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60/7
Kgsberg den 1
Aug.
83.
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Herzlich geliebtester Freund, Gevatter und Landsmann
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Mache heute wenigstens den Anfang mit dem innigsten Glückwunsch zu
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Ihrem Gottlob! schon 2 Monate alten
Emil
, und freue mich, daß alles so gut
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abgegangen in Ihrer Abwesenheit – und daß sich meine Verehrungswürdige
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Gevatterin auch doppelt erleichtert befindt. Gott gebe Ihnen allerseits Zeiten
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der Erfrischung und Erholung, nach überstandnen Mühseeligkeiten.
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Eines hiesigen Kaufmanns Sohn gab hier seinem Vater Nachricht, daß an
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dem Tage da er eben nach Hause schrieb, Prof. Büsch Sie nebst Klopstock u
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Claudius zu Mittag erwartete. Es ist aber nichts daraus geworden;
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ohngeachtet ich mich sehr drauf freute im Geist das vierte Rad am Wagen gewesen zu
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seyn. Gevatter
Asmus
gab mir auch Nachricht von Ihrem dasigen Aufenthalt
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und Kanter am
IV
Sonnt. nach
Trin.
wo mein Sohn eingeseegnet wurde, von
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Ihrer und Ihres lieben ältesten Sohns Zusammenkunft in Br.
21
Den 21
Jun.
brachte mir Brahl aus dem Hartungschen Buchladen den 2ten
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Theil
der heb. Poesie
mit Taufpredigten u Cantate. Das nach Morungen
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bestimmte Exempl. wird HE Pf.
Fischer
der seine an Prof. Hennings verheyrathete
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Schwester nach Thorn begleiten wird, mit nehmen. Ihre den 24
Julii
erhaltne
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Einl. habe erst mit voriger Post bestellt. Sie haben aber vergeßen das
Gebet
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beyzulegen, welches ich noch bey Ihnen zu gut habe u mit dem
Monboddo
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erwarte, vielleicht mit bevorstehenden Meßgut. Ohne mich einmal zu bedanken,
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gappe ich schon nach neuen. Ein wahrer Fleischhunger in dieser Wüsten, bey dem
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nichts gedeyt, nichts anschlägt, nichts haftet – alles in Fäulnis, nichts zum
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Leben übergeht.
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In Ansehung des Reisens zur Cur denk ich eben so wie Sie; daß es weder
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klüger noch gesunder macht. Weil sich mein altes Uebel wider einstellte, hab ich
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wider die Qveckencur, welche ich Ihrem zufälligen Wink zu verdanken habe
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angefangen
. Sie hat mir Dienste gethan, aber nicht so außerordentlich
S. 61
augenscheinl. wie damals. Uebrigens habe dies ganze Jahr zwischen Furcht u
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Hofnung gelebt. Am 7 Brüdertage kam eine
fulminant
e
Ordre
an alle diejenige,
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welche nicht mit der
reduction de leur sort
zufrieden seyn würden, daß ihre
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Stellen sogl. mit
Invali
den besetzt werden sollten. Den Posttag drauf eine eben
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so traurige Nachricht von unsern Bier- oder
Foy
Geldern, daß selbige dem
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König verrechnet werden sollten. Endl. wurde den 21
Jul.
unser
Etat
angelangt,
7
in dem 3
Calculator
s worunter auch der Brahl, gantz gestrichen, ein
Accise
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Buchhalter gleichfalls, 3
Licent
buchhalter um 100 rthl geschmälert – u.s.w. bis
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auf die Besucher. Unser Gehalt im Packhofe ist dem Himmel sey Dank! für dies
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Jahr unversehrt geblieben. Was künftig Jahr uns bevorsteht, weiß Gott am
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besten; denn des
Reformi
rens und
Reduci
rens ist kein Ende. Sie können leicht
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denken wie den armen Leuten zu Muthe seyn muß, die am Gehalt so viel
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verloren u noch mehr an Biergeldern einbüßen sollen, bey der ungemein reichen
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und ergiebigen Schiffahrt dieses Jahres, da die letzte Oelung des vorigen halben
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Jahrs auf mein Theil über 90 rthl getragen. Eins meiner beyden alten Häuser
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habe auch verkauft zwar mit der Hälfte Verlust, nemlich
kaum
für 1300
fl.
