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Kgsberg den 17 Junii 82.

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Herzlichgeliebtester Landsmann und Freund,

26
Den 12
huj.
lief ich mit niedergeschlagenem Gemüth vom HE v.

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Auerswald, der als
Adjutant
in RegimentsSachen uns auf einen Tag hier

28
überrascht
hatte
u mir einige Nachrichten mitgetheilt hatte, die mich nahe

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giengen, ließ unsern
Dorow
u Sie bey ihm u lief ohne recht zu wißen warum?

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in den Buchladen. Wollte eben so unruhig wider fort eilen, als man mir eine

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Neuigkeit anbot über Nordamerika u Demokratie. Das erste ist ganz

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gleichgiltig für mich, und das zweite hatte auch nicht viel Reitz. Man sagte mir aber,

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daß es eine Schrift vom Vetter Becker wäre. Ich steckte sie deswegen mit einer

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ziemlich kaltsinnigen Neugierde in die Tasche, weil mir immer eine Art von

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Furcht anwandelt, wenn gute Freunde von mir heyrathen und Schriftsteller

2
werden. Kaum war ich mit meiner Ladung in mein Haus getreten, als mir

3
meine Mädchen mit der frohen Zeitung eines erhaltnen Briefes entgegen

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gelaufen kamen. Eine so baldige Antwort von Ihnen hatt ich mir auch nicht

5
vorgestellt – nicht des Vettern Stillschweigen sondern des
Bruders im Haag

6
Stillschweigen, totales Stillschweigen
war mir
unerklärlich
, und

7
höchst
ärgerlich
, um desto mehr, da er in dem letzten Briefe hieher sich Ihrer

8
umständlich erinnert hatte – und d
ie
er Zusammenhang doch so unvermeidlich

9
war als Körper und sein Schatten.

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In desto angenehmern Taumel versetzte mir der Innhalt Ihres lieben

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Briefes, daß ich nunmehro mit weniger Schwindel u Angst an Ihr Haus

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denken kann, daß Ihre gute fromme Frau
mehr Stärke hat, als Sie für

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Sie zu hoffen gewagt
. Es geht den empfindseeligen Seelen wie den

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tiefgrübelnden Köpfen. Je tiefer sie trinken, desto eher werden sie nüchtern. Die

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Süßigkeiten des Lebens verlieren am ersten ihren Geschmack, der sich leicht

16
gewöhnt und länger erhält an bittern und sauren Getränken. Im
Kreutz
,

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wie es unsere Religion schon sinnlich und bildlich nennt, liegt ein großer

18
Genuß
unserer Existentz – und zugleich das wahre Treibwerk unserer

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verborgensten Kräfte.

20
Mein Sohn ist den 17 May mit
D. Hagen
zu Fuß aufs botanisiren

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ausgewesen. Heute in der Kutsche ausgefahren zu gleicher Absicht. Was will die

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Leere, welche ich fühle, gegen die Ihrige sagen, die ich mir freylich vorstellen

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kann!? Aber welcher Fülle von Sorgen, Kummer, Verantwortung
pp
sind

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Sie auch überhoben. Je größer die Liebe eines Vaters, desto tödlicher sind

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seine Sorgen, und desto höllischer sein Schmerz. Je edler die Gaben unserer

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Kinder, desto mehr Gefahr ihrer Ausartung u Misbrauchs und Verführung

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in einer Welt, die im Argen liegt, und kein Feind ist so gefährlich als unsere

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in mehr als einem Verstande blinde Zärtlichkeit und eitele Selbstliebe sie als

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unsere
eigene Geschöpfe
zu behandeln, und die thörichte Beflißenheit ich

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weis nicht was für ein Ideal unsers Bildes u Namens Ihnen einzuprägen.

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Wenn Sie wüsten, liebster Landsmann u Freund, wie ich den gestrigen

32
Sonntag und Abschied des unglückl. Holländers gefeyert, der sich hier noch

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eine Hölle
erspielt
, und selbige vermuthl. für seine würdige Mutter und

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Geschwister dort mitbringen wird. Im Evangelio heist es: Wo der Vater wirkt,

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da wirkt auch der Sohn. In der Natur u Gesellschaft aber: Wo der
Schöpfer

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gewirkt hat, da thut der
Verderber
auch Zeichen und Wunder, und kann es

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auch nur in einem solchen Spielraum u auf einem so ergiebigen Boden thun.

