586
S. 174
Heil.
Abend u
Mariä
Verkünd. 780.
3
Tausend Seegen der
Krone
aller
Frauen
und
Mütter
– und heil mir, daß
4
ich Sie meine
Freundin
und
Gevatterin
nennen kann.
Amen in secula
5
seculorum. Amen.
6
Ich vergieng vor Gram u Grillen über Ihr Stillschweigen, liebster, bester
7
Herder! auf meine fünf Briefe – denn so viel sind es in allem, die ich Ihnen
8
geschrieben. „Ist Er krank? oder die Seinigen? Hat Er Dir auch übel
9
genommen Dein Geschmier u Geilen? Eigene Geschäfte mögen Ihn verdrieslich
10
machen? Hast Du Ihm auch Verdrus wegen
Censur p
zugezogen?“ Und so
11
giengs in meiner Seele auf und nieder. Ich habe eine
Quarantaine
im
12
eigentlichsten Verstande ausgehalten, und wie ein Gefangener eingeseßen, weder
13
Kirche noch Menschen besucht, als mein
Bureau
oder meine Loge, mir u den
14
Meinigen zur Last.
15
Es gieng mir eben so mit Ihrem
Maran Atha.
Ich zählte gestern die Wochen
16
nach, und es waren nur sechs; nun aber 7 nach meinem jüngsten Briefe. Ich
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fieng ihn gestern an zu lesen und machte eben eine Pause bey dem Briefe an
18
den Bischof zu Sardes, als ich wider alles Erwarten u Vermuthen gestern
19
erhört wurde. Ich sah es ihm gleich an, daß er nichts gedrucktes in sich hielt
20
und war beruhigt und völlig schadlos gehalten durch Ihre
Einladung
, durch
21
die kleine Anecdote des
tägl. Mahnens
, die mir durch Mark und Beine
22
gieng – und durch die gantz aufgegebene u fast vergeßene
Beylage
, welche ich
23
noch den Abend copiret und sie mit dem
innigsten Dank
und
24
gewißenhaftesten Verbindlichkeit
gegen Sie sowol als den Verf. in meinem
25
Müntzkabinet
vergraben
u zurück liefere. Habe ich Recht verstanden, so scheint der
26
Verf. auch seine Erl. auf mich ausgedehnt zu haben, oder wenigstens zu wißen,
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daß ich darnach neugierig gewesen. Ich habe viel Licht über das
mir
28
unbekannte
Schema
erhalten – aber nicht so viel Glauben am
Kern
, und verstehe
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nichts von Falken Enthusiasmus u Geschmack daran oder Sinn deßelben.
30
Hartk. ist mit seiner Frau hier recht früh erwartet worden, aber er ist noch
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nicht zu sehen, noch zu hören. Daß er nicht geschrieben, kommt uns allen
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bedenklich vor. Vor Abgang des Briefes werde mich nach ihm erkundigen. Zu
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einer Reise muß ich Erlaubnis von Berl. und geht sie über die Gränzen,
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unmittelbar aus dem Cabinet haben. Dieser Fall ist kürzlich an einem
35
Officiant
en, der in meiner Loge arbeitet u einer Erbschaft wegen nach Warschau auf
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ein paar Wochen gieng, mir einleuchtend worden, als ein neuer Beweis der
S. 175
alten Wahrheit, daß wir alle
glebae adscripti
sind. Brauch ich Einladung!
2
Sie können sich nicht vorstellen, wie nöthig eine Reise für meine Lebensgeister
3
u Herzensfibern ist. Gott hat alle meine Wünsche bisher erfüllt – also auch
4
diesen. Je mehr die Hofnung abnimmt, desto mehr wächst mein Glaube.
5
Viuit! viuit!
schrieb Luther einmal an Tische u Wände – Bey Erwartung Ihres
6
Briefes hab ich gnug dran gedacht; und die Erhaltung deßelben war ein
7
rechtes
Viuat!
für mich. Nun Gott wolle Ihnen auch helfen Ihre fatale
8
Arbeiten
überstehen
Was Nichtsthuereygeschäfte sind u ihren tödlichen
9
Ueberdruß kenne ich; aber unser Fleisch, unser Fleisch hat diesen Pfahl nöthig, und
10
Gedult ist eine Heldentugend.