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Kein Mensch dachte, daß ich einen Schilling vom Käufer erhalten sollte, welches
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doch wider mein u aller Vermuthen geschehen. Dieser Sorgen bin ich also auch
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qvit.
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Freylich, liebster bester H. fehlt es am Himmelreich
in uns
– und der Bauch
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klebt am Erdboden. Sonst würd ich allen diesen leidigen Nahrungs Eitelkeiten
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nicht unterliegen und mehr Stärke haben mich ihrer zu entschlagen. Wozu
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braucht der Mensch
Caffé
und Toback und Bier, und einmal ein Glas Bischof
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und dies und jenes. Eben weil der Geist unthätig ist, nimmt das Fleisch über
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Hand und erstickt das
punctum saliens,
das ich sonst in mir gefühlt und nun
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gänzlich vermiße.
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Hartknoch ist am Johannistage von hier abgereist u seine Frau ist hier wo ich
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nicht irre den 6
Jul.
von einem kleinen Riesen glückl. entbunden worden. Ich
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habe ihr noch nicht meinen Besuch abgestattet währender langen Zeit ihres
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Aufenthalts und sie nur einmal bey der Durchreise ihres Mannes im
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Vorbeygehen gesehen.
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Dom. VII. p Tr.
3. August
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Gestern habe die
Schattenriße edler Teutschen
mit Eckel durchblättert.
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Es ist den Freunden in Curl. dedicirt, u herrscht auch gantz die eckle
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Schmeicheley des curischen
Stylus curiae
drinn. Leid thut es mir, daß Sie u Claudius mit
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einer sehr lächerl. Titulatur auch schimmern.
S. 62
Heute hab ich mich an unsers lieben Mosers
Doctor Leidemit
erbaut. Von
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Carl Biderfeld
scheint mir nur das erste Kapitel einige Beziehung zu haben –
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zweifele also lieber daß es von ihm sey. Wißen Sie nichts von der Lage dieses
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Märtyrers, und ob er in seiner Ehe glücklich lebt?
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Ich habe den ersten Sontag unsers Geburtsmondes mit dem Pr. Kraus
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gefeyert, der ein paar
Bouteill
en rothen Wein dazu gab, die meine Mutter in
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Bischof verwandelte, und eine Grütze nebst einem Gericht Fische dazu bestellte.
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Wir haben auf Weimar, Wandsbeck u Graventyn zusammengestoßen, wo sich
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mein Sohn seit dem 24
pr.
aufhält bey dem Kriegsrath Deutsch der mit seiner
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Frau u einem einzigen Sohn unlängst aus Potsdam hieher gezogen. Ich werde
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ihn vielleicht auch nicht in 3 Wochen widersehen, und das Glück des Vaters in
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der Freundschaft scheint auf den armen Jungen auch zu ruhen. Unser jetzige
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Oberbürgermeister, Kr. R. Hippel hat ihn von oben bis unten zur Einseegnung
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gekleidet, und dringt auf seine academische Einschreibung um ihn durch
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Stipendia
unterstützen zu können. Er hat ihn vorige Pfingsten in Graventyn
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eingeführt und ihn diese Woche daselbst gesehen, auch mir heute die angenehmste
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Nachrichten von seinem dortigen Aufenthalt mitgebracht.
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Den 4
Aug.
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Mich wundert, daß Sie Ihre liebe Kinder nicht haben inoculiren laßen. Ich
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freue mich herzlich, daß mein Pathchen mit einigen Narben davon gekommen.
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Für meine jüngste muß auch noch fürchten. Die übrigen 3 sind all inoculirt.
