625
310/2
Kgsb. den 22
Jul. Dom. VI.
p
Trin.
81.

3
HöchstzuEhrender Herr und Freund,

4
Vorigen Montag wurde durch eine Einlage von Hartknoch erfreut, – es

5
war Ihr lieber Brief vom 17 April. Ich glaubte schon von Ihnen vergeßen

6
oder aufgegeben zu seyn, und wuste selbst nicht, ob nicht die Schuld an mir

7
läge – daß Sie wenigstens einer so unfruchtbaren Freundschaft überdrüßig

8
geworden – und was der
Verkläger unserer Brüder
, der in keines Busen

9
schläft, uns in Ohr raunt. Der Tod unsers
Diedrichs
hat mich bisweilen

10
an Sie erinnert, ich
weiß
aber nicht, ob Sie nicht
bey
dem Tausch zu viel

11
verloren hätten. D. Köhler, der Uebersetzer des Phädon ist hier, weiß aber

12
noch nichts von ihm, habe auch wenig Anlaß mich um ihn zu bekümmern.

13
Ich wollte nur soviel sagen, daß ich mich bey dieser Gelegenheit Ihrer oft

14
erinnert habe. Desto gewißer ist es leider, daß ich Ihr
Päck
nicht erhalten,

15
und eine Ahndung von dem Verlust deßelben immer gehabt, alle nöthige

16
Erkundigungen deßhalb eingezogen aber vergebens. Von Ihrer Schrift über

17
die Fragmente weiß weiter kein Wort, als was
Döderlein
, wo ich nicht irre

18
anführt. Um die
plato
nische Uebersetzung, wenn ich mich recht besinne, hab

19
ich gebeten – Das
Hohelied
sah ich als eine Schuld an, da Sie so gütig

20
gewesen mir den
Prediger
zu verehren. Wundern Sie sich nicht, daß mir keine

21
von Ihren Schriften, nicht einmal zu Gesichte gekommen, ohngeachtet meine

22
οξυπεινια
oder Hundshunger. Der litterarische Brodtkorb hat hier Jahre lang

23
für mich sehr hoch gehangen, da Kanter lange nicht die Meße besucht, und

24
ich mit dem Hartungschen Laden in keiner Verbindung stehe noch stehen mag,

25
auch selbiger sehr kümmerlich versorgt gewesen. Ersterer ist nun an
Wagner

26
und
Dengel
verkauft, von denen ich mehr Gefälligkeit in Ansehung zufälliger

27
Commißionen erwarte. Hartknochs Krankheit ist Ihnen bekannt, und daß

28
mein alter Freund Hintz auch schon lange nicht die Meße besucht, u gar

29
gegenwärtig hofmeistert.
Hinc illae lacrumae:
Wenn also mein letztes
Epistolium,

30
vom August 79 gewesen, wie Sie versichern; so hab ich immer auf Antwort

31
und Erfüllung meiner Bitten u Erwartungen gelauert. Geschämt hab ich mich

32
auch
in petto
einen Westphälischen Schinken nach dem andern von Ihnen

33
zu verzehren, ohngeachtet ich nichts als kleine Bratwürste dagegen werfen

34
kann. Meine äußerliche und innerliche Lage ist Ihnen zum Theil auch kein

35
Geheimnis und also gnug zu meiner Rechtfertigung. Bitte aber von
Neuen

36
und
wiederholentlich
sich doch alle Mühe
zu geben
wegen des verlornen

S. 311
Päckchens, ob es nicht möglich ist selbiges aufzutreiben. Im Hartungschen Laden

2
hab mich schon
erkundigt,
der auch ein Weimarsches nach Morungen bestimmtes

3
Päckchen das blos an mich
addressirt
war, erbrochen
in seinem
im Laden

4
umtreiben laßen, ohngeachtet die Leute immer Geschäfte im Packhofe und

5
Licent
haben. Eine Unverschämtheit u Unordnung, die man sich kaum

6
vorstellen kann. Noch bey dieser Meße hab ich meinen Unstern mit diesem Laden

7
erlebt, da ich die erste Lieferung von Schellenbergs Kupfern erhalte anstatt

8
der 2ten, das Geld baar vorschieße, und erst hernach des Irrthums gewahr

9
werde. Bitte also sich an
Hartknoch
, oder
Wagner u Dengel
zu halten.

