654
397/23
Königsb.
Dom VI. p. Trin.
Den 7
Julii
782.

24
Herzlich geliebtester Gevatter, Landsmann und Freund,

25
Die drey ersten Tage dieses Monaths sind mir die angenehmsten dieses

26
Jahrs gewesen, daß ich Ihnen auch davon Rechenschaft geben muß. Ich lag

27
den 1
huj.
im tiefen Nachmittagsschlaf, als mir jemand mitten in der Stube

28
erschien, mit einem runden Hut auf dem Kopf, den ich vor Schlaf und

29
Kurzsichtigkeit nicht zu erkennen im stande war – und an den ich mir erst in

30
14 Tagen zu denken vorgenommen hatte. Wer sollte es anders seyn als unser

31
alte Hartknoch? Die Taschen voll, mit Waaren aus der Schweitz – einem

32
Briefe von unserm Johann Georg Müller und 2 Proben fetten und grünen

33
Käse, der mir würklich gleich den
Trauben Eskol
schmeckt, wie er sie selbst

34
nennt. Lavater hat zwar nicht geschrieben, aber
heurige
und
fernige

S. 398
mitgegeben, und der alte Vater Bodmer hat eben die 2 Scherflein gelesen und

2
den
Leviten von Ephraim
eben zur Hand gehabt. Nachdem ich alles in

3
Empfang genommen, erhub ich mich von meinem Lager – – – – –

4
Den folgenden Tag
Mariä Heimsuchung
kam Hartknoch wider mit vollen

5
Taschen und brachte mir aus dem
Hartungschen Laden
Ihr

6
sehnsuchtsvoll vermißtes
und erwünschtes Päckchen, das ich noch denselben Abend halb

7
verschlungen, und die andere Hälfte zum Frühstück genoßen, und alle meine

8
Erwartung
nicht nur befriedigt sondern auch
übertroffen
, ohngeachtet

9
Ihrer Besorgniße, woran Sie mir Theil nehmen laßen.

10
Den 3
huj.
erhielte noch aus dem andern Buchladen ein Päckchen von

11
Häfeli
den Hartknoch aber nicht selbst gesprochen. Er ist bereits vorgestern

12
abgegangen mit einem Fuhrmann – und mit einem sehr guten Ansehen von

13
Gesundheit, die er sich durch seine vergnügte und glückliche Reise scheint

14
erworben zu haben, aber mit einigen Unruhen, die in seinen Geschäften auf

15
ihn warten wegen
einiger
gewißer Neuerungen im Zollwesen.

16
Gott schenke Ihnen doch Gesundheit, Ruhe und Glück zur Fortsetzung

17
Ihres Meisterstücks. Auch die 2
te
Fortsetzung Ihrer allerliebsten Briefe habe

18
von Hartknoch zu lesen bekommen. Er versprach mir selbige hier zu laßen

19
biß ich sie von Ihnen erhielte; ich wollte ihn noch gestern
früh
Morgen

20
daran erinnern, er ist aber einen Tag oder Abend früher fortgefahren. Gott

21
begleite ihn – Er hat mir wenigstens gute und angenehme Nachrichten von

22
Ihrer allerseitigen Gesundheit und Wohl mitgebracht, und daß alle
unsere

23
kummerhafte Antheil ein bloßes Misverständnis gewesen.

24
Misverständniße
gehören wie die Dißonanzen zur Harmonie des menschl. Lebens und der

25
göttl. Haushaltung.
Ergo
valeant
cum ceteris erroribus!

26
Unsere Loge, ich meyne die am holländischen Baum, meine alte Nachbarin,

27
hält heute Ihren Jahrestag; die andere auf dem Tragheim von der laxen

28
Observ. feyert immer den Johannistag. Ich möchte beynahe drauf wetten

29
und eine hohe Wette thun, daß heute auch Ihre Gesundheit daselbst getrunken

30
werden wird, wenigstens
Ihres Namens
mit Ruhm gedacht – aber nicht

31
so Hephästions u Nabals, die sich dort beyde stinkend gemacht.