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Bin heute ausdrückl. zu Hause geblieben um meinen Brief ruhig fortsetzen zu
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können. Habe mich ganz müde und verdrüslich gearbeitet an eine Lumpen
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Uebersetzung von Avarie Händeln, dem Hill zu gefallen. Meinen
Pensionair
Lindner
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dachte auch bald los zu werden; der Vater scheint nicht Lust dazu zu haben, und
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auch von der Seite hat es mir an Kummer und Herzeleid nicht gefehlt.
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Daß ich krank bin, weiß ich, und in meiner gegenwärtigen Lage läst sich keine
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Gesundheit absehen. Zum Reisen hab ich eben so wenig Vertrauen als Sie. Ihre
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Erscheinung mit dem ältesten Sohn hätte mich auf einige Tage vielleicht ein
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wenig toll, aber im Grunde nicht glücklicher gemacht. Ich hatte mich bald
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geschämt einen Zeugen meiner Schwachheit u Verlegenheit und Unbeholfenheit zu
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haben. Die Kinder hätten das gröste Vergnügen genoßen, und wir alte hätten
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uns vielleicht geärgert mit trockenem Munde zusehen zu müßen.
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Andern Leuten komt es hier auch so vor, daß
Clau
dius in seinem letzten Theil
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ziemlich ältert. Mir eben nicht, weil mich das neueste immer am stärksten rührt u
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die Eindrücke des vergangenen sehr matt bey mir sind. Ich bin mir bewust, daß
S. 63
ich nicht im stande bin zu urtheilen und enthalte mich daher gantz. Mendelsons
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Jerusalem habe fast 3 mal durchgelesen und weiß immer weniger, was er sagen
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will. Es ist mir zwar lieb daß er ein Jude ist; aber ich verdenk es ihm noch mehr
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einer zu seyn. Kurz ich kann eben so wenig aus ihm, als mir selbst klug werden.
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Eine lebendige Spinne ist beßer als ein todter Seidenwurm.
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Ihren zweiten Theil habe
coll’ amore
und mit rechter Lust und Geschmack
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gelesen. Was
ausführliches
darüber zu schreiben, ist mir nicht möglich, weil
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alles bey mir verfließt, so bald ich ausgelesen habe, und ich wie der Frauen
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verschloßene Mutter
nicht satt werden
kann
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Die Erhaltung und Fortsetzung Ihrer Freundschaft, (trotz aller meiner
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Unwürdigkeit) ist das beste
Wort
von Trost und Aufrichtung. Auch ohne
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Hofnung
eines Beßeren hier, ist mein Loos immer sehr erträglich, und vielleicht
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beneidenswerth. Vielleicht ist meine hypochondrische Stätigkeit oder Starrsucht
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mir wolthätiger, als die unbefangenste Wirksamkeit. Was weiß ich? – und was
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hülfe es mir es zu wißen, wenn es nun geschieht.
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Ist ein wenig Harthörigkeit, wie meine, nicht angemeßener einem so
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verstimmten Regiment, als Ihr musicalisches Gehör? – –
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Meine Verehrungswürdige Frau Gevatterin und Freundin,
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Ich nehme den herzlichsten Antheil an Ihrer erlebten Freude, nach
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überstandener schwerer Arbeit, welche Gott nicht nur durch die Erhaltung Ihrer lieben
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Kinder und meines frommen Pathgens, sondern auch durch einen neuen Seegen
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Ihres Hauses belohnt und gekrönt hat. Hätte Gottfriedchen seinen Papa nicht
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so gut gehütet, so wäre der Bischof von Weimar noch weiter geflohen, als ehmals
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der Prophet Jona vor dem HErrn. Gott schenke Ihnen Gesundheit,
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Heiterkeit und Freude
, an deren Widerschein mir genügt, so oft ich gute Nachrichten
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erhalte von Ihrer unveränderlichen Freundschaft und zunehmenden
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Wohlseyn. – – –
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Den 7
Aug.
