690
22/28
Kgsberg den 16 Febr.
VI. p. Epiph
83.
29
Herzlich geliebtester Freund,
30
Ihr Herr Bruder überbrachte
mir
vorgestern seinen Einschluß vom 7
Febr.
31
der mich völlig beruhigt in Ansehung Ihrer und meiner; denn von meiner
32
Gährung werden Sie aus dem Ton urtheilen können, in dem ich mein letztes
33
geschrieben, welches ich nunmehro gänzlich zurück nehme, aber damals für
S. 23
nöthig hielt um mir einen
reinen Grund
zu schaffen. Ich hatte mich auf alles
2
gefaßt gemacht, und hätte in jedem Fall alles mögliche für Ihren lieben Sohn
3
gethan, ohne mich weiter um den Vater zu bekümmern. Desto lieber ist es mir
4
und
desto erfreulicher, daß unsere alte Freundschaft durch dies Misverständnis
5
desto mehr angefacht und näher zusammengezogen worden. Andere mögen nun
6
erzählen, was Sie wollen: so geht mich das nichts weiter an und ich bin nunmehr
7
im stande Ihnen hinlänglich zu widersprechen. Ich danke Ihnen also, liebster
8
Freund dafür, daß Sie aus eigener Bewegung sich die
höchste Forderung
9
haben ohne die geringste Einwendung gefallen laßen. Dies macht Ihnen nicht
10
nur Ehre in meinen Augen sondern entspricht auch dem Vertrauen und der guten
11
Meinung von meiner unveränderten Denkungsart, wodurch Sie bewogen
12
worden mir Ihren lieben Sohn anzuvertrauen; und wodurch ich desto mehr
13
aufgemuntert werde mit Gottes Hülfe Ihre beyderseitige Zufriedenheit zu
14
befördern
15
Er hat mir gestern die 34 # vom Kaufmann abgeholt und damit einen
16
Gefallen gethan, weil ich bey der kleinsten Geldangelegenheit verlegen bin. Da ich
17
ihm das erste Monatsgeld vorgeschoßen, und HE Bruder zu ein paar Stiefeln,
18
und 2 fl. Ueberschuß an der halbjährigen
Pension à
250 fl. waren, so hab ich
19
ihm sein ganzes halbjähriges
Contingent deductis deducendis
u
adiectis
20
adiiciendis
mit 5 # u 5 fl.
courant
anvertraut, und ich habe von seinem
21
gesetzten Wesen eine so zuverläßige Meinung, daß ich kaum es für möglich halte
22
hierin künftig eine andere Einrichtung nöthig zu haben.
23
Uebrigens können Sie allemal gewärtig seyn, daß ich in Ansehung der
24
Stunden nichts ohne eine vorhergängige Anfrage und Genehmigung anfangen
25
werde. Wir haben uns diese erste Woche vorzüglich mit dem Latein beschäftigt,
26
und hiernächst mit dem französischen, wovon die Anfangsgründe bey seiner
27
sonst starken
Routine
ziemlich scheinen vernachläßigt zu seyn. Was die
28
Geschichte anbetrifft: so liest er mit meinem Sohn die
Zeitungen der alten
29
Welt
, und da muß ich sie ihrem eigenen Fleiß überlaßen, wie in Ansehung der
30
Geographie, zu der mein Sohn auch ziemlichen Trieb von selbst hat, und den
31
Vortheil
nunmehr
genüst den mitgebrachten Atlas künftig mitgenießen zu
32
können.
33
Eben da ich diesen Brief anfieng, erhielt ich einen Besuch von dem polnisch
34
reformirten prediger HE
Wanowski
der meinem Sohn aus bloßer Neigung
35
seit einem Jahr Unterricht ertheilt. Ich habe ihn wegen eines polnischen
36
Sprachmeisters um Rath gefragt, er wuste mir aber keinen anzuweisen,
37
versprach aber meinem Sohn einen seiner Anverwandten zum ferneren Gehülfen
S. 24
in der nöthigen Uebung in einiger Zeit anzuweisen. Vor Ostern bin aber nicht
2
anräthig
nichts
etwas neues anzufangen. An
Büchern soll es
nicht fehlen
3
ohne daß es nöthig wäre welche anzuschaffen. Sind Sie aber im stande
4
künftighin etwas von
pollnischer Litteratur
dort aufzutreiben und haben Sie Wege
5
dazu; so versorgen Sie uns damit. Mein Sohn kann dafür ihn zum pollnischen
6
etwas vorbereiten. Meine vornehmste Absicht bis gegen Ostern wird darauf
7
gerichtet seyn das in der Schule versäumte zuerst zu ersetzen, und diesen
8
wesentlichen Mangel hoff ich bald zu heben, wenn der Fortgang dem gemachten
9
Anfang ähnlich bleibt.
