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Kgsb den 23 May 82

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Herzlich geliebtester Herr Kapellmeister, Landsmann und Freund,

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Ich habe alle Tage auf einen Anlaß gewartet Ihnen zu schreiben, aber gar

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nicht den traurigen und schmerzhaften vermuthet, welchen mir heute Ihr Herr

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Schwager mitgetheilt. Aus der Erfahrung kenne ich zwar einen solchen Verlust

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nicht; aber meine hypochondrische Einbildungskraft
anticipi
ret alle mögliche

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Uebel des menschlichen Lebens und seiner
splendidarum miseriarum.
Der

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Stifter aller Freuden ist zugleich ein
Gott alles Trostes
– und beyde

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entspringen gar hoch vom Himmel her aus Seinem Vater- und MutterHerzen.

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Wäre der seelige Wilhelmchen an natürl. oder eingepropften Blattern

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gestorben: so hätten Sie mehr Ursache sich zu beunruhigen, und mit Fleisch und Blut

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zu hadern. Der Mensch weiß nichts; Gott allein die beste
Art
und
Zeit

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Am ersten Pfingstfeyertage besuchte mich HE.
Prof.
Kant mit einer Nachricht,

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die mich auch nicht wenig gerührt, und an der Sie auch einigen Antheil nehmen

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werden, weil Sie den jungen
Berens
auf dem
Philanthropino
gekannt, den

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sein Vater nach vollbrachten schlechten Lauf nach Liebau geschickt, um die

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Handlung auszulernen. Da macht er tumme Streiche, verschreibt sich Waaren

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auf seiner Familie Namen. Sein Herr erfährt dieses, wird natürlicher Weise

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ungehalten. Der junge Mensch läuft weg und kommt hieher vor ein paar

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Wochen, giebt seinem Vater von seinem Aufenthalt Nachricht. Dieser wendet sich

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an Kant (u zum Theil an mich) hat die Absicht den Ungehorsam seines Sohns

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wenigstens durch einen kleinen Schreck abzustrafen. Eben wie man willens ist

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den Entwurf des Vaters auszuführen, stirbt der junge Mensch an einer

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heftigen Krankheit plötzlich. Wäre der Brief einen Posttag eher angekommen, so

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hatte die ganze Welt diesen unvermutheten Todesfall der angelegten
Alteration

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zugeschrieben, und der Vater sich vielleicht aus seinem harmlosen Einfall die

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grösten Scrupel gemacht. Nun ist alles
zu
rechter Zeit geschehen
für den

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Todten u die Lebendigen.

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Die beste Erziehungsanstalt ist wol der liebe Tod für unser ganzes

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Geschlecht. – Eben wie ich dieses schreibe, fällt mein Marianchen die ganze Treppe

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über Hals u Kopf herunter – Auch ein Schreck, doch Gottlob! ohne allen

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Schaden.

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Das beste Philanthropin ist jene Geisterwelt, unschuldiger und vollendeter

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Seelen – jene Hohe Schule ächter Virtuosen, und unser aller Mutter. Beruhigen

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Sie Ihre liebe fromme Frau, daß Wilhelmchen die Reise dahin glücklich

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überstanden –
wehrt ihnen nicht
,
denn solcher Kleinen ist das

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Himmelreich
. Gott erhalte Ihre beste Hälfte, und Louischen, erfreue auch wider Ihr

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verödetes Haus mit neuer frischer Seegensfreude.

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Verzeyhen Sie mir, bester Landsmann u Freund, ich weiß Selbst nicht was

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ich schreibe, u. was ich in der Unruhe des Gemüths Ihnen sagen soll. Vetter

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Becker oder vielmehr sein Schiffanschlag soll den 2
huj.
dort angekommen seyn.

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Vom G hat HE von Hogendorp hier Briefe aber keine Sylbe von ihm. Meine

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Absicht war ihm noch ein paar Empfehlungsschreiben die mir von Freunden

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versprochen worden, durch Ihre Vermittelung nach den Haag zu befördern,

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habe aber nichts erhalten. HE v H. hat sein Gezelt in meinem Garten

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aufgeschlagen und seine Abreise scheint gegenwärtig bestimmt zu seyn. Erfreuen

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Sie mich mit ein paar Zeilen guter Nachricht von Ihrem Wolbefinden. Alle

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die Meinigen empfehlen sich Ihrem ganzen Hause. Kreutzfeld ist auf dem

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Lande. Vielleicht nächstens mehr. Grüßen Sie Ihren Jonathan u
D.
Biester,

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zu dem man sich hier vielleicht eine sehr eitele Hoffnung macht. Ich umarme

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Sie u ersterbe Ihr aufrichtig ergebenster

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Hamann.

Provenienz

Eine Kopie des Originals im Nachlass Arthur Henkels. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Laut Arthur Henkel befindet sich das Original im Besitz von Professor Kurt v. Raumer.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 248–250.

ZH IV 382 f., Nr. 649.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
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Geändert nach der Handschrift; ZH:
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