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22/28
Kgsberg den 16 Febr.
VI. p. Epiph
83.

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Herzlich geliebtester Freund,

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Ihr Herr Bruder überbrachte
mir
vorgestern seinen Einschluß vom 7
Febr.

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der mich völlig beruhigt in Ansehung Ihrer und meiner; denn von meiner

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Gährung werden Sie aus dem Ton urtheilen können, in dem ich mein letztes

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geschrieben, welches ich nunmehro gänzlich zurück nehme, aber damals für

S. 23
nöthig hielt um mir einen
reinen Grund
zu schaffen. Ich hatte mich auf alles

2
gefaßt gemacht, und hätte in jedem Fall alles mögliche für Ihren lieben Sohn

3
gethan, ohne mich weiter um den Vater zu bekümmern. Desto lieber ist es mir

4
und
desto erfreulicher, daß unsere alte Freundschaft durch dies Misverständnis

5
desto mehr angefacht und näher zusammengezogen worden. Andere mögen nun

6
erzählen, was Sie wollen: so geht mich das nichts weiter an und ich bin nunmehr

7
im stande Ihnen hinlänglich zu widersprechen. Ich danke Ihnen also, liebster

8
Freund dafür, daß Sie aus eigener Bewegung sich die
höchste Forderung

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haben ohne die geringste Einwendung gefallen laßen. Dies macht Ihnen nicht

10
nur Ehre in meinen Augen sondern entspricht auch dem Vertrauen und der guten

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Meinung von meiner unveränderten Denkungsart, wodurch Sie bewogen

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worden mir Ihren lieben Sohn anzuvertrauen; und wodurch ich desto mehr

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aufgemuntert werde mit Gottes Hülfe Ihre beyderseitige Zufriedenheit zu

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befördern

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Er hat mir gestern die 34 # vom Kaufmann abgeholt und damit einen

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Gefallen gethan, weil ich bey der kleinsten Geldangelegenheit verlegen bin. Da ich

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ihm das erste Monatsgeld vorgeschoßen, und HE Bruder zu ein paar Stiefeln,

18
und 2 fl. Ueberschuß an der halbjährigen
Pension à
250 fl. waren, so hab ich

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ihm sein ganzes halbjähriges
Contingent deductis deducendis
u
adiectis

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adiiciendis
mit 5 # u 5 fl.
courant
anvertraut, und ich habe von seinem

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gesetzten Wesen eine so zuverläßige Meinung, daß ich kaum es für möglich halte

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hierin künftig eine andere Einrichtung nöthig zu haben.

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Uebrigens können Sie allemal gewärtig seyn, daß ich in Ansehung der

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Stunden nichts ohne eine vorhergängige Anfrage und Genehmigung anfangen

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werde. Wir haben uns diese erste Woche vorzüglich mit dem Latein beschäftigt,

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und hiernächst mit dem französischen, wovon die Anfangsgründe bey seiner

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sonst starken
Routine
ziemlich scheinen vernachläßigt zu seyn. Was die

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Geschichte anbetrifft: so liest er mit meinem Sohn die
Zeitungen der alten

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Welt
, und da muß ich sie ihrem eigenen Fleiß überlaßen, wie in Ansehung der

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Geographie, zu der mein Sohn auch ziemlichen Trieb von selbst hat, und den

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Vortheil
nunmehr
genüst den mitgebrachten Atlas künftig mitgenießen zu

32
können.

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Eben da ich diesen Brief anfieng, erhielt ich einen Besuch von dem polnisch

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reformirten prediger HE
Wanowski
der meinem Sohn aus bloßer Neigung

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seit einem Jahr Unterricht ertheilt. Ich habe ihn wegen eines polnischen

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Sprachmeisters um Rath gefragt, er wuste mir aber keinen anzuweisen,

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versprach aber meinem Sohn einen seiner Anverwandten zum ferneren Gehülfen

S. 24
in der nöthigen Uebung in einiger Zeit anzuweisen. Vor Ostern bin aber nicht

2
anräthig
nichts
etwas neues anzufangen. An
Büchern soll es
nicht fehlen

3
ohne daß es nöthig wäre welche anzuschaffen. Sind Sie aber im stande

4
künftighin etwas von
pollnischer Litteratur
dort aufzutreiben und haben Sie Wege