10
Wenn ich nur wüste, an welchen Buchführer und durch welchen das Päckchen

11
bestellt wäre, so würde ich durch diese auf die Spur zu kommen suchen. Helfen

12
Sie mir doch so gut Sie können, zu meinem Eigentum, ich bin so gegen

13
Monumenta
der Freundschaft ziemlich
gewißenhaft
und fast
peinlich
nichts

14
davon zu verlieren. Mit meinem Lesen hat es überhaupt eine eigene

15
Bewandnis. Ich
genieße ein Buch
, solang ich es in der Hand habe, laße mir wenig

16
Zeit in das
Einzelne
einzugehen, und begnüge
bey
den
meisten
an dem

17
dunkeln Eindruck, den das
Ganze
in mir macht oder zurückläßt. Hiezu kommen

18
noch jene Lücken im Zusammenhange, wegen oben angeführter Umstände,

19
da ich so manches nicht habe auftreiben können wegen des hiesigen Mangels

20
und der schon gemeldten Theurung. Basedows Urkunde habe
stante pede

21
oder
sedens in telonio
gelesen, aber einzeln ohne die dazu gehörige Schriften.

22
Semlers Lebenslauf, seine theol. Briefe sein Zwist mit unserm Lavater

23
sind mir gänzlich unbekannt. Zu meiner Schande kenne ich den Mann nicht

24
weiter als aus seinem Geschmier über den Kanon, und aus seiner
beßern

25
Widerlegung der Fragmente, die mir nicht so schlecht vorkommt wie andern.

26
Lernen läst sich immer von ihm, aber zu verlaßen auf ihn hab ich niemals

27
Neigung gehabt. Wegen des
Doctor angelicus
,
muß ich Ihnen noch melden,

28
daß ich 2
Tomos
vom
S. Thomas Aquinas
liegen habe wegen seiner Politik,

29
worinn ihn der heil.
Helvetius
für einen Vorläufer des
Machiavel
s erklärt.

30
Die von ihm angeführten Stellen sind so stark, daß ich Lust bekommen habe

31
den Wust selbst ein wenig durch zu wühlen.

32
Am Geburtstage des Königs fiel es mir ein die
Oeuvres
des
Voltaire

33
durchzugehen und ich wurde mit dem 54 Theil am Palmensonntage fertig.

34
Voriges Jahr habe Luthers Schriften nach meiner alten
defect
en Jenaischen

35
Ausgabe zu Ende gebracht, war auch willens die Walchische durchzugehen –

36
Von seinen neul.
herausgekommenen Briefen
auch noch nichts gesehen.

37
Im vorigen August, als am 50sten Geburtsmonathe meines mühseel.

S. 312
Lebens wurde mit der Humischen Uebersetzung fertig, biethe selbige dem

2
Hartknoch an. Sie zur Michaelismeße zu liefern war es zu spät. Er ersucht

3
mich also wenigstens die Ausgabe bekannt zu machen. Im Michaeliskatalog

4
finde ich eine andere Uebersetzung angemeldet mit einer Beil. der dahin

5
gehörigen Schriften. Dies machte meinen Verleger bedenklich, und es war

6
mir lieb der letzten Hand überhoben zu seyn. Mein Bewegungsgrund war

7
ein Augenmerk auf die freymüthigen Betrachtungen meines alten

8
Beichtvaters
Hephästion-Stark
. Ich war einer der ersten Leser hier auf eine sehr

9
zufällige Art und erhielt selbige ganz feucht aus der Preße, ohne selbige dem

10
rechtschuldigen Verfaßer zugetraut zu haben. Aus einer
blinden Ahndung

11
war ich über das Geschwätz von natürl. Religionswahrheiten aufgebracht.

