680
467/28
Kgsb. den 27
Xbr.
82.

29
HöchstzuEhrender Herr Hofrath,

30
Herzlich geliebtester Freund,

31
Gestern Abend erhielt Ihren angenehmen Brief in einer außerordentlich

32
dazu gestimmten Gemüthslage; ohngeachtet der elenden Witterung und eines

33
glatten gefährlichen Weges ließ ich mich diesen Nachmittag von meinem

34
Sohn nach dem Roßgarten leiten um Ihrer alten würdigen Frau Mutter

S. 468
eine Freude zu machen, die voller Ungedult und Erwartung Ihrer letzten

2
Stunde und Ihrer letzten Freude ist, und noch mancherley auf dem Herzen

3
zu haben scheint. Da Sie Selbst nicht kommen können; so thun Sie Ihr

4
bestes den HEn Bruder zu befördern, und erfüllen Sie wenigstens dadurch

5
Ihre kindliche Pflicht. Denn Sie können sich nicht vorstellen, wie Hoffnung

6
und Verzweiflung in Ihrem Gemüthe ringt und vermuthlich noch Ihre letzte

7
Kräfte verzehrt und vollends aufreibt. So viel von unserm Anliegen.

8
Was das Ihrige anbetrifft: so geht gewiß mein guter Wille so weit, als

9
nur Ihr freundschaftliches Vertrauen gehen kann. Aber reinen Wein –

10
Erstlich meine äußerl. Lage ist folgende. Ich genüße ein freyes Logis, habe

11
aber durch die neue Einrichtungen zwo schöne Stuben verloren und nur 2

12
übrig behalten nebst einer schönen Sommerstube. In der einen schlaf ich

13
mit meinem Sohn unter meinen Büchern und in der andern meine 3 Mädchen

14
mit ihrer Mutter. Mein ganzes Gehalt ist 25 rth u 1 rth 22½ gl.

15
Schreibgebühr und bestreitet Eßen und Trinken nebst den öffentl. Abgaben. Ich

16
habe kein einziges
Emolument,
zu Holtz und Kleidung als die sogenannte

17
Fooi
Gelder, welche die
Regie
immer geschmälert hat, und wegen welcher

18
meine Amtsbrüder sich an Ihr
Forum,
den Minister u endl. ins
Cabinet

19
gemeldet haben ohne einer Antwort gewürdigt worden zu seyn. Ich stehe

20
also im Begriff auch diesen letzten Schritt für meinen eignen Kopf zu wagen

21
und meine Haut zu Markt zu bringen. Der Januar wird diesen Schritt und

22
den Ausgang deßelben entscheiden. In was für Unruhe mein Gemüth ist u

23
während dieser Zeit seyn wird, können Sie sich leicht vorstellen.

24
Mein Dienst besteht freylich mehr in Muße als in Geschäften; dennoch muß

25
ich wenigstens meine Stunden abwarten und habe nur selbst im Ab- und

26
Zugehen meinen Sohn unterrichten können. Dem
docendo discimus
zu

27
Gefallen hab ich 2 Versuche mit jungen Leuten gemacht, aber fruchtlos. Er

28
ist den 27
Sept
in sein 14tes Jahr getreten u geht gegenwärtig in die

29
Kinderlehr. Mit dem Griechischen hab ich den Anfang bey ihm gemacht u mit gutem

30
Fortgange. Wir lesen jetzt die Odyßee zum 2ten mal und peitschen auch den

31
Pindar
durch. Ohne jemals ein
Exercitium
gemacht zu haben, welches ein

32
wesentlicher Fehler ist, lesen wir gegenwärtig die
Aeneide.
Im Hebräischen

33
sind wir im Josua – und ich sehe diese Uebung zugl. als ein Werkzeug an, ihn

34
zum Arabischen vorzubereiten, das ich für einen gelehrten Artzt eben so

35
wesentlich halte als das Griechische wegen der Qvellen dieser Wißenschaft in

36
beyden Sprachen. Im polnischen ist sein Lehrmeister HE Prediger
Wanowski,

37
der sich blos aus Freundschaft mit ihm abgiebt, zieml. zufrieden. Das Engl.

S. 469
ist blos als eine Nebensache mit ihm getrieben worden und das
franz.
erst

2
diesen Herbst angefangen. Die Freundschaft eines jungen Menschen,

3
namens Hill, desgl. ich mir wol gewünscht aber niemals hier zu finden gehofft,

4
ist eine
s
der glücklichsten Hülfsmittel für ihn gewesen. Dieser junge Mensch

5
hat einen unglaubl. Hang zu Sprachen, besonders lebenden und dem

6
griechischen u Arabischen. Italienisch wuste er schon wie ich ihn kennen lernte,

7
aber zum Engl. Spanischen, Portugiesischen hab ich wenigstens als Wetzstein

8
gedient und im Griechischen ist er der Gehülfe meines Sohnes. Seine

9
brennende u beynahe angeerbte Begierde zu Reisen und Ebentheuern, macht mich

10
besorgt, daß ich ihn nicht lange hier werde halten können. Dies wären meine

11
beyde Stützen. Die alte Mama ist gantz dagegen, stellt sich aber die

12
gegenwärtige Verbindungen und den FamilienEinfluß, wie damals, vor; übrigens

13
aber giebt sie Ihrem lieben Sohn ein sehr gutes Zeugnis, denn ich selbst

14
habe ein sehr dunkles Bild von ihm, weil ich ihn meines Wißens nicht mehr

15
als einmal gesehen.

