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Kgsberg den 1 Februar 83.
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Herzlich geliebtester Freund,
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Diesen ganzen ersten Monath des N. Jahres gewartet aber umsonst. Nicht
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ein Laut noch ein Buchstab weder aus Weimar noch Berl. Heute ist ein
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abscheulicher Bücherkasten von der Lilienthalschen
Auction
an Hartknoch
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gegangen u ich danke Gott den Wust einmal los geworden zu seyn von engl.
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Freygeistern u alt deutschen Schwärmern. Bald wär es mir wie den Israeliten mit
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den Wachteln gegangen; so eckel ist mir Lesen und Schreiben geworden.
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Wie geht es Ihnen und wie steht es in Ihrem Hause? Gott gebe mir doch
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bald gute Nachricht von Ihrer Gesundheit u. erfreuen Sie auch Ihre liebe
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Schwester mit einer Antwort auf Einlage. Eine offene an den jungen Neumann
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hat auch erst heute abgehen können. Den 8 traff unser
George Berens
ein,
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ziemlich müde u matt von seiner Wallfahrt. Schelte hat er gnug bekommen die
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Gevatterschaft so schnöde vorbey gegangen zu seyn. Die Schuld mag wol nicht
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an ihm gelegen haben; sondern er hat aus Flensburg den geradesten Weg
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nehmen müßen. Den 13 Jänner reiste er ab u ich erwarte mit jeder Post einen
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Wink von seiner Ankunft wenigstens durch Hartknoch, der eine Schwägerin
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Me Laval
hier plötzl. verloren. Vorigen Sonntag komt der jüngste Lindner als
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Doctorandus Med.
hier an, seine alte 82jährige Mutter noch zu letzen und hat
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mir des ältesten Sohn aus Mitau mitgebracht, zur
Pension
in meinem Hause.
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Der junge Mensch ist gantz nach meinem Geschmack aber von allen Seiten hör
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ich üble Gerüchte von des Vaters abscheul. Geitze, bey seinem großen Vermögen.
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Ich habe ihm heute geschrieben und hab ihm reinen Wein eingeschenkt. Was er
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mir antworten wird u. ob die Gerüchte gegründet sind, sollen Sie auch
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erfahren. Meine letzte Verlegenheit wegen der
Foye
Gelder wißen Sie bereits.
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Den 1 Jänner bin ins Cabinet gegangen – aber weder
Stimme,
noch Antwort
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noch Aufmerken von Baal. Wenigstens hab ich mein Herz erleichtert u bin jetzt
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ruhig. Eben an dem Tage da Berens abreiste fand sich ein Käufer zu einem
S. 19
meiner Häuser; ich habe abermahls mit einem Verlust der Hälfte auf 1300 fl.
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zugeschlagen. So spottwolfeil auch der Preis ist, scheint es doch dem
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Kauflustigen an Gelde zu fehlen, und vorige Woche brachte mir auch Hänschen die
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Nachricht, daß mein Beichtvater wär abgeholt worden den Miethsmann des
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andern Hauses zu berichten, daß ich also von allen Seiten in der Klemme, und
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doch ziemlich gutes Muths bin, ein kleines Flußfieber ausgenommen das mich
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seit vorgestern Abend anwandelt, bey dem ich heiter wie gewöhnlich bin; das
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mir eben nicht recht gefällt
Praefiscine dixerim.
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Den 3 –
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Ich befinde mich so wenig im stande zu schreiben; daß wenn ich mir nicht ein
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Gewißen draus machte Einl. noch länger aufzuhalten, ich kaum Herz hatte die
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Feder anzusetzen. Pf. Fischer erinnert sich fleißig Ihrer u nimt an Nachrichten
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von Ihnen warmen Antheil. Mein neuer Gesellschafter ist gestern erst vom
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Lande zu Hause gekommen. Ich bin nun erst im stande gewesen seine Fähigkeiten
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zu untersuchen. Bey der Großmutter erzogen hier auf dem Lande – dies verzeih
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ich alles: aber nun 2 Jahr in Mitau unter des Vaters Augen so abscheulig in
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Ansehung der ersten Schulkenntniße verwahrloset, daß ich mirs nicht habe
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vorstellen können. Ich habe mir also wider mit meinem guten Willen ein schön
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Stück herculischer Arbeit aufgebürdet. – Ein derber Kappzaum für mich alle
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Autorgrillen zu vertreiben, wenn nicht des Vaters Geitz mich dieser Last
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überhebt. Vielleicht geht aber alles beßer wie ichs denke; denn meine
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Einbildungskraft wechselt in so hellen u dunkeln Farben, daß ich vor zu vielem oder zu
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schwachem Lichte die Dinge selbst nicht sehen kann.