11
Mit meinen Scherflein hat es Zeit. Ich habe daran gezweifelt, daß Sie dort
12
würden gedruckt werden können, da man in Leipzig so schwierig gewesen in
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Ansehung der hieroph. Briefe. Es wäre mir lieb, wenn sie in dem Meßkatalog
14
angemeldet würden; doch auch hieran ist nichts gelegen. Lichtenbergs Vorrede
15
zum Gött. Mag. u Cramers neue Erscheinung haben eben den Einfluß in
16
mich, den die Winke aus der Schweitz für Sie, das
Praevenire
zu spielen. Ich
17
habe nichts als eine einzige Abschrift übrig behalten, und mancherley Zusätze
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gemacht, die ich nicht im stande bin durch das Gedächtnis wieder herzustellen
19
oder mir zu ergänzen. Mein spermologischer Styl erlaubt nicht mehr Feile
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oder Correctur des Geschmacks. Bey dem allen wünschte ich mich aus der
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Manier, die mir mehr scheint zur Natur geworden zu seyn, als sie es vielleicht
22
nicht ist, heraus arbeiten zu können.
23
Komm ich nicht zu
spät;
so wünschte ich auf dem griechischen Titulmotto ein
24
kleines
Jota
ι
an statt eines großen
I
und
ana
eines Prälaten
in der Note
25
ausgestrichen. Das ist alles, was ich mich besinnen kann.
26
Aus dem
Dato
Ihres letzten Briefes vergl. mit der Innschrift Ihres
27
Maranatha
ersehe, daß die fahrende Post 20 Tage u folglich noch einmal
28
solange als die reitende geht.
29
Die alte Handschrift, welche in dem
Catalogo
der Hiesigen
30
Schloßbibliothek den Titul:
Distinctiones in Apocalyp.
führt, habe angesehen. Die
31
Aufschrift ist aber ein Irrthum. Es ist
aber
gar nicht von der
Apocalypsi
die
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Rede sondern ein
Tractat de VII. vitiis cardinalibus.
Am Anfange aber steht
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auf einigen Seiten eine Art von Erscheinung oder
Vision,
die ich nicht der
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Mühe werth gehalten zu entziffern, zum Verdrus meiner Augen.
35
Von Kypke
Catalog
sind erst 3 Bogen fertig. Von seinen Handschriften ist
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nichts als das durchschoßene N. T. und ein arabisches
Dictionarium
über die
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Uebersetzung des N. T. Erstes bin ich bis zum 2ten Brief an die Korinther in
S. 176
Vergleichung mit seinen
Obseru.
durchgegangen. Das meiste ist schon
2
gedruckt; und doch kann ich nicht begreifen warum er an
sehr wenigen Stellen
3
Vide impressa
anführt; weil man wahrscheinlicher weise schließen sollte, daß
4
seine
Obseruationes
ein Auszug dieser Handschrift sind. Fast alle Noten sehen
5
nach folgendem Schlage aus
6
ad Rom.
1. 3.
σπερμ
.
Xenoph.
162.
Thuc.
124
Sophocl.
175.
7
—
9.
Myth.
49.
Dem.
370.
Jos.
811. 840. 861.
Plut.
106.
8
Selten so: als 1
Cor XV.
29. getauft werden
i. e.
viel Leiden ausstehen
Vide
9
iudic. Liban. Achill. Tat.
13.
10
Demohngeachtet hab ich die vielleicht sehr vergebene Arbeit über mich
11
genommen alle Stellen die nicht in den
Obseru.
stehen, auszuziehen – vielleicht für
12
meinen Sohn, mit dem ich jetzt gottlob! schon zum dritten mal das N. T.
13
durchgehe, u den Anfang im Hebr. gemacht habe, worinn aber selbst wider ein
14
Schüler werden muß. Im lateinschen haben wir jetzt Ihren Horatz, mit
15
Endigung des 1. Buchs der Oden bin aber gesonnen
Ouidii Metamorphos.
16
vorzunehmen, der ewigen Mythologie wegen. In
Ernesti Initiis
haben wir eben
17
die
Psychologie
zu Ende gebracht, u die kleinen Werke des
Suetonii,
deßen
18
Vitas Imp.
wir wills Gott nach den Feyertagen anfangen werden. Platons
19
Phädon lesen wir jetzt zum 2ten mal in Vergleichung der beyden deutschen
20
Uebersetzungen.