10
Was den Styl anbetrifft, so werde für die Grundsätze und den
genium
der
11
lieben Muttersprache soviel sorge tragen, als jede andere erfordert. Mit Chrien
12
und Schulübungen bin ich nicht im stande mich abzugeben; denn alles was ich
13
davon weiß, läuft auf die einzige Zeile hinaus:
14
Scribendi recte, SAPERE est principium et fons.
15
Er hat alle Kapitel, die wir in den
Historicis Selectis
durchgegangen,
16
schriftlich übersetzt und mit einer glücklichen Leichtigkeit. Ich werde fortfahren ihn
17
dazu anzuhalten, ohne daß ich im stande bin noch nöthig finde alles Exercitien
18
mäßig zu corrigiren.
19
Den 17 Abends.
20
Wir haben heute die 9 ersten Kapitel zu Ende gebracht und denken diese Woche
21
mit dem
ersten Buche
der
Histor. select.
fertig zu werden. Sein
Oncle
der
22
HE
Lieut.
hat ihn besucht und ihn zur
Redoute
mitgenommen. Ich bin auf der
23
Loge gewesen, und es thut mir leid ihn nicht kennen gelernt zu haben, um mich
24
theils für einen Vorrath schöner Aepfel noch schönerer Cartoffel u eine
calicut
sche
25
Henne, die er mir vorgestern ins Haus geschickt, bedanken, theils über unser
26
gegenseitiges Verhältnis erklären zu können, welches ich nicht ermangeln werde,
27
so viel möglich bald zu thun. Gestern ist er zu Mittag bey dem HE Stadtr. zu
28
Gaste gewesen, hat ihre Mama besucht u kam früh noch vor Abend zu Hause.
29
Weil dies die letzte
Redoute
seyn soll u er in
Begleitung seines Ohms
dahin
30
gegangen: so hab ich nichts dagegen einzuwenden gehabt; wie ich
mir
31
überhaupt vorgenommen ihm seine Freyheit so wenig zu benehmen, solange ich noch
32
keinen Misbrauch davon absehen kann. Auch bey meinen eignen Kindern
33
verabscheu ich ohne Noth allen Zwang; und er ist kein Kind mehr, sondern im stande
34
selbst zu wählen und zu urtheilen. Es kommt alles darauf an die Wahl seiner
35
Neigungen zu lenken, durch festere Grundsätze und nicht durch bloße äußerl.
36
Formalitäten. Seiner seel. Grosmutter, die ich nur einmal bey Ihnen gesehen
37
u kennen gelernt, muß ich ein gutes Zeugnis geben so weit Sie im stande
S. 25
gewesen die Sache zu übersehen. Von ihrer Seite hat sie alles gethan u scheint
2
nichts an der Erziehung versäumt zu haben; desto mehr aber in Ansehung der
3
Hofmeister. Besonders ist der jetzige lobnichtsche Schul
collega
Krakau, den ich
4
sonst weiter weder von Person noch anders kenne als aus der Veruntreuung
5
der bey ihm zurückgebliebenen Bücher u
Musica
lien ein sehr schlechter Kerl in
6
meinen Augen.
7
Meine Tochter hat den vorigen Sommer das Clavier mit mehr Fortgang als
8
ich ihr zugetraut angefangen. Es steht also immer den ganzen Tag leider! offen
9
und es geht auch keiner ohne eine Uebung u Widerholung seiner noch
10
übriggebliebnen Stücke vorbey. In Ansehung des Zeichnens wünschte ich daß mein
11
Sohn zugl. etwas Anweisung dazu bekäme; er wird aber wegen der
12
Kinderlehre nichts vor
Trinitatis
anfangen können; und ich bin eben so wenig gesinnt
13
vor Ostern einige andere Stunden als mit mir allein, einzuräumen, damit die
14
Sache erst im Gange komme und die Hauptsache überstanden werde, welche
15
gleichwol bey mir auch nur als ein
Leitzeug wesentlicher Bedingungen
,
16
als das
Organon
des wahren Geschmacks am Guten, Wahren und Schönen
17
dient.