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Dem Hartknoch zu Gefallen hatte ich mich anheischig gemacht des Dimsdale
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Reise zu übersetzen. Mir schauderte vor der Arbeit wenn ich daran gedachte. Zum
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Glück ist alles schon vor einem Jahr im Deutschen herausgekommen, und ich
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finde mich bey meiner jetzigen Lage, wo es schlechterdings unmögl. gewesen
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wäre, sehr erleichtert, daß ich mein Wort weder halten noch brechen darf.
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Den ersten Tag in diesem Jahre habe keinen Menschen gesehen u mich auch
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Niemand. Ich schrieb meinen Brief an den
φφ
en
zu
S.S.
ab u erhielte
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einen, deßen Beyl. in der
inaugural-Disputation
des
Ioh. Iac. Stippe
bestand,
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von der
Thomasius
kaum selbst
Autor
sondern wahrscheinlich bloßer
Praeses
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gewesen. Ich habe selbige sehr aufmerksam u mit viel Vergnügen durchgelesen.
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Der
Status quaestionis
ist mit vieler Genauigkeit aus einander gesetzt u
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bestimmt. In Ansehung des
de Puy
hab ich eben dieselben Vorstellungen gehabt,
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aber hier umsonst nach einer alten Ausgabe hier getrachtet, auch die alte deutsche
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Uebersetzung von 665 nicht auftreiben können. Kein Stück des Mercurs und
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überhaupt fast gar nichts von MichaelisMeße zu sehen bekommen; weiß also
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von gar nichts. In einem der neuesten Stücke der Allg. Bibl. sollen Sie sehr
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gelobt aber der arme Pilatus sehr mitgenommen seyn, habe aber noch nichts
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darin selbst gelesen.
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Am 2ten Sont nach Epiphanias hatten meine Kinder Lavaters Gedicht auf
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diese Begebenheit hervorgesucht. Natürlicher weise muste mir Gevatter
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Kaufmann einfallen. Ein paar Stunden darauf erhielt ich durch den Postboten ein
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dickes Pack mit Spangenbergs
Idea Fidei Fratrum
mir eigentl.
dedicirt
u einem
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Briefe vom Grafen von Kayserlingk, den Kraus hier führte und gegenwartig
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beym
Regi
ment von
Bosse
Dienste thut. Der Brief war französisch u enthielte
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viel Gutes von Kaufmann u seiner Frau, u daß er gegenwärtig die
Medicin
in
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NeuSaltz
practi
sirt – aber ohne
datum
noch Ort, daß ich nicht recht weiß wohin
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ich meine Antwort richten soll, habe auch das Buch selbst noch keine Zeit gehabt
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anzusehen. Ich saß eben u
labori
rte unter einem Schwarm von Separatisten u
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Fanatikern, an deren keinem ich so viel Geschmack als an
Weyers
Schriften
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gefunden habe, und also der Speise von Herzen überdrüßig worden war.
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Zinzendorfs Leben von Spangenberg hat mich sehr unterhalten und eingenommen, daß
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es mir lieb ist auch jene Glaubensidee zu besitzen und so bald ich kann zu nutzen.
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Gevatter Claudius habe auch erst vorigen Monath antworten u ihm einige
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Subscrib
enten mittheilen können; so unfruchtbar u mir überlästig auch das
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Subscriptions
wesen geworden.
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Den 6 –
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Wider einen Posttag versäumt. Ich eile nun gegenwärtiges zu schließen.
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Vergeben Sie liebster bester Freund, daß ich weder Stoff noch Muth habe zu
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schreiben. Meine todte unfruchtbare Lage ist zum Theil Schuld daran und oben
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ein bin ich mit lauter Kleinigkeiten geplackt, habe diese ganze Woche mit
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Schulmeistern zugebracht und zum Glück mein kleines Flußfieber dazu anwenden
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können.
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Erfreuen Sie mich bald mit guten Nachrichten von Ihrer eignen Gesundheit.
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Ich hoffe daß alles mit Ihrer würdigen Hälfte, meiner herzlich verehrten Frau
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Gevatterin, auch gut geht. Gott seegne Sie beyderseits, mein liebes Pathchen
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und sein Geschwister. In meinem Hause steht alles wol, dem Himmel sey Dank.
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Wie wird die
Sache,
mit Nabal u dem Mercur beygelegt werden. Haben Sie sein
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libellum famosum
gelesen und werden Sie antworten? Wird der 2te Theil der
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hebr. Poesie
auf Ostern erscheinen?
S. 21
Ich bin nicht mehr im stande zu schreiben; so taumelt alles um mir herum.
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Vergeßen Sie nicht Ihren alten Gevatter, Landsmann u Freund, der Sie im
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Geist umarmt. Gott seegne Sie und erfülle alle Ihre Wünsche, wie die Meinigen.
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Amen.
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Joh Georg Hamann.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 245.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 319–321.
ZH V 18–21, Nr. 688.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
18/32 |
Stimme, ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Stimme |
19/30 |
φφ en |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Philosophen |
20/34 |
Sache, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Sache |