21
Den 27 –
22
Gestern morgen thaten wir einen emauntischen Spatzierweg zusammen
23
nach der Roßgärtschen Kirche, um die alte Cons. Räthin Lindner im
24
Vorbeygehen zu besuchen. Ich habe sie vielleicht zum letzten mal gesehen; und es
25
schien ihr eine unverhofte Freude zu seyn.
26
Es thut mir weh u leid gnug, liebster bester Gevatter, daß ich Ihnen mit
27
nichts eine Freude machen kann. Dachens Gemälde hatte Ihnen zugedacht.
28
Man erhält nichts von der Wallenrodschen Bibliothek, (auf der ich noch in
29
meinem Leben nicht gewesen, und neulich
im
April gegangen bin, weil der alte
30
Christiani
krank war) ohne Erlaubnis der hochadl. Familie; welche mir
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Hippel zu verschaffen versprach. Es ist aber nichts draus geworden wie aus
32
mehr Kleinigkeiten, die meine Ruhe u Angelegenheiten betreffen u blos von
33
seinem guten Willen abhängen. Ich habe ihn lange, sehr lange nicht besucht
34
noch gesehen, kann mich aber länger nicht entziehen mich diese Woche
wider
35
als
Client
zu melden.
36
Walchs Schrift habe mit recht viel Antheil gelesen. Leßings Antwort
S. 177
interessi
rt mich eben so sehr, wie Sie – und andere Wielands Oberon. Walch
2
muß entweder die Frage misverstanden, oder Leßing wichtigere Stellen
3
entgegenzusetzen haben. Die Untersuchung wird immer nützlich seyn – Vielleicht
4
ist ihre beyderseitige Arbeit Erndte für den dritten.
5
Ein Hauptgedanke ist mir in meinen Scherflein entfallen; nemlich
6
Orthographie nach dem Ohr ist eben das Steckenpferd was Theologie nach der
7
Vernunft. Philosophie ist Aussprache; Schrift ist Schrift. Beyde aber
υποδειγματα
,
8
σκιαι
und
αντιτυπα
beßerer, wahrer und geistlicher Dinge. Beyde
in
9
abstracto
betrachtet sind zwey gerade Linien, die entweder ewig
parallel
laufen
10
oder sich einander durchschneiden und eben aus dem Punct ihrer Vereinigung
11
sich ins unendliche von einander entfernen müßen. Es ist ein Glück für mich,
12
daß ich die Spur dieser mit mir grau gewordenen Grille ganz verloren, sonst
13
hätte ich darüber gebrütet und wäre nicht fertig geworden, weil meine Theorie
14
über diese beyde
locos communes
noch nicht reif ist.
15
Entschuldigt hab ich mich bereits deswegen daß ich Ihnen die Mühe
16
zugemuthet die Herausgabe dieser Kleinigkeit zu besorgen; also bitte ich nur
17
alles zum Besten zu kehren. Ersatz, reichen Ersatz habe bereits an
18
zurückkommender Beyl. erhalten. Erfreuen Sie mich noch mit glücklicher
19
Vollendung des Abdrucks.
20
Kommt Hartknoch nicht; so weiß ich noch nicht, was aus Ihrem Pack
21
werden wird. Hartung wird sich kaum damit abgeben. Eins von Schellenberg
22
liegt auch in Leipzig. Wüst ich die
addresse;
so könnte ich es durch ein hiesiges
23
jüdisches
Comptoir, Friedlaender,
vielleicht am leichtesten erhalten.
24
Sagen Sie mir doch auch Ihre Meynung über Falk. Was
ich
man selbst
25
nicht
weiß
, ist das einzige Geheimnis, das man nicht sagen
kan
, wenn man
26
auch gerne wollte. Hier ist für mich eine Brücke ohne Lehne.
27
Eben jetzt erhalte von
Me
Hartknoch Schwester die gute Bothschaft, daß
28
zwar keine Briefe eingelaufen aber ein Fremder angekommen, der in
29
Gesellschaft gehen wollen aber nicht warten können und dem zu Folge er am Grünen
30
Donnerstag abgehen sollen, folgl. erst mit dem Ende dieser Woche hier
31
eintreffen kann. Gott gebe ihm eine gute Reise zu uns u zu Ihnen. Im Geist
32
werd ich ihn begleiten – so wie ich alle Morgen u Abend mit meinen Gedanken
33
bey Ihnen bin. Bey meiner gegenwärtigen Lage erhielten Sie nichts als ein
34
Gespenst, unvermögend zu
reden
und zu
schreiben
. Ich bin jetzt trüb vor
35
Gährung und innerlicher Arbeit, die erst überstanden seyn muß um ein alter
36
milder schmackhafter Wein zum Genuß der Freundschaft zu seyn.
