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Sind Sie todt u. verklungen, lieber H., daß im ganzen 82. Jahr noch kein
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Laut von Ihnen zu mir hinübergekommen ist? Wie sehnlich ich darnach
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verlange, kann ich nicht
ausdrücken;
ich zähle die Zeit nur nach Posttagen von
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Ihnen u. 4. Monate sinds nun immer verfehlte Posttage gewesen. Auch
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von Reichard, der zu Ihnen ging, habe ich keine Sylbe gehöret: um Gottes
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Willen, seyn Sie nicht krank! denn sonst kann ich mir nichts denken, da
ß
s Sie
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gegen mich so schweigend machte. Meine Seele hangt an Ihnen und ich lechze
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wie nach Waßer in einem dürren Lande Sela.
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Müller ist seit der Woche vor Palmarum weg. Er ist ein liebenswürdiger
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Eng
l
elsmensch
; indeß kann ich nicht läugnen, daß mich seine tägl. Gegenwart
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im Hause den Winter über sehr gedrückt hat. Wir sind einmal an das
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Einsiedlerleben gewöhnt u. da bei meinen Geschäften u. elenden Zerstreuungen deren
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ich herzlich müde bin, mir das Schweigen u. die Einsamkeit allein Arznei
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ist, so konnte meine Seele während dieser Zeit nie recht zur Ruhe kommen.
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In Zürch gebildet, konnte er die Ueberspannungen auf einmal nicht ablegen,
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so viel er sich Mühe gab u. also fehlte mir oft der Athem. Mein Buch über
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die Ebr. Poesie ists inne geworden: das beste Buch, das ich schreiben wollte,
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das mit mir erwachsen u. von Kindheit auf in der Brust genährt war, u. jetzt
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das schlechtste worden ist. Lesen Sie den einförmigen, elenden Dialog, auf
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den ich mich so sehr gefreut hatte, mit Nachsicht u. Schonung: es war
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kein Rettens u. die Buchhandlung trieb, daß es daseyn sollte. Der 2te Th.
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soll die Ehre des Ersten retten u. ich hoffe zu ihm beßere Stunden von der
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Hand des Alllenkers als Geschenke zu kosten. Ich habs mit Meßsachen
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mitgegeben u. weils ein richtiger Besteller von hier nahm, hoffe ich, wirds Ihnen
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richtig überliefert werden. Ein Br. ist nicht dabei; wohl aber ein paar Blätter
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aus dem Merkur, deren Titel ich Ihnen nicht anmelden will. Sie werden sich
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wundern; antworten Sie mir ja aber, liebster, ich bitte Sie sehr, u. laßen
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Sie mich doch nicht ganz ohne Nachhall reden oder murmeln. Die Fortsetzung
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kommt noch in ein paar Stücke u. das dickste Ende ist noch hinten.
S. 380
Jetzt geht meine Karrenarbeit wieder an u. ich habe mich, um mich von der
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dumpfen Last des elenden Winters, des sklavischsten, den ich je erlebte,
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einigermassen zu erholen, in ein andres Zimmer begeben, das das beste im Hause u.