Was Demosthenes von
Actio
sagte, ist bey mir
Sprache
, nicht als
18
Gedächtniswerk, sondern als Mathematik, als wahre Kunst zu denken und zu
19
handeln oder sich mitzutheilen und andere zu verstehen und auszulegen. Die
20
beyden jungen Leute scheinen sich auch einander zu lieben und werden mit der
21
Zeit so gute Freunde werden wie ihre beyderseitige Väter, welches für mich eine
22
sehr günstige Vorbedeutung ist.
23
Wegen des Briefwechsels erwart ich Ihre Wünsche u Erinnerungen. Weiter
24
werd ich mich darum nicht bekümmern als insofern Sie mir Winke deshalb
25
ertheilen. Ich
werd
auch nicht eher schreiben, als wann ich es für nöthig finde,
26
und ebenso antworten.
27
In Ansehung lateinscher Autoren dürfen Sie nicht sorgen. Haben Sie aber
28
Kanäle für die polnische Litteratur uns Qvellen zu verschaffen; so wird dies
29
meinem Sohn zur Aufmunterung gereichen das wenige was er weiß, wenn die
30
Zeit komt, mit Ihrem Herrn Sohn zu theilen. Ich habe schon deshalb mehr wie
31
einmal im Sinn gehabt an unsern Geh. R. Kortum zu schreiben; aber er komt
32
entweder nicht mehr hiedurch, oder bekümmert sich nicht mehr um mich, und im
33
letztern Fall halt ich es für meine Pflicht mich eben so wenig und noch weniger
34
um ihn zu bekümmern.
Habeat sibi.
35
Ich hoffe übrigens, daß ich nicht nöthig habe, mich wegen meines letzten
36
Briefes zu entschuldigen, sondern glaube vielmehr dadurch in Ihrem Vertrauen,
37
geliebtester Freund, gewonnen als verloren zu haben. Ihre Antwort hat mich
S. 26
völlig befriedigt u beruhigt. Die geringste Zweydeutigkeit würde mich zu einem
2
ewigen Stillschweigen gegen Sie genöthigt haben; unterdeßen es mein fester
3
Entschluß war, mich während des Aufenthalts Ihres HEn Bruders, mich mit
4
Ihrem Sohn so ritterlich zu beschäftigen, daß es auf Sie beruht hätte, ihn
5
wider zurückzunehmen um sich selbst davon zu überführen, oder wohin Sie Lust
6
gehabt hätten zu verpflanzen, weil er wenigstens dem academischen Unterricht
7
völlig mit göttl. Hülfe entweder bereits gewachsen wäre oder doch hatte im
8
stande seyn sollen sich selbst weiter zu
helfen
9
Bin ich im Stande im Jahr das auszurichten, wozu Sie ein Paar ausgesetzt
10
oder solten sich Umstände bi
ete
n, die mich unvermögend machten meinen
11
eignen Wunsch zu erreichen: so wird mich kein Eigennutz abhalten Ihnen,
12
Geliebtester Freund, alles redlich u treulich zu melden, ohne Ansehen meiner und
13
fremder Person.
14
Beurtheilen Sie übrigens nicht den Fortgang Ihres HEn Sohnes aus seinen
15
Briefen, und wenn Sie aus selbigen etwas zu schließen Anlaß hätten: so bitte
16
hierin auch aufrichtig mit mir zu Werk zu gehen. Ein guter Baumeister arbeitet
17
in die Erde, ehe das geringste über derselben ins Auge fällt. Je geschwinder man
18
mit dem letzten eilt zur Schau; desto weniger taugt der Grund.
19
Zum glücklichen Arbeiten gehört gute Laune und Zufriedenheit der Seele.
20
Einen jungen Menschen, der zum Vergnügen und zu einer gewißen
21
Gemächlichkeit und eiteln Leichtsinn durch Umstände und ohne seine Schuld verwöhnt
22
worden, kann man nicht den Geschmack u die Wollust der Zerstreuung auf
23
einmal entziehen; ohne seine
Fähigkeiten
stumpf zu machen und seinen
guten
24
Willen
zu ermüden und entkräften. An beyden fehlt es Gottlob! nicht, und es
25
komt nur darauf an beyde zu lenken, zu unterhalten und ihre magnetische Kraft
26
zu stärken.
