594
200/30
Königsberg 30
Junii
80.

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Den letzten May bin ich mit Ihrer Zuschrift und Gaben erfreut worden, die

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ich längst zu sehen gewünscht, aber keine Gelegenheit dazu gehabt. Ich bin

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izt nicht im Stande zu kaufen und muß meine Neugierde durch lauter krumme

S. 201
Wege und die Mildthätigkeit andrer befriedigen. Mein aufrichtiger Dank ist

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zugleich ein Anspruch auf das Ende des Werks.

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Ihre merkurialische Auflösung gab zu einem Misverständnisse des

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Verfassers und zu einer außerordentlichen Gährung in meinem Gemüthe Anlaß.

5
Es ist mir daher angenehm, den
rechtsschuldigen
gleichfalls für einen

6
Freund
in petto
zu erkennen. Ich erhielt zu Anfang des 777 Jahrs meinen

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gegenwärtigen Posten und zugleich die bewußten Stücke des Merkurs. Unter

8
dem Einflus der drey Sieben überfiel mich eine Art von Nymphomanie zu

9
einer ganz wunderlichen Ausarbeitung, über die ich lange nachher gebrütet,

10
aber gänzlich aufgegeben habe.
Schürze von Feigenblättern
war der Titel;

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und die Abschnitte

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1. Nachhelf eines Vocativs, über das verhunzte Genus des Worts Glocke

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in des lieben Asmus Erzählung vom Nachtwächter und Bürgermeister.

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2. Charfreitagsbuße für Capuziner.

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3. Die Brücke ohne Lehne.

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In dem zweyten Theil sollte eigentlich das Thema ausgeführt werden – aber

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patriae cecidere manus.

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Wenige Tage vor Erhaltung Ihrer gütigen Zuschrift laß ich in Luthers

19
Schriften „vom Ritter
Kondalo
auf einer schmalen Brücke, mit einer Last

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auf dem Rücken, unter sich einen schweflichten Pfuhl voll Drachen und

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einen, der ihm entgegen kömmt“ – Auslegung des
VII.
Kap. Matheus. Da

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glaubte ich ganz gewiß den Schlüßel zu mir selbst gefunden zu haben.

23
Aber auch bei Ihnen – scheint das Sprüchwort nicht zu treffen; daß jeder

24
der Beßte Ausleger seiner Worte ist. Denn ohne den Sprung vom
Stehen

25
zum
Vorangehen
zu rechnen: so sagt Paulus nicht, wer steht (ich meine

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I.
Kor.
X.
12.) sondern:
wer sich läßt dünken, er stehe
. Ein solcher
Dünkel

27
zu stehen
, = seiner Sachen gewiß zu seyn, kann freilich leicht ein innerer Zug

28
werden, oder jemanden verleiten, ein Anführer,
Vorgänger
und Autor zu

29
seyn: aber dieser
Dünkel
ist allerdings eine
Brücke ohne Lehne
(besonders

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nach einer französischen Übersetzung des letzten Worts) bey der man sich hüten

31
muß vor einem Fall. Diese
Vermeßenheit
zu sagen: Er ist es, und die Zeit

32
ist herbei kommen – Siehe Er ist in der Wüsten – Sieh er ist in der Kammer –

33
ist eine charakteristische Erinnerung und Warnung für diejenigen,
εις ους τα

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τελη των αιωνων
κατηντησεν
„auf welche das Ende der Welt gekommen

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ist.“


S. 202
Den 2
Jul.
Dom.
VI.

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Ich bin tagtäglich unterbrochen worden und augenblicklichen Zerstreuungen

3
ausgesezt. Es geht mir sehr oft, daß ich meine eigne Hand nicht lesen kann, und

4
mir wird bey dem, was ich selbst geschrieben so übel und weh als dem Leser,

5
weil mir alle Mittelbegriffe, die zur Kette meiner Schlüße gehören, verraucht

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sind und so ausgetrocknet, daß weder Spur noch Witterung übrig bleibt.

7
Ich habe mich in eine solche Manier zu schreiben hineinstudiert, die mir weder

8
selbst gefällt, noch natürlich ist – und weil von St. Paulo die Rede ist, so

9
wünschte ich auch lieber fünf Worte im Publico mit meinem Sinn, denn sonst

10
10000 Worte mit Zungen und dem Geist. Unterdeßen muß jeder Vogel mit

11
dem Wuchs seines Schnabels zufrieden seyn.

