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437/24
Sie sehen aus dem Zuschnitt meines Briefes, liebster H., daß Sie diesmal

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nur ein
billet doux
statt eines Sendschreibens erhalten, woran denn so wie auch

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an meinem langen Stillschweigen ein ungewöhnl. Drang meiner Arbeiten

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u. Zwackereien Schuld ist. Ich hoffe bald über zu seyn u. denn ruhiger u.

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länger zu schreiben.

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Zuförderst also das Mädchengesicht in Göttingen. Es ist wie Sie sagen:

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nur hat er an mich keinen Br.
mitgebracht;
sondern einen Gruß von Reichardt.

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Ich konnte ihn wenig sprechen, weil es eben im
examine
war u. bat ihn also

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zu Tisch, worauf er sogleich mit der Post wegging. Ein
ige
paar Wochen

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nachher kommt ein Br. an, worinn er mir seine dürftige Umstände meldet:

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der Br. war elend, nicht einmal orthogr. geschrieben u. die Vorstellung seiner

S. 438
Armuth mit einer Reise nach dem
Göt
theuren Göttingen so
con
trastirend,

2
daß ich viel Zweifel schöpfte, ihm indeß mit der ersten Post 2. Louisdor schickte

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u. ihn an Heine zum Freitisch empfahl. Eben da kam Ihr Brief, der mir Licht

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gab u. eben da schrieb mir auch Heine von seiner groben Unwißenheit, die

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er geäußert, daß ich also diesem nur kurz schrieb, sich in Acht zu nehmen u.

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etwa nicht zu viel zu trauen, (das denn Heine von selbst nicht thut) u. so

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wartete ich, er sollte wieder schreiben, das er aber bisher nicht gethan hat.

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Ich danke Ihnen daß Sie mich aus dem Irrthum gerißen; vielleicht beßert

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er sich noch, wenn er sieht, daß
es
er mit seinen Ränken nicht fortkommt – –

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Nicolais grobes Buch werden Sie gelesen haben. Ich habe es noch nicht,

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höre aber, daß er in Berlin jedermann wieder zurückgewonnen hat. Was

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rathen Sie mir? zu antworten oder zu schweigen? Auf Ihr Orakel kommt

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mir äußerst viel an! –

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Die Augenblicke, die ich dem Schwall u. Wirbel meiner Nichtgeschäfte

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habe entziehen können, wende ich auf eine neue Ausgabe der Philos. der

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Gesch. um die mich Hartkn. sehr peinigt. Die Ebr. Poesie mag liegen; es fehlt

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mir auch zu
Ihrer
ihrer Fortsetzung
Lust u. Aufschwung. Eben habe ich einen

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traurigen Bußzettel gemacht u. gehe wieder an die Durchsicht eines traurigen

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Candidaten
speciminis
u. leidige Amtsberichte. So gehts, liebster Alter! u.

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so heißts auch mit mir von Jahr zu Jahr mehr in einem andern Sinne:

21
sic vos non vobis
– –

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Meine Frau hat den ganzen Sommer über gekränkelt u. alle böse Zufälle

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haben sich verbinden müssen, das wiederkehrende Licht
lein
oder Flämlein

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ihrer Gesundheit rauh anzuwehen. Ich hoffe von der immer rollenden Zeit

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jetzt beßere Augenblicke u. Monate für sie; u. Eins vor Allem für uns beide,

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Ruhe, Ruhe! Ihr Haus, lieber Alter, u. Sie als Patriarchen schließen wir

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m
herzl.
mit ein. Ruhe! Ruhe!

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Neum. ist in Riga; aber noch ohne Condition u. lauert bei Hartkn. Es will

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mit dem jungen Menschen auf keine Weise recht fort u. er liegt uns unverrückt

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auf der Seele. Ich will wieder an G. Berens schreiben, ob sich nicht ein

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Pflaumen- u. Tutenkram für ihn finde –

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Und was machen Sie, Liebster, einziger Bester. Schweigen Sie doch nicht

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wenn ich
schweige
.
Ihre Briefe stärken u. erquicken mein Herz. Ich habe hier

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keine Seele die mein Innerstes berührt, als mein Weib; von allem andern

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bin ich beinahe los oder es dient nur zur Verwirrung. Das Weimar wird

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jetzt wie ein Taubenhaus, wo Fremde ein- u. ausfliegen der lieben Celebrität

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wegen u. selten bringen sie ein Oelblatt im
Schnabel
. Von diesem allen ein

S. 439
andermal mehr. Laßen Sie mich also nicht so einsam, lieber Alter, Ihre Br.

2
sind mir Fest u. Freude. Mich ahndets, an Ihre Autorschaft mag ich Ihnen

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nicht denken; seyn Sie also in Ihren Br. an mich Autor.

4
Leben Sie wohl, Lieber! Hier ist eine Einlage an meine Schwester, die ich

5
bald zu bestellen bitte; sie hat lange gewartet. Meine Fr. grüßt u. empfielt sich

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Ihnen herzl. Deßgleichen meine kleine Heerde. Adieu, adieu, Gott befohlen.

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den 4. November.

8
H.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 241–242.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 291 f.

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 186–188.

ZH IV 437–439, Nr. 669.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
437/30
mitgebracht;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
mitgebracht:
438/17
Ihrer […] Fortsetzung]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Ihrer
Fortsetzung
438/27
m
herzl.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
herzl.
438/33
schweige
.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
schweige.