27
Meine Haushaltung geht ihren Gang fort; aber sein Appetit ist beynahe die
28
Hälfte von meinem.
Delicat
eßen lieb ich nicht, aber eine gute Fleischsuppe eß ich
29
lieber als Grütze. Bey gegenwärtiger Witterung ist ein bloßes Spatziergehen
30
nicht schicklich. Es ist mir also lieb, daß er seinen unpäßl.
Oncle
besucht, und er
31
ist gestern von selbst bey seiner würdigen Großmutter gewesen. Wenn er die
32
Woche über arbeitet, warum sollt ich ihm nicht gönnen, wenn es Weg und
33
Witterung erlaubt den Sontag auf dem Lande zuzubringen, so lange unsern
34
Arbeiten dadurch kein Eintrag geschieht, sondern selbige vielmehr durch ein wenig
35
Erholung u Veränderung befördert werden. Das einem alten Mann natürl.
36
Mistrauen gegen junge Leute erhält mich ohnehin wachsam und meine etwas
37
philosophische Neugierde wird eben so sehr durch
Hören von weitem
als
S. 27
Gehen in der Nähe
erweckt. Selbst eingebildete Verhältniße sind mir eben so
2
wenig gleichgiltig wie die Träume –
3
Kurz, ich weiß nicht anders zu verfahren, als wie ich es mit eignen Kindern
4
mache, an deren Liebe mir mehr gelegen ist, als an meinem väterlichen
5
Ansehen, und ihr Glück doch das einzige ist, was Eltern wünschen können für sich
6
selbst.
7
Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemalin und ganzen Hause. Sobald ein
8
Bündel mit Wäsche das hier liegt, abgeht, wird mein Sohn vielleicht ein klein
9
lateinsches Büchlein beylegen, das der älteste Bruder seinem nächsten zur
10
Aufmunterung einer guten Nachfolge
addressi
ren wird. Es sind kleine lateinsche
11
Briefe an einen engl. Prinzen von 7 Jahren, deren Auflage ich des HE Kanzler
12
von Korff Excell. zu Gefallen besorgt habe.
13
Mein ganzes Haus schläft, die Hausmutter ausgenommen. Wie vergnügt
14
Ihr Herr Sohn gewesen werd ich erst morgen früh
erfahren
15
den 18.
16
Er kam heut zu rechter Zeit zu Hause, und seine
Cousinen
sind angekommen,
17
daher er morgen bey dem kranken
Oncle
dem HE. Stadtrath zu Mittag speisen
18
wird. Er hat nicht getanzt, sondern ist mit HE.
Lieutenant
bloß Zuschauer
19
gewesen.
20
Weil er heut nicht viel Zeit gehabt im Tage sich auf dem Clavier zu üben; so
21
beschlüst er den Abend damit; und ich alter Mann bin so schläfrich, als wenn ich
22
auch gestern der
Redoute
beygewohnt. Leben Sie also wohl; ich ersterbe unter
23
Empfehlung der Meinigen
24
Ihr ergebenster Johann Georg Hamann.
25
Den 19 –
26
Nicht blos
ob fugam vacui
sondern aus wahrer Zufriedenheit melde Ihnen
27
daß wir diesen Morgen das 12 Kapitel
begonnen
, u mit so einem
28
außerordentl. Fortgange, daß ich mir mehr und alles nach Herzenswunsche von einem
29
so guten Anfange verspreche. Gott erfülle alle meine Ahndungen. Daß Sie aber
30
eine so günstige Anlage nicht beßer genutzt u sich dieses Vergnügens so gantz
31
entzogen haben, bleibt immer ein Stachel des Vorwurfs, womit ich diesen
32
Brief schlüßen muß. Versäumen Sie wenigstens die jüngeren nicht so und
33
leben Sie nochmals wol u bleiben Sie gut Ihrem alten Freunde
Hamann.
Provenienz
Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 3.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 321–329.
ZH V 22 f., Nr. 690.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
22/30 |
Febr. |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Febr |
23/4 |
und ]
|
So ZH; Abschrift Wardas mit Wortverdopplung am Zeilenfall: und / und |
23/14 |
befördern ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: befördern. |
23/31 |
nunmehr ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: nunmehro |
26/8 |
helfen ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: helfen. |
27/14 |
erfahren ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: erfahren. |