12
Hume sollte eine Antwort auf diese Voraussetzung seyn. Gestern habe an

13
Weygand unbekannter Weise geschrieben u mir eine Erklärung ausgebeten,

14
ob seine versprochene Uebersetzung auskommen wird, ob er mir den Namen

15
des Uebersetzers u eine Anzeige der Schriften die zur Beyl. dienen sollten

16
anzeigen kann; weil ich nicht eher an meine Arbeit Hand anlegen werde, biß

17
ich jene Erklärung von ihm erhalte. Die Ankündigung im Mercur geschah

18
zu spät, weil schon alles beym Meßkatalog bey Seite gelegt war. Daran

19
hängt also die ganze Sache. Unterdeßen hoff ich eher zu gewinnen durch diesen

20
Verzug. Mein alter Freund und Gönner Prof. Kant schickt mir heute ein

21
gebunden Exemplar seiner Kritik zum Frühstück. Ich bin eben so sehr vor

22
Hume’s und Kant’s Meynung als wider beyde. Einer ergänzt den andern;

23
es ist also ein
compendium
meiner ökonomischen Autorschaft gegen den

24
irrenden Ritter und seinen Schildträger das Speer anzulegen – wenn mir der

25
Kützel nicht vergeht.

26
Ich freue mich zum voraus auf den künftigen Anhang zur Zend-Avesta.

27
Ist mein Freund Hartknoch Verleger, so laßen Sie ihn nur sorgen für meinen

28
Antheil. Ich habe mit keinem Aufschluß diese Urkunde bisher lesen können,

29
wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll. Es hat mir immer an
Datis
gefehlt,

30
an
Sproßen
um jene
fastigia
und
puncta liuidiora
zu erreichen, die Sie

31
und mein Gevatter darinn entdeckt haben. Es geht mir überhaupt beym

32
Lesen, daß ich nichts durch Gehör allein verstehe, ohne selbst zu sehen was ich

33
lese, und eben so wenig zu
dicti
ren im stande bin; und denn gehört der

34
Augenblick
dazu, der nicht in unserer Gewalt ist.

35
Den
vierten
Band vom christl. Magazin hab erst vorige Woche in die

36
Hände bekommen können, und aus unsers Pf. Recension der freym.

37
Betrachtungen sehr neugierig gemacht selbige noch einmal
cum grano salis,
nicht

S. 313
im Fluge sondern wie ein Buchstabierschütze zu lesen, welches so meine Absicht

2
in Beziehung des Hume gewesen wäre und hätte seyn müßen, weil ich den

3
ersten Eindrücken niemals traue, auch nicht einmal der 2 und 3 Auflage

4
derselben. Für unsern Horizont hier ist das Werk zu
kostbar
– und unser

5
Geschmack in Sprache und Handlung verhält sich wie die sieben Hügel unserer

6
gebückten und erniedrigten Königsburg gegen jene Alpen. Bey aller herzlichen

7
Neigung für die Schweitz und ihre Aussichten nach dem gelobten Lande, kann

8
ich mich kaum in Gedanken ohne Schwindel und physischen Taumel aus

9
meiner leimernen Hütte und meinem Schauthal auf die dortigen Zinnen

10
wagen. L. u P. sind für mich verehrungswürdige Männer, von
großen

11
Talenten
und
unermüdeten Wuchergeist
, wobey kleine
errores in calculo

12
unvermeidlich sind. Armuth des Geistes – Ruhe der Seele – und die göttlich

13
schönen Pflichten der Dunkelheit sind am angemeßensten einem solchen an

14
geflügelten Worten, Gänsekielen und gemeinschaftlichen
Organo
des inneren

15
Sinnes gelähmten und verstümmelten
εκτρωματι
der neusten Litteratur.

16
Meine
vis inertiae
und mein
oekonomisches
Intereße
legen mir die

17
Thätigkeit eines Zuschauers
im Sorgstul auf. Meine Verbindung mit der

18
Schweitz ist also fast ganz auf den einzigen H. eingeschränkt, als den jüngsten

19
meiner dortigen Freunde.