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dazu; so versorgen Sie uns damit. Mein Sohn kann dafür ihn zum pollnischen

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etwas vorbereiten. Meine vornehmste Absicht bis gegen Ostern wird darauf

7
gerichtet seyn das in der Schule versäumte zuerst zu ersetzen, und diesen

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wesentlichen Mangel hoff ich bald zu heben, wenn der Fortgang dem gemachten

9
Anfang ähnlich bleibt.

10
Was den Styl anbetrifft, so werde für die Grundsätze und den
genium
der

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lieben Muttersprache soviel sorge tragen, als jede andere erfordert. Mit Chrien

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und Schulübungen bin ich nicht im stande mich abzugeben; denn alles was ich

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davon weiß, läuft auf die einzige Zeile hinaus:

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Scribendi recte, SAPERE est principium et fons.

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Er hat alle Kapitel, die wir in den
Historicis Selectis
durchgegangen,

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schriftlich übersetzt und mit einer glücklichen Leichtigkeit. Ich werde fortfahren ihn

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dazu anzuhalten, ohne daß ich im stande bin noch nöthig finde alles Exercitien

18
mäßig zu corrigiren.


19
Den 17 Abends.

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Wir haben heute die 9 ersten Kapitel zu Ende gebracht und denken diese Woche

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mit dem
ersten Buche
der
Histor. select.
fertig zu werden. Sein
Oncle
der

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HE
Lieut.
hat ihn besucht und ihn zur
Redoute
mitgenommen. Ich bin auf der

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Loge gewesen, und es thut mir leid ihn nicht kennen gelernt zu haben, um mich

24
theils für einen Vorrath schöner Aepfel noch schönerer Cartoffel u eine
calicut
sche

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Henne, die er mir vorgestern ins Haus geschickt, bedanken, theils über unser

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gegenseitiges Verhältnis erklären zu können, welches ich nicht ermangeln werde,

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so viel möglich bald zu thun. Gestern ist er zu Mittag bey dem HE Stadtr. zu

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Gaste gewesen, hat ihre Mama besucht u kam früh noch vor Abend zu Hause.

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Weil dies die letzte
Redoute
seyn soll u er in
Begleitung seines Ohms
dahin

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gegangen: so hab ich nichts dagegen einzuwenden gehabt; wie ich
mir

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überhaupt vorgenommen ihm seine Freyheit so wenig zu benehmen, solange ich noch

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keinen Misbrauch davon absehen kann. Auch bey meinen eignen Kindern

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verabscheu ich ohne Noth allen Zwang; und er ist kein Kind mehr, sondern im stande

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selbst zu wählen und zu urtheilen. Es kommt alles darauf an die Wahl seiner

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Neigungen zu lenken, durch festere Grundsätze und nicht durch bloße äußerl.

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Formalitäten. Seiner seel. Grosmutter, die ich nur einmal bey Ihnen gesehen

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u kennen gelernt, muß ich ein gutes Zeugnis geben so weit Sie im stande

S. 25
gewesen die Sache zu übersehen. Von ihrer Seite hat sie alles gethan u scheint

2
nichts an der Erziehung versäumt zu haben; desto mehr aber in Ansehung der

3
Hofmeister. Besonders ist der jetzige lobnichtsche Schul
collega
Krakau, den ich

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sonst weiter weder von Person noch anders kenne als aus der Veruntreuung

5
der bey ihm zurückgebliebenen Bücher u
Musica
lien ein sehr schlechter Kerl in

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meinen Augen.

7
Meine Tochter hat den vorigen Sommer das Clavier mit mehr Fortgang als

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ich ihr zugetraut angefangen. Es steht also immer den ganzen Tag leider! offen

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und es geht auch keiner ohne eine Uebung u Widerholung seiner noch

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übriggebliebnen Stücke vorbey. In Ansehung des Zeichnens wünschte ich daß mein

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Sohn zugl. etwas Anweisung dazu bekäme; er wird aber wegen der

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Kinderlehre nichts vor
Trinitatis
anfangen können; und ich bin eben so wenig gesinnt

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vor Ostern einige andere Stunden als mit mir allein, einzuräumen, damit die

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Sache erst im Gange komme und die Hauptsache überstanden werde, welche

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gleichwol bey mir auch nur als ein
Leitzeug wesentlicher Bedingungen
,

16
als das
Organon
des wahren Geschmacks am Guten, Wahren und Schönen

17
dient.
Was Demosthenes von
Actio
sagte, ist bey mir
Sprache
, nicht als

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Gedächtniswerk, sondern als Mathematik, als wahre Kunst zu denken und zu

19
handeln oder sich mitzutheilen und andere zu verstehen und auszulegen. Die

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beyden jungen Leute scheinen sich auch einander zu lieben und werden mit der

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Zeit so gute Freunde werden wie ihre beyderseitige Väter, welches für mich eine

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sehr günstige Vorbedeutung ist.