32
Das Geheimnis unsers
reisenden Vetters
ist nunmehr verrathen, trotz

33
aller mögl.
Discretion
von seiner und unsers Freundes Seite. Sie wißen,

34
daß ich dem braven Reich. mein zeitliches Glück zu verdanken habe, und alle

35
seine
ettwanige
Menschlichkeiten
aufs genaueste genommen, bleibt er immer

36
ein verdienter Mann in häuslichen und thätigen Verhältnißen. Weil also

37
vielleicht seine
Sicherheit
dabey im Spiel ist, so theile ich es Ihnen auch

S. 399
noch als ein
verrathenes Geheimnis
mit, daß der
rätselhafte
Vetter Becker

2
der durch seine letzte Autorschaft und den hiesigen Verlag seiner Schrift über

3
Nordamerika und Demokratie
kein anderer als der berüchtigte aber

4
wenigstens für mich rechtschaffene
Schmohl
ist. Ich habe den Menschen geliebt,

5
und hatte ihn gerne unserm Freunde abgenommen und einen Sommer hier

6
behalten, wenn ich einhundert fl. wenigstens zu seinem nothdürftigen

7
Unterhalt hätte ablegen können
wich
wie ich
einhundert rthl. einmal liegen hatte als ich

8
Claudius vor einigen Jahren einlud, die ich aber zu meiner Kleidung

9
anwand, von der ich noch bestehe. Seine Zuneigung schien eben so stark zu seyn –

10
Das Geheimnis schwebte ihm mehr als einmal auf den Lippen und ich weiß

11
selbst nicht was mich zurückhielt es ihm nicht abzunehmen. Ich freue mich

12
ihn wenigstens 8 Tage in meinem Hause beherbergt zu haben – während

13
meines Podagra. Er hat mir einen zween Bogen langen Brief in engl. oder

14
vielmehr
anglo-
sächsischer Sprache geschrieben, hat wenigstens Adams seinem

15
Ideal und
sich selbst
ähnlich gefunden, ohne das letztere zu merken, und

16
schwimmt vielleicht gegenwärtig schon nach Amerika, woher ich mehr erwarte.

17
Sein
Corpus delicti,
das hier mit 100 # weiß nicht warum verboten,

18
Mochels Urne
und deßen kleine Reliquien habe auch nun erst gelesen, und

19
wundere mich, daß letztere Schriften so lange für mich unbekannt geblieben.

20
Erinnern Sie sich noch seines Besuchs, und unter welchem Namen er denselben

21
bey Ihnen abgelegt? Von seinen wunderl. ebentheuerl. Schicksalen weiß eben

22
keine Umstände, als daß er aus einem Gefängniße zu Halle entflohen seyn

23
soll. Mit welcher
Gefahr
unser grosmüthige Landsmann ihn so lange hat

24
bergen und erhalten können, können Sie leicht erachten.

25
Heute vor 3 Wochen bin ich den bösen Menschen, den ältesten HE von

26
Hogendorp losgeworden. Alle Arbeit ist an ihm verloren gewesen u er ist wie

27
ein betrogener u Betrüger von hier nach Haag gegangen zum Schimpf u

28
Herzeleid seiner vortrefl. Mutter – Durch Kayserlingks Vorspruch hat er

29
seinen Abschied als
Capitain
bekommen, und alle kindl. Liebe die er in diesem

30
Hause genoßen mit schwarzem Undank belohnt u durch Niederträchtigkeiten

31
beschämt. Ein würdiger
Pendant
zum Abbt
Penzel
der sich auch noch meiner

32
erinnert durch eine
Trigam observationum Numismaticarum,
ein Paar

33
Bogen voller Druckfehler u grober Sprachschnitzer die schon vor ein paar

34
Jahren zu
Cracau
gedruckt aber mir erst
medio pr.
zu Handen
gekommen

35
Pestalozzi zweites Volksbuch werden Sie, liebster H. mit Vergnügen

36
schon gelesen haben oder noch lesen. Sonst weiß noch fast nichts vom

37
neuen Meßgut, das erst vorige Woche angekommen und beyde Laden sind fast

S. 400
für mich verschloßen, muß also das meiste durch die dritte Hand erwarten und

2
erhaschen.