12
Entschuldigen Sie mich bey unsern
gemeinschaftlichen Freunden
, – Hr.

13
Lavater wird zwey Scherflein erhalten haben, und da Sie einigen Antheil an

14
meiner Autorschaft nehmen, so bitte allenfalls S. 22 statt
unnahrhaft

15
unwahrhaft und S. 29 statt Fiktionen, Fraktionen zu lesen. Note 14 gehört zu den

16
Worten grade und krumme Grundstriche S. 26. Jemanden, der mich um den

17
Sinn der lezten Worte Hiob
XXXIX.
30. frug, wußte ich nicht beßer als

18
mit dem
weisen Rath
zu antworten, den Sie im zweiten Bändchen dem

19
Sucher
geben S. 235.
a)

20
Prediger Wanowski, den ich in langer Zeit nicht gesehen, besuchte mich

21
neulich und klagte nicht mehr als drey Exemplare des christlichen Magazins

22
verkauft zu haben. Die Schuld liegt nicht an mir, ohngeachtet der Unterschied des

23
Ladenpreises ansehnlich ist.

24
Ich hatte keine Hofnung einen einzigen Subscribenten zu den

25
Schellenbergschen Prospekten zu erhalten und bekam über vierzig. Aber bey der

26
Fortsezung möchte die Hälfte einschmelzen. Ich habe den 27 das lezte Geld

27
bekommen und noch denselben Tag meine ganze Einnahme an das hiesige

28
Friedländische
Comptoir
abgeliefert um den Rest abzumachen. An Herrn

29
Schellenberg kann aber nicht eher schreiben, bis ich genauer die nöthigen

30
Exemplare bestimmen kann. Denn die meisten haben an keine Fortsezung gedacht.

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Von der Ostermeße habe noch wenig gelesen, als Näschereien, die mir der

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Zufall in die Hände gespielt. Der eine hiesige Buchladen ist leer und der

33
andre für mich verschloßen. Der Verfaßer der freimüthigen Nachrichten ist

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mir noch unbekannt, das Buch selbst aber früher als andern zu Theil worden,

35
weil es unmittelbar an einen unsrer Magnaten eingeschickt wurde. Wozu

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Freimüthigkeit
, lauter Dinge, nach denen die Ohren jucken und die
publici

37
saporis
sind, gangbar zu machen! Bey der gegenwärtigen Lage ist

S. 203
Freimüthigkeit weder Tugend noch eine Kunst. Ich bin gewiß, daß sie ihnen selbst

2
am Ende nachtheilig seyn wird, und daß sie ihre eigne Schande ausschäumen

3
werden. Eine solche falsche Freimüthigkeit sollte mit mehr Zurückhaltung

4
beantwortet werden von den Gegenfüßlern.

5
Geben Sie mir doch, wenn es mit gutem Gewißen geschehen kann, einiges

6
Licht über den Charakter und das eigentliche Unglück, oder Verbrechen Ihres

7
Mitbürgers. Es soll
vox in deserto
und
in thalamo
seyn „Stimme in der

8
Wüste und in der Kammer“ und nicht für die Gemeine.

9
Ich habe wirklich die Unverschämtheit das
dritte
Bändchen Ihrer

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Predigten zu erwarten, und darum zu bitten. Weil ich mehr Glück Schuldner als

11
Gläubiger zu seyn habe: so muß ich meine Neigung zum letztern je länger je

12
mehr verlängern. Bey den ungerechten Haushältern unsers klugen

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Jahrhunderts noch in die Schule zu gehen, bin ich leider! zu alt; denn so Gott will!

14
schließ ich den 27 dieses August mein funfzigstes Jahr. Ein
bene latuit, bene

15
vixit
„wohl verborgen, wohl gelebt“ ist immer mein Wahlspruch gewesen.

16
Leben Sie nach Herzenswunsch mit
Weib und Kind
! Gott schenke Ihnen

17
nach schwülen Tagen auch jene
καιρους αναψυξεως απο προσωπου του κυριου

18
jene Zeiten der Erquickung von dem Angesicht des Herrn! Behalten Sie im

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geneigten Andenken Ihren ergebenen Freund und Diener

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Johann Georg Hamann

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943; zugrunde lag eine Abschrift von Häfeli. Letzter bekannter Aufbewahrungsort der verschollenen Abschrift: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], III 18. Original ebenfalls verschollen.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 149–153.

ZH IV 200–203, Nr. 594.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
201/19
Kondalo
]
Geändert nach Druckbogen 1943 (so auch bei Roth); ZH:
Tondalo
201/34
κατηντησεν
]
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
κατηντηκεν
202/1
Jul.
Dom.
]
Druckbogen 1943:
Jul : en
; der Textfehler geht wohl nicht auf Hamanns Handschrift zurück.