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wir leider! aus gedrückter Dumpfheit, 6. Jahre, die wir hier sind, zu brauchen
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vergessen haben. Es ist groß u. schön: ich wollte, daß Sies diesen Sommer mit
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mir genößen. Ihr Bild hängt über meinem Schreibtisch,
auf
unter dem ich
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jetzt
, (ein Billet ausgenommen)
den ersten Brief schreibe: u. deßhalb habe ich
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mich auch in der Stunde des Aufhängens (denn August kann sichs nicht
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ausreden
lassen;
da
hängt
mein Pathe Hamann) so schnell u. flugs an diesen
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Brief gemacht. Zwischen den Fenstern ein Luther von Kranach: mein seel. Graf
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u. die Gräfin über dem Sopha: der Prinz August von Gotha
en medaillon
in
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Rom gemacht über einem Tischchen u. eine Venus mit dem Täubchen über dem
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Clavier. Ein schöner Minerven-Kopf, ein Geschenk unsrer Herzogin steht auf dem
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genannten Tischchen u. so ist das Zimmer in seiner
grande simplicité
fertig
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u. wir wollen heut Nachmittag die Gräfin Bernstorf dahin einführen, die
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sich sehr freuen wird, auf u. nieder promeniren zu können, wie ich mich auch
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freue. Meine Frau hats mit Versen eingeweiht, auf einem schön
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rothgerändeten Papier treuherzig verfaßt u. geschrieben, wo die letzte Strophe sich
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mit einem Wunsch endet, den ich mir zur Prophezeiung wünsche. Sie träumte
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nehmlich vor Jahren von einer Aussicht in ein fremdes Land, aus dem uns da
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um uns Dunkel u. Sturm war, ein Glas zugeworfen wurde u. drüben wars
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das hellste schönste Wetter. Jetzt da
Sie
sie das Zimmer anordnet, fellt ihr
23
B
plötzlich aus dem Einen Fenster die Aussicht auf den Ettersberg ins Gesicht
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u. sie findet Ähnlichkeit mit dem Nachtgesicht; Gott möge es bestätigen u.
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auf
seine,
d. i. die beste stillste Weise fügen: denn freilich ich bin müde, müde.
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den 24.
April.
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Rainal ist seit 4. Tagen hier, der ärgste Schwätzer, den ich auf Gottes Welt
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gekannt habe. Er spricht
vna serie
von Morgen bis Abend, daß er auch eßen
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u. trinken drüber vergißt u. man kaum weiß, wovon er lebt. Alle Welt hört
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ihn zu: u. man sitzt um ihn als spräche er Heimlichkeiten u. Evangelien. Ich
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wollt, daß er reiste. Ehegestern habe ich die neue Ausgabe seines Buchs vor
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mich genommen, bin aber auf der 58. Seite in 8. weil ich zu nichts komme
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u. was ich thue unter der ärgsten Zerstreuung thun muß. Der 2te Th. der
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religieuse
von Diderot schlägt sehr in die
Bijoux indiscrets;
ich habe also nur
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weniges gelesen, weil ich nicht sehe, welcher Nutze daher für mich kommt?
Es
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Die Gemälde sind mit
Sternisch-Richardsonscher
Genauigkeit u. Kleinfügigkeit
S. 381
gezeichnet. Wielands Briefe
des
Horaz werden Ihnen
vorkommen;
ich kenne sie
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nur aus dem Merkur. Er selbst rühmt sie sehr u. hat seit 1. Jahr von nichts
3
als
Ih
ihnen gesprochen: es muß also was dran seyn. Mich hat im ganzen
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Catalog nichts lüstern gemacht, als des alten Witthofs Akademische Gedichte;
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ich sehe ihn als einen alten Bekannten meiner Jugend an. Von Lavaters Pont.
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Pilatus habe ich 2. Correkturbogen (die ersten des Buchs) gesehen, über deren
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schlechte, enge, kindische Kleinfügigkeit nichts geht. Ich wollte, ich dörfte den
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Namen Christi die nächsten 2. Jahre nicht nennen hören – – Eben so Jesuitisch
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u. ausholend ist Pfenningers Kirchenbote angelegt, wenigstens in einem
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geschriebnen Plan, den ich gesehen habe. Die Leute haben sich an Drama u.