3
Fast hab ich mich zur neuen Auflage meiner ersten u letzten Werke

4
entschloßen. Weiß keinen andern Titel dazu, als:
Fliegende Blätter. Erste

5
Sammlung enthält:
I
Sokratische Denkw.
II
Wolken,
III.
Nachspiel

6
u. s. w.
Hartknoch ist mein Verleger, oder soll es wenigstens seyn, wenn es

7
auf meine
Wahl
ankommt. Können Sie mir mit Rath u That dazu an die

8
Hand gehen. Eher an Beschneidung als Ausdehnung zu denken. Haben Sie

9
Erinnerungen
mitzutheilen, so bitte drum, in einer müßigen Viertelstunde,

10
wo Sie Ihren eignen Arbeiten nichts entziehen, denn die sind mir

11
herzanliegender als meine Reliquien. Außer den 3 angeführten möchte ich zur

12
ersten Sammlung, um einen Band herauszubringen Schriftsteller, Leser u

13
Kunstrichter. Apologie des Buchstabens H. Scherflein u Konxompax und

14
Versuch über die Ehe – Wißen Sie mehr um ein Alphabet voll zu machen? Etwa

15
die
hierophantische Briefe
wegen des schändl. Abdrucks.

16
Wegen
Ueber Hume u Kant versauert alles in meinem Kopf; muß erst die

17
Prolegomena
der Metaphysik, die noch geschrieben werden soll
,

18
erleben, wenn es Gottes Wille ist, ehe ich mit meiner
Metakritik
herauskomme.

19
Stillen Sie doch meinen Hunger u Durst nach der
Fortsetzung
und dem

20
Ende
Ihrer historischen Zweifel oder antinikolaitischen Untersuchungen. Ich

21
habe das 2te Stück nur ein paarmal durchlaufen können, und vergeß alles

22
was ich lese. Kann die Auflösung des
Rätsels
nicht erwarten. Versäumen Sie

23
doch keinen Posttag. Komm ich dies Jahr auf eine einzige Nacht aufs Land,

24
so soll mich Ihr
Geist
der
ältesten Poesie
begleiten. Es ist Schade dies Buch

25
nicht mit
ganzer Seele
zu lesen, als ein Muster prosaischer u poetischer

26
Beredsamkeit. Gott gebe Ihnen doch Stärke und Freudigkeit zum
Exegi

27
monumentum aere perennius
– und genießen Sie so viel Wollust im Schreiben,

28
als unser einer im Lesen.

29
Wenn ich es auch vergeßen hätte mich für die kritischen Wäldchen zu

30
bedanken: so ist es mir doch recht sehr lieb selbige zu
haben
, besonders da ich

31
das dritte noch gar nicht kenne – Ich verspar es auf einen
Abend schöner

32
Erinnerungen
.

33
Ich freue mich und danke Gott von Grund meiner Seele, daß alles in

34
Ihrem Hause gut steht und geht, und Ihre Gehülfin, meine

35
verehrungswürdige Gevatterin und Freundin sich völlig erholt, wie mir Hartknoch

36
versichert – Habe auf diese Woche Ihre wohlthätige Qväckencur anfangen können

37
mit guter Wirkung.

S. 401
3 von den 6 Wallnußbäumen sind herrlich ausgeschlagen, lebe auch noch der

2
übrigen wegen in guter Hofnung. Alle 18 Obstbäume im Garten, (einen einzigen

3
Kirschbaum wo sein ablactirtes Zweig auf der Reise verloren, ausgenommen,)

4
grünen und gedeyen nach Herzenslust. Wenn mir der Himmel diese Erstlinge

5
erhält, so hör ich auf, wie Adam anfieng – und werde auf meine alte Tage ein

6
Gärtner. Seit 77 an meinen Garten nicht Hand anlegen können – es muß

7
alles spät bey mir kommen, – und zeitig gnug zum Feyerabend.