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Die Industrie eines Schurken verhält sich zu eines ehrlichen Mannes seine

2
wie ein
Maximum
zum
Minimum.
Gott arbeitet 6 Tage, die Philosophen von –

3
haben weder Tag noch Nacht Ruhe, um die
sehr gute
, wenn eben nicht beste

4
Welt zum
Chaos
zu
deformi
ren. Der hole Widerhall der ersten Schaufel kam

5
wirklich von einem
holen irrdenen
Gefäß her, und der
Schatz
, den Sie

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geliebt, ist geborgen, und hat ihrer Hut und Wachsamkeit nicht mehr nöthig,

7
ist vor Motten und Dieben und Mordbrennern sicher, auch vor der

8
Gesellschaft von Pharaospielern.

9
So, ebenso, sah ich und beobachtete meine Mutter sterben, und sie ist die

10
einzige Leiche, die ich
werden
gesehen, und mit eben der dunkeln Wonne und

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Ahndung, womit Sie an der Verklärung und Verengelung des lieben

12
Gesichts, wie Sie es nennen, gehangen. Alle Verzückungen u Verunstaltungen

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des langwierigen schmerzhaften Lagers wurden in eine lächelnde

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verhältnismäßige harmonische Bildung aufgelöst.

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Hat michs geträumt, oder hab ich es gelesen oder gehört, daß Sie Ihren

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kleinen Kostgänger sogleich fortgeschickt? denn mein schwindlicher Kopf ist

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seiner eignen Sinnen nicht mächtig. Aber der
unterstrichene
Name in des

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Vetters Briefe hat mich auf diesen Umstand aufmerksam gemacht – und der

19
Entschluß scheint mir ein wenig zu rasch und ungedultig zu seyn. Je mehr

20
man seinen Schmerz
nährt
, desto eher wird er
reif
, und die Natur, wie man

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sagt, läßt sich nicht mit der Mistgabel ausrotten.

22
Einlagen
habe unserm
Dorow
zugestellt. Ich habe das
Corpus delicti
auch

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schon aufgetrieben, weil ich von einem einzigen Exemplar gehört hatte, das

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hier ein Hofger. R. Morgen
stern
beßer besäße u
daß
mir unser

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gemeinschaftl. Freund Hippel verschaffen muste, in Ansehung deßen ich wol eine

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Ausnahme, aber vorgängige Erlaubnis dazu bitten und erwarten werde. In

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der Freude meines Herzens hab ich es allen unsern Freunden, die es
sind

28
und
scheinen
gesagt, daß Vetter B. gesund angekommen, nicht unter die

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Seelenverkäufer gerathen, den 21 May Audienz gehabt und auf gutem Wege

30
ist seine Bestimmung zu erreichen. Vom Grund der Sache weiß kein Mensch

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durch mich, auch Freund H. soll es nicht wißen, ohne Ihre vorgängige

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Erlaubnis, die ich erst von Ihnen erwarte; denn ohngeachtet aller meiner

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Redseeligkeit bin ich geheimnisfähiger als ein Freymäurer, ohne Ruhm zu

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melden
pp.

35
Die Relation aus Haag hat mir beßer gefallen, als alles gedruckte in dem

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Corpore delicti,
worüber ich wol einiges Licht wünsche z. E. den

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Fragmentisten des Widertäufers zu wißen. Das Urtheil über die Alten ist mehr werth

S. 393
als die Uebersetzung. Die
Urne
kenne ich noch nicht u das Musäum hab ich

2
schon bestellt, um es ganz durchzugehen. Das
Corpus delicti
hoffe wol durch

3
Hartknoch zu erhalten, den ich bey seiner Zurückkunft aus der Schweitz

4
aufzulauren bitte.

5
Der
falsche Name
wurde gleich bey Ihrer Abreise ruchbar. Ich war bereits

6
eifersüchtig, daß mehr andern als mir von Ihnen anvertraut worden war;

7
konnte a
lso
ber ungeachtet aller meiner Ausforschungen nichts erfahren.