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Christenthum den Kopf verrückt u. sagens nun schon ganz laut, daß nur bei
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I
ihnen Christus zu haben sei. Der Mönch von Libanon, Nathan dem
Weisen,
13
entgegen
s
gesetzt
ist ein elendes Ding; irgend ein Hofprediger solls geschrieben
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haben. Und geben Sie acht, die
Clique
wirds loben, wenigstens rechnet man
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sehr drauf. – Die Kinder sind wohl u. mit meiner Frau gehts auch allmälich
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aufwärts: ich hoffe der Sommer soll ihr Blut u. Balsam geben. Ueber den
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Baffometus, lieber Fr., vergeßen Sie mir nicht zu schreiben, was Sie davon
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hören, was man davon sagt, denn ich habe weitere Absicht. Sobald die
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künftige Briefe die Preße verlaßen, sollen sie zu Ihnen. Man rühmt sehr des
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Mailly Esprit des Croisades;
ich habe ihn aber nicht gesehen, so sehr ichs
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wünschte. Ich bin begierig wie sich der Baphometus nehmen wird: denn hier
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hat er mich wahrscheinlich nicht erwartet. – Hier zieht Alles durch u. so ist
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auch ehegestern HE. Prof. Meiners hier gewesen, mein wehrter Recensent
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in der All. D. Bibl.; ich habe ihm aber sehr höflich begegnet. – Apropos des
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höfl. Begegnens muß ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die Prinz August
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aus Gotha gestern erzählte u. die ich als das höchste
I
ihrer Art ansehe. Er u.
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der Fürst Sullofski, den er nicht kennt u. von dem er noch weit weniger weiß
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daß er Deutsch kann, sind bei einer äußerst unangenehmen, schwatzhaften u.
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koketten Dame in Neapel: nachdem sie den Fremden unendl. viel alberne
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Dinge herdeklamirt hat, nimmt der Fürst das Wort u. hält ihr ½ Stunde eine
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gegenseitige Deklamation über ihre Artigkeit u. Schönheit,
nat
natürlich
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französisch. Nachdem er sie geendigt hat, setzt er Deutsch, sehr laut u. gravitätisch dazu:
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„wenn das Alles nun zwar nicht wahr
ist
war, so
ists
wars doch höflich!“
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u. der Prinz, der die ersten Deutschen Worte so vernehml. hört, will bersten. – –
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Verzeihen Sie die lächerl. Plattitude, die mir eben aufstieß u. die das tägl.
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Bild der Conversationen sind: nur daß man die Deutschen Worte nur
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inwendig saget. – Leben Sie herzl.
wohl
lieber
u. erfreuen Sie mich bald mit
S. 382
einem Briefe. Stehe was oder nichts drinn, wenns nur ein Brief von Ihnen
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ist u. lassen Sie mich nicht schmachten u. verschmachten. Ihr Haus blühe wie
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die Rebenwand u. der Garten. Gott gebe ihm beßre Wittrung als uns hier,
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denen es entsetzlich kalt ist. Adieu liebster, wir umarmen Sie mit Herz, Mund
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u. Händen.
Weimar den 28 Apr. 82.
6
Herder.
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Müller hat aus der Schweiz geschrieben u. grüßet Sie sehr. Er liebt Sie
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kindlich. Sein Bruder hat Reisen der Päpste geschrieben, die
s
Sie
ja lesen
9
müssen. Sie werden dem Monarchen in Potsdam recht seyn.
adieu.
Provenienz
Schaffhausen, Ministerialbibliothek, Nachlass Johann Georg Müller, Fasc. 508.
Bisherige Drucke
ZH IV 379–382, Nr. 648.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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ausdrücken; ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: ausdrücken: |
379/16 |
Eng l elsmensch ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Engelsmensch |
380/7 |
, […] ausgenommen)] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: ein Billet ausgenommen |
380/9 |
lassen; ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: lassen: |
380/25 |
seine, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: seine |
380/36 |
Sternisch-Richardsonscher […] Sternisch-Richardsonscher] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Sternisch Richardsonscher |
381/1 |
vorkommen; ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: vorkommen: |
381/12 |
Weisen, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Weisen |
381/13 |
entgegen s gesetzt ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: entgegengesetzt, |
381/37 |
lieber ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: lieber, |
381/37 |
wohl ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wohl, |
382/8 |
s Sie ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Sie |