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395/28
Königsberg den 30
Junii Dom V. p Trin.
82.

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Herzlichgeliebtester Landsmann und Freund,

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Es freut mich, daß Ihre liebe Frau und Tochter sich Gottlob! erholen,

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und ich wünsche bald ebenso gute Nachrichten von Ihres Jonathans Beßerung

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und Genesung. Unserm Vetter Becker habe diese Woche geantwortet mit

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einem
offenen Laufzedel
. Hänschen hat es an dem guten Willen nicht

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gefehlt Ihren Auftrag zu erfüllen, aber er ist noch ein elender Scribent, und

S. 396
schreibt so schlecht wie er spricht. Des HE Kanzler Excell. nahm ihn

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vorgestern aufs Land, und da wird mir die Zeit so lang, daß ich selbst an seiner

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Stelle die Abschrift vollendet – mit allen Schreibfehlern oder Schönheiten

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des anglo-sächsischen Dialects.

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Noch muß ich Ihnen die unangenehme Nachricht mittheilen, daß durch die

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verrathene Autorschaft
der hier im Verlag herausgekommenen und bereits

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in unsern Zeitungen recensirten Schrift das ganze Geheimnis ruchbar worden,

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und Prof. Kant mir zu meinem großen Befremden vor 8 Tagen bey
Green

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den Namen zu sagen wuste. Selbst Ihre
Verschwiegenheit
ist kein fügliches

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Mittel gewesen die Sache geheim zu halten. Die kleine Schrift enthält so viel

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redende Züge besonders für einen, der das
Corpus delicti
gelesen, wovon hier

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mehr wie ein Exemplar seyn muß, und wonach Kant durch das ungewöhnliche

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Rescript
eben so lüstern gemacht worden, wie ich es selbst damals schon

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gewesen bin, nur daß es mir an Gelegenheit gefehlt meine Neugierde zu

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befriedigen. Hätten Sie es Hartknoch oder Wedel in Danzig zum Verlage gegeben;

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oder ich hätte ich
nur muthmaaßen können von dem Zusammenhange der

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Sache, und daß Ihre Sicherheit wenigstens eben so sehr im Spiel wäre, als

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Ihre bloße
Delicatesse:
so traue ich mir noch Einfluß genug in den

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Buchladen zu, daß ich dem gemeinen Eigennutz ein paar Exemplaria mehr loß zu

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werden durch ein Anecdotchen vom Verfaßer, der sich rätzelhaft gemacht, hätte

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Einhalt thun können. Unterdeßen hoffe ich, daß das ganze Gewäsch von keiner

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Wichtigkeit noch Folgen seyn wird. Ich habe schon den Einfall gehabt mit

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Kant deswegen zu sprechen – Ihm seine
Conjectur
auszureden, geht wol

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nicht füglich an – und aus Achtsamkeit ihm ein Stillschweigen anzurathen

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möchte auch zu spät seyn.
Ihm
Kayserlingschen Hause hat er auch schon die

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Sache ruchbar gemacht, wie ich aus einem gestrigen Besuche des
p
Schröters

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vernommen. Wegen einer ziemlich starken Stelle gegen Frankreich prophezeyt

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K. dem Verfaßer eben den Ostracismum in der neuen Welt – wenigstens

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hab ich unsern Vetter gewarnt vor der
Demomanie
. Uebrigens denke ich daß

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Sie eben keine Ursache haben sich wegen dieses Unfalls zu beunruhigen, noch

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die ganze Sache
selbst
zu
rügen
, da unser Freund mit Gottes Hülfe geborgen

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ist, und man durch
Gleichgiltigkeit
am sichersten und geschwindsten dergl.

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Geschwätze auslöscht. Obgl. die geschriebnen Briefe mehr Werth für mich

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haben als die gedruckte: so erwarte doch erst Ihre Erlaubnis um selbige

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unserm Freunde H. mittheilen zu können und überhaupt Ihre Winke über

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mein
Verhalten
in dieser ganzen Angelegenheit.

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Was sagt Vetter Nabal zu seinem Homeromastix im deutschen Mercur?

S. 397
Antworten wird er doch gewiß darauf. Unser Meßgut liegt noch erst am Baum.

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Wird der
mercurialische
Abt der Franzosen Heiland seyn? – Weh dem

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Patienten, bey dem der
größere
Qvacksalber den kleineren (Helvetius)

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aussticht. Unsern Potentaten geht es wie einem Cavalier in Liefland, der seines

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galonnirten Kleides wegen den Scharfrichter umarmte und Herr Bruder

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nannte; sie verkennen die Qvalität der Philosophie und Politik in der

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galonnirten Schreibart des
Abbate assassino.
Ist es wahr, daß er hier durch nach

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Petersburg gehen wird?

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Erfreuen und beruhigen Sie mich bald durch eine Antwort – besonders

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wenn Hog. dort durchgegangen seyn sollte – und beobachten Sie ja, daß seine

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Vorurtheile
, wie der
Candidat
von diesem
Herrn
sich ausdrückte, mehr auf

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ihn gewürkt als unsere beyderseitige Empfehlungen.

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Vergeßen Sie nicht das Glück Ihres künftigen Schwiegersohns – und seyn

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Sie ein Vater der
Lebendigen
und nicht der Todten.

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Ich umarme Sie unter den herzlichsten Grüßen der Meinigen. Küßen Sie

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Ihre gute würdige Hälfte und
vice versa.
Wünschen Sie Leben und Seegen

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Ihrem kranken Freunde von dem Ihrigen.

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Johann Georg Hamann


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Adresse mit rotem Lacksiegelrest (Kopf des Sokrates nach links):

20
HErrn / HErrn Reichardt / Königl. Kapellmeister / zu /
Berlin
. /
franco
.
/

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Gedruckte Einlage
.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 262 f.

ZH IV 395–397, Nr. 653.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
396/16
oder ich hätte ich
]
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
oder hätte ich
; dass die Wortwiederholung von Hamann stammt, ist nicht auszuschließen.
396/25
Ihm
]
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
Im