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Weimar, den 3. März 1782.

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Ich habe H Herdern gebeten, dies Briefgen an Sie, mein theurster Herr

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Hamann! einzuschlagen. Aber siehe – die Feder entfällt mir! was soll ich

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an
Sie
schreiben? Nehmen Sies für nichts, als ein Opfer der Verehrung u.

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Liebe an, das ich Ihnen so gern persönlich brächte!

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Ich bin der Müller, dessen Namen Sie vermuthlich gehört haben.
Per varios

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casus, per
multa discrimina
verum
hat mich eine wohlthätige Hand von

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Schafhausen, meiner Vaterstadt, nach Zürich, u. von hier durch sonderbare

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Fügungen nach 1½ Einsiedlerjahren in Göttingen
hieher
geführt. In Zürich

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lern
hörte ich zum ersten Ihren Namen nennen, seitdem lese ich Ihre

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Schriften, u. hasche begierig auf, was ich davon finde. Noch schaue ich Ihren Geist

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nur von ferne – aber er winkt mir freundlich zu. Offt hat der Königliche Wein

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meine alten Schläuche zerrissen, aber nun wird er alt u. schmeckt milder.

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Nun, leider! denke ich bald weniger von Ihnen
zu
hören; denn in 14 Tagen

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verlasse ich dieses geliebte Haus, u. kehre in mein Vaterland zurück, wo Last

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u. Hize villeicht bald meinen Scheitel dörren werden. Aber das Andenken an

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Herder u. gewiß auch an Sie wird mich offt kühlen. Kommen Sie bald selber

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zu mir in eine stille Landpfarrey, u. theilen Sie mit mir, was ich habe. Ich

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habe Ihnen eine heilige Hütte in meinem Herzen errichtet.

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Grüssen Sie mir herzlich Ihre Frau u. Kinder, u. bringen Sie auch einen

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oder zween Ihrer Söhne mit in die Schweiz. Gott gebe Ihnen viel frohe

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Tage, langes Leben u. Segen, u. lasse Sie mich einst freudig umarmen! Ich

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bin mit
unsterblicher Liebe
ganz der Ihrige

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J. Georg Müller.


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Vermerk von Hamann:

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Geantw. den 22 April –

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Sammlung Warda (ohne Signatur).

Bisherige Drucke

ZH IV 369 f., Nr. 644.

Zusätze fremder Hand

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Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
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Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
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