16
Gesetzt aber, daß auch obiger Schritt keine übeln sondern vortheilhafte

17
Folgen für meine äußern Umstände hätte, oder daß ich deßelben gantz

18
überhoben wäre: so fehlt mir doch noch eine nähere Kenntnis von Alter,

19
Bestimmungs
, Neigung und dem eigentlich zu ersetzenden Mangel – Da ich kaum

20
glaube, daß es Ihre Absicht ist ihn mit dem HE Bruder zugl. herzuschicken,

21
so könnte dieser erst meine eigene Umstände, die Beschaffenheit meines

22
Sohns selbst untersuchen, und zugl. auch mir das Nöthige Licht

23
mittheilen.
Hintergehen werd ich Sie nicht
, sobald ich sehen sollte, daß weder

24
Ihr noch mein Wunsch erreicht werden könnte – Es wird aber doch Zeit und

25
Geld verloren bey einem übereilten Zuge von der Art. Das achtzehnte Jahr

26
ist schon ein gefährliches Alter, und ich begreife nicht, wie ein junger Mensch

27
von Fähigkeit u Lust sich nicht selbst zu helfen imstande seyn sollte. Was hat

28
er denn während einer so langen Zeit gethan? Worauf geht seine Neigung, und

29
worinn haben seine Beschäftigungen bestanden? Nicht des Vaters

30
Vertrauen, sondern des Sohns ist die Hauptsache, und denn eine Harmonie Ihres

31
und des meinigen. Das sind lauter Fragen, die beßer durch einen Blick als

32
schriftlich abgemacht werden können. Mein Herz sagt zu Allem ja, und mein

33
Vorwitz
Experimente zu machen ist auch noch so lebhaft wie mein Appetit –

34
aber unser dreyseitiges Bestes, auch vierseitiges, (weil ich meinen Sohn als

35
eine Hauptperson mit ansehen muß,) hängt mehr von einem reifen,

36
überlegten, kalten Urtheil ab. Wie wär es, wenn Ihr lieber Sohn seinen
Oncle

37
begleitete, an Ihrer Stelle blos die Reife thäte um den Seegen der alten

S. 470
Grosmutter zu empfangen, der eben nicht im Leibl. bestehen wird; so käm

2
es alles auf das Urtheil der
alten
und den Geschmack der
jungen Leute

3
an – und auf eine
Probe
, die doch nicht gantz fruchtlos seyn würde. Scheint

4
Ihnen dies nicht selbst, die
vernünftigste
,
klügste
und
ehrlichste
Maasregul

5
in diesem Fall zu seyn? Er bleibt so lange unter Aufsicht seines
Oncle
und

6
in seiner Gesellschaft. Will er sich behelfen bey mir; so nehm ich
ihn
mit beyden

7
Armen auf, wie Sie mich so oft aufgenommen haben. Geht es, so bleibt

8
er hier; geht es nicht, so kehrt er wieder zurück: Ihr Herr Bruder kann alles

9
in Ihrem Namen dann abmachen, eine gegenseitige Freyheit uns unsere

10
Gesinnungen einander über alles mitzutheilen, gehört zu
unser
alten

11
verjährten Freundschaft, und was wir denken und unterhandeln, soll Ihnen

12
alsdenn zur letzten Einwilligung mitgetheilt werden. Ich erwarte hierüber

13
mit der Ankunft des einen oder beyder Ihre Entschließung, und weiß keinen

14
andern Ausweg uns beyde zu befriedigen als den vorgeschlagenen mit dem

15
Wunsch, daß die Vorsehung alles zu Befestigung und Verständigung unserer

16
gemeinschaftlichen Gesinnungen und Bedürfniße und Glückseeligkeit lenke

17
und regiere Amen.

18
Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemalin, deren Genehmigung unseres

19
Bündnißes ich auch zum voraus setze. Gott laße den Eintritt des neuen

20
Jahres für Ihr ganzes Haus geseegnet seyn; schenke Ihnen und den Ihrigen

21
Wohlergehen und langes Leben, ein ruhiges Alter und Freude an

22
Nachkommen und daß es Ihrem ersten und ältesten Sohne wie dem Sirach

23
werden möge, der
am letzten auferwachte, wie einer der im Herbst

24
nachlieset, aber durch Gottes Seegen ward seine Kelter voll wie im vollen

25
Herbst
.
XXXIII.
16. 17. Ich ersterbe Ihr alter treuergebenster u

26
verpflichtester Freund und Diener

27
Johann Georg hamann.


28
Einl. bitte eiligst zu befördern. Und hiemit Gott empfohlen. Dem HE

29
Bruder guten Winter und Weg und Gesellschaft und
Ischwocnik
zum

30
Herfluge.


31
Adresse mit Mundlackrest:

32
Des / HErrn Hofraths Lindner / Wolgeboren / zu /
Mitau
.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 3.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 306–311.

ZH IV 467–470, Nr. 680.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
469/19
Bestimmungs
]
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
Bestimmung
470/10
unser
]
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
unsrer