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Wegen des Briefwechsels erwart ich Ihre Wünsche u Erinnerungen. Weiter

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werd ich mich darum nicht bekümmern als insofern Sie mir Winke deshalb

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ertheilen. Ich
werd
auch nicht eher schreiben, als wann ich es für nöthig finde,

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und ebenso antworten.

27
In Ansehung lateinscher Autoren dürfen Sie nicht sorgen. Haben Sie aber

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Kanäle für die polnische Litteratur uns Qvellen zu verschaffen; so wird dies

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meinem Sohn zur Aufmunterung gereichen das wenige was er weiß, wenn die

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Zeit komt, mit Ihrem Herrn Sohn zu theilen. Ich habe schon deshalb mehr wie

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einmal im Sinn gehabt an unsern Geh. R. Kortum zu schreiben; aber er komt

32
entweder nicht mehr hiedurch, oder bekümmert sich nicht mehr um mich, und im

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letztern Fall halt ich es für meine Pflicht mich eben so wenig und noch weniger

34
um ihn zu bekümmern.
Habeat sibi.

35
Ich hoffe übrigens, daß ich nicht nöthig habe, mich wegen meines letzten

36
Briefes zu entschuldigen, sondern glaube vielmehr dadurch in Ihrem Vertrauen,

37
geliebtester Freund, gewonnen als verloren zu haben. Ihre Antwort hat mich

S. 26
völlig befriedigt u beruhigt. Die geringste Zweydeutigkeit würde mich zu einem

2
ewigen Stillschweigen gegen Sie genöthigt haben; unterdeßen es mein fester

3
Entschluß war, mich während des Aufenthalts Ihres HEn Bruders, mich mit

4
Ihrem Sohn so ritterlich zu beschäftigen, daß es auf Sie beruht hätte, ihn

5
wider zurückzunehmen um sich selbst davon zu überführen, oder wohin Sie Lust

6
gehabt hätten zu verpflanzen, weil er wenigstens dem academischen Unterricht

7
völlig mit göttl. Hülfe entweder bereits gewachsen wäre oder doch hatte im

8
stande seyn sollen sich selbst weiter zu
helfen

9
Bin ich im Stande im Jahr das auszurichten, wozu Sie ein Paar ausgesetzt

10
oder solten sich Umstände bi
ete
n, die mich unvermögend machten meinen

11
eignen Wunsch zu erreichen: so wird mich kein Eigennutz abhalten Ihnen,

12
Geliebtester Freund, alles redlich u treulich zu melden, ohne Ansehen meiner und

13
fremder Person.

14
Beurtheilen Sie übrigens nicht den Fortgang Ihres HEn Sohnes aus seinen

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Briefen, und wenn Sie aus selbigen etwas zu schließen Anlaß hätten: so bitte

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hierin auch aufrichtig mit mir zu Werk zu gehen. Ein guter Baumeister arbeitet

17
in die Erde, ehe das geringste über derselben ins Auge fällt. Je geschwinder man

18
mit dem letzten eilt zur Schau; desto weniger taugt der Grund.

19
Zum glücklichen Arbeiten gehört gute Laune und Zufriedenheit der Seele.

20
Einen jungen Menschen, der zum Vergnügen und zu einer gewißen

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Gemächlichkeit und eiteln Leichtsinn durch Umstände und ohne seine Schuld verwöhnt

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worden, kann man nicht den Geschmack u die Wollust der Zerstreuung auf

23
einmal entziehen; ohne seine
Fähigkeiten
stumpf zu machen und seinen
guten

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Willen
zu ermüden und entkräften. An beyden fehlt es Gottlob! nicht, und es

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komt nur darauf an beyde zu lenken, zu unterhalten und ihre magnetische Kraft

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zu stärken.

