649
382/10
Kgsb den 23 May 82
11
Herzlich geliebtester Herr Kapellmeister, Landsmann und Freund,
12
Ich habe alle Tage auf einen Anlaß gewartet Ihnen zu schreiben, aber gar
13
nicht den traurigen und schmerzhaften vermuthet, welchen mir heute Ihr Herr
14
Schwager mitgetheilt. Aus der Erfahrung kenne ich zwar einen solchen Verlust
15
nicht; aber meine hypochondrische Einbildungskraft
anticipi
ret alle mögliche
16
Uebel des menschlichen Lebens und seiner
splendidarum miseriarum.
Der
17
Stifter aller Freuden ist zugleich ein
Gott alles Trostes
– und beyde
18
entspringen gar hoch vom Himmel her aus Seinem Vater- und MutterHerzen.
19
Wäre der seelige Wilhelmchen an natürl. oder eingepropften Blattern
20
gestorben: so hätten Sie mehr Ursache sich zu beunruhigen, und mit Fleisch und Blut
21
zu hadern. Der Mensch weiß nichts; Gott allein die beste
Art
und
Zeit
–
22
Am ersten Pfingstfeyertage besuchte mich HE.
Prof.
Kant mit einer Nachricht,
23
die mich auch nicht wenig gerührt, und an der Sie auch einigen Antheil nehmen
24
werden, weil Sie den jungen
Berens
auf dem
Philanthropino
gekannt, den
25
sein Vater nach vollbrachten schlechten Lauf nach Liebau geschickt, um die
26
Handlung auszulernen. Da macht er tumme Streiche, verschreibt sich Waaren
27
auf seiner Familie Namen. Sein Herr erfährt dieses, wird natürlicher Weise
28
ungehalten. Der junge Mensch läuft weg und kommt hieher vor ein paar
29
Wochen, giebt seinem Vater von seinem Aufenthalt Nachricht. Dieser wendet sich
30
an Kant (u zum Theil an mich) hat die Absicht den Ungehorsam seines Sohns
31
wenigstens durch einen kleinen Schreck abzustrafen. Eben wie man willens ist
32
den Entwurf des Vaters auszuführen, stirbt der junge Mensch an einer
33
heftigen Krankheit plötzlich. Wäre der Brief einen Posttag eher angekommen, so
S. 383
hatte die ganze Welt diesen unvermutheten Todesfall der angelegten
Alteration
2
zugeschrieben, und der Vater sich vielleicht aus seinem harmlosen Einfall die
3
grösten Scrupel gemacht. Nun ist alles
zu
rechter Zeit geschehen
für den
4
Todten u die Lebendigen.
5
Die beste Erziehungsanstalt ist wol der liebe Tod für unser ganzes
6
Geschlecht. – Eben wie ich dieses schreibe, fällt mein Marianchen die ganze Treppe
7
über Hals u Kopf herunter – Auch ein Schreck, doch Gottlob! ohne allen
8
Schaden.
9
Das beste Philanthropin ist jene Geisterwelt, unschuldiger und vollendeter
10
Seelen – jene Hohe Schule ächter Virtuosen, und unser aller Mutter. Beruhigen
11
Sie Ihre liebe fromme Frau, daß Wilhelmchen die Reise dahin glücklich
12
überstanden –
wehrt ihnen nicht
,
denn solcher Kleinen ist das
13
Himmelreich
. Gott erhalte Ihre beste Hälfte, und Louischen, erfreue auch wider Ihr
14
verödetes Haus mit neuer frischer Seegensfreude.
15
Verzeyhen Sie mir, bester Landsmann u Freund, ich weiß Selbst nicht was
16
ich schreibe, u. was ich in der Unruhe des Gemüths Ihnen sagen soll. Vetter
17
Becker oder vielmehr sein Schiffanschlag soll den 2
huj.
dort angekommen seyn.
18
Vom G hat HE von Hogendorp hier Briefe aber keine Sylbe von ihm. Meine
19
Absicht war ihm noch ein paar Empfehlungsschreiben die mir von Freunden
20
versprochen worden, durch Ihre Vermittelung nach den Haag zu befördern,
21
habe aber nichts erhalten. HE v H. hat sein Gezelt in meinem Garten
22
aufgeschlagen und seine Abreise scheint gegenwärtig bestimmt zu seyn. Erfreuen
23
Sie mich mit ein paar Zeilen guter Nachricht von Ihrem Wolbefinden. Alle
24
die Meinigen empfehlen sich Ihrem ganzen Hause. Kreutzfeld ist auf dem
25
Lande. Vielleicht nächstens mehr. Grüßen Sie Ihren Jonathan u
D.
Biester,
26
zu dem man sich hier vielleicht eine sehr eitele Hoffnung macht. Ich umarme
27
Sie u ersterbe Ihr aufrichtig ergebenster
28
Hamann.
Provenienz
Eine Kopie des Originals im Nachlass Arthur Henkels. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Laut Arthur Henkel befindet sich das Original im Besitz von Professor Kurt v. Raumer.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 248–250.
ZH IV 382 f., Nr. 649.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
383/3 |
zu |
Geändert nach der Handschrift; ZH: zu |