8
Sie waren also gerechtfertigt in meinen Augen; aber Beckers u noch mehr

9
des Haagers
Zufriedenheit ich so wol
durch
Ihre Nachrichten und noch mehr

10
Ihr Vertrauen und Ihre
ganze
Freundschaft zu mir erkenne und schmecke.

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Ungeachtet ich weder in dem Steckenpferde der Demokratie noch in einer

12
wichtigern Hauptsache
nicht
mit unserm Vetter
consoni
re sondern

13
vielmehr
dissoni
re, so hat doch seine schriftliche
Relation
mir so viel Eindruck

14
gemacht und enthält so viel feine, naive, treffl. Züge daß ich Copie genommen,

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die aber unter meinem Schloß und Riegel bleiben wird. Hippel ist der einzige,

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dem ich damit eine angenehme Stunde mit Mittheilung einmal auf seiner

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Villa
zu machen wünschte, auch mit Unterdrückung des wahren Namens,

18
wenn Sie diese Vorsicht in Anschauung
seiner
Ihrer nöthig finden – und

19
nach seiner Abfahrt in die neue Welt.

20
Gleich nach Ihrer Abreise beklagte HE
Jacobi,
daß er nicht Empfehlung

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unserm Vetter an einen Blutsfreund in
Philadelphia
abgegeben, und HE

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Prediger
Wanowski
der ihn bey mir gesehen sagte mir auch daß HE Hay

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sich dazu anerboten, und selbst in den Gegenden eine Zeitlang gelebt. Ich

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ersuchte beyde Ihre freywillige Anerbietung zu erfüllen, u war willens selbige

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so bald ich sie erhalten hätte, nach Haag zu
expedi
ren. Ungeachtet meiner

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widerholten Erinnerungen wurde nichts daraus. Das unerklärl.

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Stillschweigen aus Haag verdroß mich auch und ich ließ allen ihren Gang. Vorgestern

28
aber lief zu
Jacobi
der mir versicherte dem HE
de Bary & Comp
.
in

29
Amsterdam
unsern Vetter empfohlen zu haben und daß er daselbst ein

30
Empfehlungsschreiben an den Prediger Graff
in
Philadelphia
finden
würde,

31
wovon ich also dort zu
averti
ren bitte. An HE
Green
hatte ich auch vorgestern

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die 3 Theile des Hume
on human Nature
einzureichen, die ich schon vor

33
4 Wochen Tag vor Tag mir vorgenommen abzugeben, erinnerte auch Hay

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an sein Versprechen. Wenn ich was erhalte, so werd ich es nach Haag

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beylegen, wo ich diese Woche einen langen traurigen Brief hinschreiben muß.

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Die Engl. thun jetzt auf den 12 April so dick, daß Nordamerika in ihren

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Augen nicht mehr scheint ein unabhängiger Staat zu bleiben. Was macht der

S. 394
alte
Raynal
in Berl. Wird er nicht auch Ost u Westpreußen besuchen um eine

2
histo
rique
ire philosophique et politique des Ordonnances et du

3
Commerce
des Nordischen Salomo anzufertigen und das hyperboräische

4
Amazonenreich in Augenschein nehmen? Was sagt man dort zu den
historischen

5
Zweifeln
des T. M.? Kreutzfelds Gesundheit scheint mir sehr zu leiden.

6
Ihren Gruß hab ich bestellt. Er weiß aber nicht daß ich schreibe u nimmt mir

7
vielleicht übel, daß ich ihm nicht Ihren Brief mitgetheilt.

8
Nach der Gicht hab ich mich lange mit dem Hüftweh geqvält, das sich aber

9
Gottlob! auch verloren. Schreiben Sie mir doch etwas von der v Hogendorp

10
Durchreise, u. ob er seinen Abschied als
Capitain
erhalten.
Vix credo.
Ich danke

11
Gott daß ich meinen
cursum
mit ihm
absolvi
rt, und mit meinen gemachten

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Experimenten meine Erfahrung bereichert u dort einige Dienste thun kann.