27
Meine Haushaltung geht ihren Gang fort; aber sein Appetit ist beynahe die

28
Hälfte von meinem.
Delicat
eßen lieb ich nicht, aber eine gute Fleischsuppe eß ich

29
lieber als Grütze. Bey gegenwärtiger Witterung ist ein bloßes Spatziergehen

30
nicht schicklich. Es ist mir also lieb, daß er seinen unpäßl.
Oncle
besucht, und er

31
ist gestern von selbst bey seiner würdigen Großmutter gewesen. Wenn er die

32
Woche über arbeitet, warum sollt ich ihm nicht gönnen, wenn es Weg und

33
Witterung erlaubt den Sontag auf dem Lande zuzubringen, so lange unsern

34
Arbeiten dadurch kein Eintrag geschieht, sondern selbige vielmehr durch ein wenig

35
Erholung u Veränderung befördert werden. Das einem alten Mann natürl.

36
Mistrauen gegen junge Leute erhält mich ohnehin wachsam und meine etwas

37
philosophische Neugierde wird eben so sehr durch
Hören von weitem
als

S. 27
Gehen in der Nähe
erweckt. Selbst eingebildete Verhältniße sind mir eben so

2
wenig gleichgiltig wie die Träume –

3
Kurz, ich weiß nicht anders zu verfahren, als wie ich es mit eignen Kindern

4
mache, an deren Liebe mir mehr gelegen ist, als an meinem väterlichen

5
Ansehen, und ihr Glück doch das einzige ist, was Eltern wünschen können für sich

6
selbst.

7
Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemalin und ganzen Hause. Sobald ein

8
Bündel mit Wäsche das hier liegt, abgeht, wird mein Sohn vielleicht ein klein

9
lateinsches Büchlein beylegen, das der älteste Bruder seinem nächsten zur

10
Aufmunterung einer guten Nachfolge
addressi
ren wird. Es sind kleine lateinsche

11
Briefe an einen engl. Prinzen von 7 Jahren, deren Auflage ich des HE Kanzler

12
von Korff Excell. zu Gefallen besorgt habe.

13
Mein ganzes Haus schläft, die Hausmutter ausgenommen. Wie vergnügt

14
Ihr Herr Sohn gewesen werd ich erst morgen früh
erfahren


15
den 18.

16
Er kam heut zu rechter Zeit zu Hause, und seine
Cousinen
sind angekommen,

17
daher er morgen bey dem kranken
Oncle
dem HE. Stadtrath zu Mittag speisen

18
wird. Er hat nicht getanzt, sondern ist mit HE.
Lieutenant
bloß Zuschauer

19
gewesen.

20
Weil er heut nicht viel Zeit gehabt im Tage sich auf dem Clavier zu üben; so

21
beschlüst er den Abend damit; und ich alter Mann bin so schläfrich, als wenn ich

22
auch gestern der
Redoute
beygewohnt. Leben Sie also wohl; ich ersterbe unter

23
Empfehlung der Meinigen

24
Ihr   ergebenster Johann Georg Hamann.


25
Den 19 –

26
Nicht blos
ob fugam vacui
sondern aus wahrer Zufriedenheit melde Ihnen

27
daß wir diesen Morgen das 12 Kapitel
begonnen
, u mit so einem

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außerordentl. Fortgange, daß ich mir mehr und alles nach Herzenswunsche von einem

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so guten Anfange verspreche. Gott erfülle alle meine Ahndungen. Daß Sie aber

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eine so günstige Anlage nicht beßer genutzt u sich dieses Vergnügens so gantz

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entzogen haben, bleibt immer ein Stachel des Vorwurfs, womit ich diesen

32
Brief schlüßen muß. Versäumen Sie wenigstens die jüngeren nicht so und

33
leben Sie nochmals wol u bleiben Sie gut Ihrem alten Freunde
Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 3.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 321–329.

ZH V 22 f., Nr. 690.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
22/30
Febr.
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Febr
23/4
und
]
So ZH; Abschrift Wardas mit Wortverdopplung am Zeilenfall:
und / und
23/14
befördern
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
befördern.
23/31
nunmehr
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
nunmehro
26/8
helfen
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
helfen.
27/14
erfahren
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
erfahren.