20
Unter den neuesten Schriften die ich gelesen, haben zwey vorzügl. meine

21
Aufmerksamkeit rege gemacht. Die
Apologie der Apokal
. und die
kritische

22
Geschichte des Chiliasmus
; wünschte von beyden den Verf. zu wißen.

23
Ohngeachtet des Semlerischen Sauerteigs im letztern und
des Anscheins

24
den von Reimarus abgerißenen Faden neu angezettelt und weiter

25
ausge
führt
sponnen zu haben
bleibt es mir immer eine merkwürdige

26
Schrift

27
Küttner in Mitau soll Verf. der
Charactere
und Wezel der scharfsinnigen

28
Abhandl. über Sprache
p
der Deutschen seyn. Die Briefe über das

29
Christentum u die Freymäurer. sind ziemlich
local,
von dem hiesigen reformirten

30
Prediger am Waysenhause, Lauwitz, der ein vertrauter Freund unsers jetzigen

31
Oberhofprediger Schultz ist, seines ehmaligen Halbbruders am Weinberge.

32
Seine
Armenpredigt
, die erste von den hiesigen, die gedruckt worden, hat

33
mir beßer gefallen.

34
Mit meinem kleinen Michel wiederhole jetzt zum fünften mal das N. T.

35
hoffe auch die
Bereschit
vor seinem 12ten Jahr zu Ende zu kommen. Nach

36
durchgelaufener
Odyssée
sind wir jetzt in der Iliade. Terenz ist unser
Avtor
im

37
lateinschen, und zum Feierabend dient
Locke’s Essay on Criticism.
Seine

S. 314
Bestimmung ist den Buchhandel bey Hartknoch auszulernen – oder auch

2
Medicin
zu studieren; wie Gott will, von dem Leben und Seegen abhängt.

3
Ohne eine
Frau
zu haben, – leider! – bin ich Gottlob! ein Vater von 4

4
Kindern, die wenigstens gesund sind und mir eben so viel
Hofnung
als
Seegen

5
machen.
Es ist nicht gut daß der Mensch allein sey
– und noch sinnlicher

6
steht es in Ihrem Prediger Salomo. Wünsche also von Grund des Herzens

7
daß es auch bald bey Ihnen vom Rath zur That kommen möge. Ich werde

8
gewiß nicht der letzte seyn an Ihrem Glück Theil zu nehmen, und ersterbe Ihr

9
verpflichtester und ergebenster Freund und Diener.

10
Johann Georg Hamann


11
Mein lieber Gevatter und Landsmann wird vermuthl. meiner Bitte u

12
Besorgung gemäß, die beyden Scherflein zu rechter Zeit Ihnen zugefertigt

13
haben. Leben Sie wohl u erfreuen mich bald mit der Nachricht des

14
widergefundenen.


15
Adresse mit Siegelrest:

16
Herrn / Herrn / Kleuker, / Rector am Gymnasium / zu /
Osnabrück
.


17
Vermerk von Kleuker:

18
den 22sten Jul. 81.
Hamann

Provenienz

Universitätsbibliothek Kiel, Cod. MS. K.B. 93, 17–18.

Bisherige Drucke

Henning Ratjen, Johann Friedrich Kleuker und Briefe an seine Freunde (Göttingen 1842), 69–74.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, II 350–355.

ZH IV 310–314, Nr. 625.

Zusätze fremder Hand

314/18
Johann Friedrich Kleuker

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
310/2
p
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
p.
310/10
weiß
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
weiß
310/10
bey
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Geändert nach der Handschrift; ZH:
bei
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Päck
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Geändert nach der Handschrift; ZH:
Pack
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erkundigt,
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Geändert nach der Handschrift; ZH:
erkundigt
311/16
bey
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Geändert nach der Handschrift; ZH:
bei
312/8
Hephästion-Stark
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Geändert nach der Handschrift; ZH:
Hephästion = Stark
313/16
oekonomisches
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Geändert nach der Handschrift; ZH:
ökonomisches
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Schrift
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Geändert nach der Handschrift; ZH:
Schrift.
314/2
Medicin
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Geändert nach der Handschrift; ZH:
Medizin