13
Beruff hab ich dazu gehabt, leider! sein eigenes, seiner Mutter u seines

14
Bruders Vertrauen, und mehr wie eine Angel hat er hier auch verschlucken

15
müßen, die er zu seiner Zeit auch vielleicht fühlen wird. Kaum
dieser Ruthe

16
los, liegt vielleicht schon eine andere für mich fertig, wovon künftig,
wenns

17
der Mühe lohnt
, mehr. –

18
Die heutige Lücke an unsern Tisch wurde durch einen jungen
Studiosum

19
philosophiae et musicae
HE Hanke ersetzt, aus Schlesien gebürtig, der nach

20
Coppenhagen, wo sein Vater
Cantor
seyn soll, zu Hause geht u als ein

21
Freund meines Hills mich ein paarmal besucht u den ich bis an den Baum

22
begleitete, wo sein Schiff lag. Seit gestern ist meine Haushaltung wider bis

23
zur heiligen Sieben hergestellt durch eine stattliche Dienstbotin vom Lande,

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die meine Hausmutter gemiethet der ich für ihre gute Wahl noch gestern

25
Abend recht viel Artigkeiten gesagt. Am Pfingst Heil. Abend erhielt 24

26
Obstbäume aus Lübeck, wovon 6 Wallnuß
bäume
stämme mein Gehöft u die

27
übrigen 18 Kirschen, Birnen, Aepfel u Pflaumen den Mittelgang meines

28
Gartens zieren. Nun geh ich alle Morgen, Mittag u Abend wie ein anderer

29
Nimrod, auf die Raupenjagd, und will mir zum Jahrmarkt das schönste

30
Gartenmeßer kaufen, und ein ebenso großes Küchenmeßer – Lauter herrliche

31
Anstalten meine Wirthschaft zu reformiren, wenn die Gäste weg sind! Mehr

32
als dergl. Kindereyen kann ich Ihnen aus meinem Gehege nicht liefern.

33
Wißen Sie auch, liebster Freund, warum Hiob Schaafe, Kameele, Rinder

34
u Esel
in duplo
wider erhielt, aber nicht seine Kinder? Diese Frage hab ich

35
vor vielen Jahren in einem alten Buche gelesen, aber nicht, meines Wißens,

36
im
Heman
, als einen Beweis, daß die Todten bey Gott nicht verrechnet sind

37
u ihre Unsterblichkeit allgemein vorausgesetzt wurde, noch ehe es den

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Phädonen
einfiel metaphysische Beweise von einer Tatsache zu erdichten, und ein

2
reines oder vielmehr leeres
Atqui
und
Ergo
majestätischen Verheißungen u

3
Machtsprüchen entgegenzusetzen, oder diese aus jenen herzuleiten.

4
Diese Seite sollte zum Umschlag dienen, bin aber zu weit in meinem

5
Geschmier fortgerückt, daß ich ein
Couvert
machen muß. Meine Absicht und

6
mein Wunsch ist, daß Sie die gegenwärtige Lücke Ihres Lebens, die Ihnen

7
so empfindlich fallen muß, so gut wie möglich auszufüllen suchten mit einem

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DEVS nobis haec otia fecit
– und sich vor der gegenwärtigen Wüsteney,

9
worinn Sie auf einmal versetzt sind, nicht zu sehr grauen laßen, die sich ebenso

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leicht wider in einen Lustgarten verwandeln kann; denn der natürliche Lauf

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der Dinge übertrifft alle Feenmährchen und Zauberkünste. Halten Sie sich

12
nur am
Vivit!
so werden Sie auch mit Ihrer guten frommen Frau bald ein

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Vivat!
sagen können und Gott für die unaussprechliche Gnade einer frühen

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unschuldigen Vollendung, eines so sanften erbaulichen Ueberganges in das

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Land der Verheißung von Grund der Seele danken und daraus neuen Muth

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und frische Kräfte zu ihrer eigenen Laufbahn einathmen.

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Ist dem kleinen lieben Ueberläufer diese Welt nicht gut gnug gewesen, mag

18
er sich wißen in Abrahams Schoos. Desto mehr überlaßen Sie sich den

19
Bedürfnißen und Zerstreuungen des
häuslichen Lebens
, die Ihnen und andern

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wohlthätiger seyn werden als alle Anstrengungen einer männlichen Ueberwindung.

21
Ich umarme Sie unter tausend Segenswünschen von mir und den

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Meinigen. Küßen und grüßen Sie Ihre gute fromme Frau, die brave Mutter

23
Ihres seeligen Wilhelmchen und seine einzige kleine liebe Schwester.

24
Empfehlen Sie mich Ihrem Jonathan, Bekannten u unbekannten Freunden. Lebe

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und sterbe Ihr ewig verpflichteter

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Johann Georg Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 255–262.

ZH IV 390–395, Nr. 652.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
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daß
]
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
das