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Bin heute den Hill auch los geworden, der mir vorgestern den ganzen Tag auf
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dem Halse gelegen und mir mit seiner Uebersetzung den Kopf so kalfatert, daß
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ich fast von Sinnen gekommen wäre. Er thut eine Reise aufs Land zu Fuß, und
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ich werde ihn nicht so bald wider zu sehen bekommen. Dem ohngeachtet zweifele
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ich daß ich durch seine u meines Sohns Abwesenheit viel für meine Muße
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gewinnen werde; da mir Lindner noch übrig bleibt, deßen
Oncle
ehstens nach
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Wien gehen wird, unterdeßen ich nichts als Verdruß mit des Vaters landkundigem
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Geitz absehen kann, und mich
nolens volens
werde entschließen müßen den
S. 64
abscheulich verwahrloseten Sohn noch bis gegen künftige Ostern bey mir zu
2
behalten, auf Kosten meiner eignen Kinder. Je mehr alles von innen stockt, desto
3
ärger werd ich vom Strom äußerer Umstände mitgenommen.
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Die Witterung ist hier ebenso gewesen, wie allenthalben. Montags 2
5
Gewitter, ein leichtes vormittag, ein schweres gegen die Nacht. Auf dem Lande hat es
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viel Schaden an Menschen u Wohnungen gethan. Vor einigen Wochen schlug es
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auch hier an 2 Orten ein, unter andern in die Haberbergsche Kirche, doch ohn zu
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zünden. Seeburg im Bißtum ist gantz abgebrannt; aber Kgsberg sehr verschont
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geblieben von Schaden und Schrecken.
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Die zweite Aufl. von Ziehen ist hier auch angekommen und reißend
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abgegangen. Ist es denn nicht möglich das Rätzel von
Chevilah
aufgelöst zu
12
erhalten? Ich habe
Uphagen
deshalb einen Auftrag gethan, der mir Hofnung
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gemacht sich deshalb Mühe zu geben. Er hat mir seine
Parerga historica
verehrt u
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mir ein
Compliment
gemacht unsere beyde Namen ein wenig gemisbraucht zu
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haben. Man giebt hier den Bahrdt für den Verf. des erbärml. Buchs
Orus
aus.
16
Ich zweifele daran; wenigstens haben wir einen Deutschen der den
Boulanger
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ausgestochen
18
Entziehen Sie mir die Freude und den Trost nicht, den ich aus Ihren
Briefen
19
und
Büchern
ziehe. Entschuldigen Sie mich bey Ihrer vortrefl. Frau, daß ich die
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paar Zeilen, die ich oben an Sie angefangen nicht im stande gewesen zu endigen.
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Beunruhigen Sie sich nicht wegen dieser Versteinerung meiner Lebensgeister.
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Eben diesen Augenblick erhalte einen Brief von Gevatter Kaufmann
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Medicus in Neu Salz
, gantz in der Sprache seines gegenwärtigen Kanaans. Sein
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Brief ist wie meiner vom 16
Junii
bis zum 18
Julii
lang. Er meldt mir die
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Entbindung seiner Frau von einer kleinen
Elisabeth
welche den
Junii
glückl.
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geschehen. Nächstdem scheint er noch eine Maria u einen muntern Paulum zu
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haben. Ehrmann ist gleich ihm zu seinem Beruf, dem Laden seiner Mutter
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zurück gekehrt. Ich umarme Sie unter tausend Seegensgrüßen und
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Friedensküßen – Empfehlen Sie mich Ihrer würdigen Männin und Hausmutter. Ich
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freue mich Ihres braven Gottfried, wie meines Michels von deßen Betragen ich
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gute Nachrichten erhalte und der mir schon einige übelgeschmierte doch gut
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gesinte Briefe zukommen laßen. Grüßen Sie mein liebes Pathchen, die zwo
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Emilchen u übriges Geschwister von mir u den meinigen. Ich ersterbe Ihr alter
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treuer
35
Hamann.
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Adresse mit rotem Siegel (Sokrateskopf):
37
HErrn / HErrn Herder / General Superintendenten pp / in
Weimar
/
fr
Halle
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 248–249.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 347–351.
ZH V 60–64, Nr. 706.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
60/23 |
Fischer |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Fischer, |
63/9 |
kann ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: kann. |
64/17 |
ausgestochen ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: ausgestochen. |