8
All mein Lesen ist nichts – als mich stumpfer zu machen und meine
lange

9
Weile
zu vergrößern – und mich muthloser zu machen. Hänschen hat den

10
Anfang gemacht bey
Archidiac.
Matthes in die Kinderlehre zu gehen, stottert

11
und stammelt je länger je ärger. Wir haben dies Jahr zum 6ten mal das

12
N. T. angefangen u sind gegenwärtig im Briefe an die Hebr. Im hebr. im

13
4ten Buch Mose. Im lateinschen lesen wir das 3te Buch der
Aeneide
mit

14
Heynes Noten u
Excur
sionen. Gestern endigte Hill mit ihm die Biestersche

15
Ausgabe der platonischen Gespräche, und ich wurde feyerl. dazu eingeladen.

16
Einer übertraf den andern im Feuer und Gefühl. Im letzten Buch der
Iliade

17
bin ich auch schon mit ihm, und die beyden Heldengedichte sind wenigstens

18
durchgepeitscht, zum Vorschmack einer reiferen Widerholung u Verdauung.

19
Hill zu Gefallen werden wir nächstens einen Versuch mit
Pindar
machen –

20
und so dien ich wenigstens wie ein stumpfer Stein andere zu wetzen und ihnen

21
Schneide zu geben, die mir selbst fehlt. Ohne diese kleine Uebung würde ich

22
meinen Bettel gantz verlieren. Und übrigens fehlt es hier wirkl. jungen Leuten

23
an Gelegenheit griechisch zu lernen. Jedermann klagt über
D.
Köhlers

24
Vorlesungen in
dieser
Sprache, die auch
en courier
sehr
superficiel
seyn sollen.

25
Die Mädchen wachsen leider! auf ohne Sitten, ohne Kenntniße. Ein wenig

26
Vorwitz und Neigung zum Lesen scheint die älteste auch zu haben. –

27
Unterdeßen ist Gottlob! alles gesund und frisch. Auch sind Klötze beßer als

28
Puppen p wenn mir der Himmel einmal Schwiegersöhne nach meinem Geschmack

29
bescheert.


30
Den 8 –

31
Bey aller meiner Unvermögenheit meine eigene Kinder zu erziehen, bin ich

32
immer mit anderen überladen. Anstatt eines großen Buben liegt mir jetzt

33
ein kleiner auf dem Halse. Des Kanzl. von Korf natürl. Sohn nimmt

34
Stunden bey Hill in meinem Hause, und dies ist eine neue Ruthe die ich mir

35
hab aufbinden laßen, wovon ich nichts als Verdruß zum voraus sehe. Ich

36
habe diesen Morgen mit einem Condolentz Besuch einer armen elenden

S. 402
Zöllnerwittwe anfangen – und diesen Nachmittag zu Hause bleiben müßen,

2
weil ich mich nicht erwärmen kann, werde mich morgen vielleicht zum Aderlaß

3
entschließen, das ich dies Frühjahr wegen eingetretener Gicht ausgesetzt – Ich

4
fühle also nichts als ein kümmerliches, unnützes Daseyn, in und um mir

5
eine leere Wüste. Erfreuen Sie mich daher bald mit der
Fortsetzung
Ihrer

6
mercurialischen Blätter, daß ich meiner wenigstens in Ihnen ein wenig

7
genießen kann. Tausend Küße u Grüße an Ihr ganzes Haus und die
ALMA

8
MATER
deßelben von mir u meinem Gesinde. Ich umarme Sie und ersterbe

9
Ihr alter

10
Johann Georg Hamann.


11
Adresse:

12
Des / HErrn General Superintendenten
Herder
/ Hochwürden / zu

13
Weimar
. /
fr. berlin
.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 236–237.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 264–269.

ZH IV 397–402, Nr. 654.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
398/22
unsere
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
unser
398/35
ettwanige
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
etwanige
399/1
rätselhafte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
räthselhafte
399/7
wich
wie ich
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wie ich
399/34
gekommen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gekommen.
400/22
Rätsels
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Rätzels
400/24
der
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
der