.
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Schreib mir mit der nächsten Post ob Du Dich nicht auf die mathematische
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Schrift, welche Hartknoch von Kant brachte besinnen kannst, und wo Du selbige
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hingesteckt, damit ich selbige durch seine Frau übermachen, oder ihm wenigstens
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antworten kann.
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Wenn Du durch meine Erinnerungen an statt aufgemuntert zu werden
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gleichgiltiger gegen Deine Pflichten gemacht wirst, oder Dich beßer dabey befindst
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ihnen entgegen zu handeln, oder in meinem brennenden Eifer für Dein Bestes
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eine mürrische Laune argwohnst: so verlier ich allen Muth, alle Hofnung, mich
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in Dir glücklich einmal zu sehen –
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Sag mir selbst, ob Du nicht die Niederträchtigkeit zu fühlen im stande bist,
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wenn ein so alter guter Freund wie H. etwas in unserm Hause vergist, sollte es
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nicht Deine Schuldigkeit seyn für Erhaltung deßelben zu sorgen, ohne daß ich
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auch nöthig hatte es Dir anzubefehlen, geschweige, wenn ich Dich noch oben ein
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dazu anhalte?
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Ich werde nicht eher Ruhe haben, biß ich Deine Antwort erhalte, sie mag
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ausfallen wie sie wolle. Frag Dich doch selbst, was Dich bewogen hat, eine solche
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Unordnung unter meinen Papieren anzurichten? was auf dem Boden war in
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Deine Kammer zu schleppen – alles unter einander zu werfen und dann liegen
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zu laßen – mit meinen Sachen zu schalten, als wenn Du Herr davon wärst – so
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viel Papier und Bücher zu verderben, ohne zu wißen warum? und wozu? ohne
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Dich an mein Bitten, Vermahnen und Schelten zu kehren?
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Wenn Du dem Apollyon und Abbadon, dem Geist der Unordnung und
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Verwüstung nicht entsagst und Dir nicht Gott zu Deiner
neuen
Lage ein
neues
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Herz schenkt: so habe ich umsonst Deine Versetzung aus meinem Hause
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gewünscht, und wir würden
alle
der Früchte dieses erfüllten Wunsches beraubt
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seyn. Mit der ersten Post antworte Deinem bekümmerten und betrübten
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Vater. J G Hamann
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den 9
Sept
83.
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Adresse mit Mundlackrest:
20
An / Johann Michael Hamann / zu /
Graventihn
/
durch Preuß Eilau
.
Provenienz
Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 57.
Bisherige Drucke
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, II 440 f.
Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 70–73.
ZH V 75–78, Nr. 713.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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Eurer |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Eurer s |
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ist ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: bist |