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Versichern Sie nochmals meiner liebens- und verehrungswürdigsten Frau
S. 178
Gevatterin, daß Sie ein gut Werk gethan, den Herrn
2
General-Superintendenten trotz aller Seiner Nichtsthuereygeschäfte von Tag zu Tag gemahnt und
3
nicht ehe Ruhe gelaßen zu haben. Einer durstigen Seele kann ein Trunk kalt
4
Waßers nicht so wol thun als durch einen Brief aller der ängstlichen
5
Besorgniße wegen Ihrer Gesundheit, etwanigen Verdrußes und Misverständnißes
6
auf einmal entledigt zu seyn, die mich wie ein schwerer Stein gedrückt haben.
7
Dort Schnuppen, Catharr
p
hier Ausschläge u andere Kleinigkeiten. Mein
8
HausMutterchen hat sich auch heute legen müßen mit Frost u Hitze die ihr
9
lange in Gliedern gelegen haben. Pathchen ist auch ein paar Tage vermuthlich
10
an Zähnen und bey der Gelegenheit ganz unartig gewesen, aber nach einem
11
kleinen Schmackostern ein recht liebes Kind geworden. Hänschen verspricht
12
sich Ihrer gütigen Einladung würdig zu machen. Was ich für ein
13
wunderliches u schwaches Werkzeug von Vater bin, läßt sich gar nicht denken. Eine
14
wahre Glucke, der man Enteneyer untergelegt.
15
Nun will ich zu meinem Beichtvater
Archid.
Matthes gehen u den Abend
16
da zubringen. Er hat mich vor 8 Tagen eingeladen u ich bin lange nicht bey
17
ihm gewesen. Der neue Großkanzler wird hier erwartet u Minister von
Gaudi
18
der sich einige Wochen unsers verfallnen Handels wegen aufgehalten, soll
19
morgen abgehen. Kypkes Nachfolger wird auch erwartet. Pleßing hat vor
20
meiner Bekantschaft eine Predigt mit 2
Dedication
en u eben so viel Anhängen
21
drucken laßen; seitdem eine weitläuftige
Deductio
über die
Galora
von
22
Venedig geliefert. Unser Umgang dörfte wol zu Ende seyn –
sat prata biberunt.
23
Unser alte Freund Kanter ist vom König in Schutz genommen gegen seine
24
muthwilligen
Creditor
en
u seine Zeitung ist gantz verwayst, daß man
25
heute sogar eine
Recension
aus der allgemeinen deutschen Bibliothek
sans façon
26
hat borgen müßen. Der
Contract
mit einem gewißen Hofger. R.
Graun
ist
27
zurück gegangen und Kanter lebt gantz für seine Mühle u sein Landgut. Mein
28
junger Freund Brahl hat sich zum Anfange dieses Jahrs müde getummelt auf
29
diesem Brachfelde oder Distel- u Dornenacker.
30
Nun ich bin zu Hause gekommen um Ihnen noch eine gute Nacht zu
31
wünschen. Gott seegne Sie und Ihr ganzes Haus und erfülle alle unsere besten
32
Wünsche. Mein klein Gesinde schläft und mein Hausmutterchen stöhnt vor
33
Hitze u Uebelkeit. Gott empfohlen
au revoir, au revoir.
Ich ersterbe Ihr treu
34
verpflichteter und ergebenster
35
Johann Georg Hamann.
S. 477
Handschriftliche Anmerkung von Johann Gottfried Herder zu
21
HKB 586 (IV 174/22) „Beylage“:
Nemlich das Msc. der Fortsezung von
22
Lessings Ernst u. Falk.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 196–197.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VI 120–125.
ZH IV 174–178, Nr. 586.
Zusätze fremder Hand
477/21 –22
|
Johann Gottfried Herder |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
174/1 |
Abend u Mariä |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Abend Mariä |
175/8 |
überstehen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: überstehen. |
175/23 |
spät; ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: spät, |
176/7 |
— ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: – – |
176/34 |
wider ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wieder |
178/21 |
Deductio |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Deduction |
477/20 –22
|
Handschriftliche […] Falk.] |
In ZH im Apparat. |