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Ich kann nicht umhin, liebster H., noch vor Ende des Jahrs Ihnen zu
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schreiben und zum Empfang Ihrer Marianne Sophie Ihnen herzlich Glück
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zu wünschen. Meine Frau, die sich über die Pathenschaft hoch erfreuet hat, wird
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Ihnen selbst schreiben. Gott laße Sie an den Ihrigen Alles erleben, was ich
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mir nur von den Meinigen wünsche.
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Diese sind ganz wohl und Ihr Pathe ein drollichter Junge, der eben jetzt
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meine Stelle eingenommen, geschrieben, gekritzelt und mit Sand bestreut hat,
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bis sich die Scene mit dem Stoßen der schwarzen Tobackspfeife, aus der er
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auch rauchen wollte, an seinen Gaumen und also mit Geschrei endigte. Die
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beiden andern sind Wagschalen und er das bewegliche Zünglein an der Waage,
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voll Freude u. Leid über Alles, was um ihn her ist.
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Daß Ihr Bruder entschlafen, freut mich: er war
ja lange
todt. Ich
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wünschte, daß Sie die Hauptschulden mit Ihrer Erbschaft abstießen und sich
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auf diese Weise wenigstens freie Brust verschafften: das Hauswesen drückt
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uns nieder, wie der Körper die Seele. Und da flugs an: was du thust, das
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thue frisch, Predr.
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Äußerst leid thut mirs, Liebster, daß Sie wie ein gebundner Prometheus
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liegen: der Himmel mache Sie los. Im Schatzkästlein steht auf Ihren
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Geburtstag: ists möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen
p
und auf den
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meinen: es liegt nicht an jemands Wollen oder Laufen, sondern an Gottes
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Erbarmen. Die Sprüche sind sich in der Bibel, wie die Tage im Kalender
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nah und gewiß wahr.
Dicta nobis sunto.
Daß Alles bei Ihnen leerer
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Gedankenplan bleibt, ist davon Folge. Gott gebe Ihren Funken Wind zur Flamme:
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mich bangets recht, in dieser Wüste des Abends etwas von Ihnen zu sehen u.
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zu lesen, wenns auch nur Sternschnuppen wären. Mein Schiff ist völlig auf
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dem Strande. Das Hohelied ist nicht der Rede werth; nur durch die Heurath
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meines Schwagers, der aber noch nichts davon weiß u. durch das Zureden
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meiner Frauen, weil es seit 4. Jahren dalag, erpreßt, u. weiß übrigens nicht,
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woher es kommt oder wohin es gehet? Ich fürchte, daß es mit meiner
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Apokalypse auch so gehen werde: ich habe keinen Nagel im Pallast U. l. Fr.
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Literatur
woran ich etwas hänge u. keinen Altar, wo ichs opfere. Es ist also
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lauter verlohren Werk und Baals-Gabe. Ich will auch mit dem 79. Jahr, wo
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die letzten
enfans perdus
ausgestoßen werden sollen, aufhören zu schreiben.
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Die Hauptsache, die uns jetzt hier intereßirt, ist die Niederkunft unsrer
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geliebten Herzogin, eines edeln Wesens. Sie wird alle
Tag
erwartet u. meine
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Frau ist bestimmt, auch
bei
ihr zu seyn: Gott gebe ihr mit dem neuen Jahr
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aufs beste u. glücklichste einen Prinzen, der einmal eine neue Sproße sei aus
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dieser veralteten Wurzel u. ein Geschöpf ihm zur Freude. Wenn Alles vorbei
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ist, will ich Ihnen die Formulare der Vorbitten
pp
die ich Amtsmäßig
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entworfen habe, samt Gesangbuch
pp
einsenden. Der Geschmack derselben am
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Jesaias hat mir diesen Propheten auch in dieser Weihnachtszeit neu und
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lebendig gemacht: sonst ist leider Alles bei mir todt und träge. Eine Zeitlang habe
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ich aus langer Weile u. zur Verdauung Italienisch getrieben, daß ichs jetzt
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ziemlich lese und mir selbst forthelfen kann. Mit Anfange des Dec. aber und
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weil Jagemann
nicht recht nach
meinem Sinn
gesehen
ist, ist mir die Lust plötzl.
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vergangen: es wird also auch wohl unter den Werken des alten Jahrs
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dahinten bleiben.
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Auch mit der Lust zu predigen stockts sogar, insonderheit in der Hofkirche.
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In den Wochenpredigten habe ich den Br. an die Römer geschloßen und Hiob
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angefangen; ich wünschte, daß ich in den Geist des Buches und seiner Zeit
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käme. Alles ist leer um mich und kaum daß noch hier u. da ein Kranker oder
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Sterbender mein Blut rüttelt. Das Wetter trägt vielleicht auch dazu bei: da
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bis jetzt noch kein Frost, oft die heitersten Tage u. kaum seit gestern ein Sturm
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ist, der Winter verkündigt.
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Auf ein paar Auktionen bin ich glückl. gewesen, habe eine
ευκληρια
der
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Schurmannin mit Yvons, ihres Beichtvaters, der an ihrem Grabe gewohnt
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hat, eigner Handschrift, deßgleichen eine trefl. alte Kirchenpostill Luthers, die
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Joh. Olearius gebraucht, ein Buch von Selneccer mit seiner eignen
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Handzuschrift, eine Ebräische Bibel mit H. Opitzens reichen Anmerkungen u. Varianten,
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deßgleichen viel anders fast ohne Geld bekommen; lauter todte Kohlen aber,
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die auf Wind des Herren warten. Was mich jetzt allein freuet, ist Jesaias –
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Semler hat über seine Widerlegung des Ungenannten auch an mich
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geschrieben; ich habe ihm aber kaum 9. Pränumeranten schaffen können. Zu
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Leßings Nathan sind mehr. Auf Reiskens Hiob, der Ostern erscheint, werden
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Sie doch auch subscribiren. – – Der Verf. der Lebensläufe kann Hippel
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unmögl. seyn, wenigstens nicht allein; sobald Sie etwas gewißes erfahren,
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bitte ich sehr um Nachricht. Ich habe schon viele vergebens gefragt.
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Mendelsohn sagte mir vor 4. Jahren in
Pyrmont
der Verf. des Buchs „über die
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Ehe“ sei ein junger Mensch, der nach Rußland in Condition gegangen, seinen
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Namen dem Verleger nicht genannt u. nur gebeten, an mich u. ich weiß nicht,
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an wen mehr? ein Ex. zu senden. Ich weiß nicht, ob an der Mähre was dran
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ist, wenigstens habe ich kein Exempl. erhalten. Winkelm. Briefe in
die
Schweiz
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haben Sie doch gelesen: mich freuts, daß er darinn auch an mich
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unbekannter Weise denkt; habe sie aber bis jetzt noch nicht genießen können, weil ich
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für die Kunst jetzt kein Ohr oder Seele habe. Der zweite Theil von Klopstock
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durch Kramer, wo auch ich so gemißhandelt bin, ist abscheulich. Ich wollte, daß
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seine rasende Bogen von der Rechtschreibung, die in Campens
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Schulsammlungen u. auch besonders herausgekommen sind, Sie zu einem neuen Versuch
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über den Buchstab H. weckte. Der alte stolze Narr ist dem
delirio
nahe.
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Haben Sie je den Dante gelesen? was ich von ihm weiß, ist in der
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Italienischen Sprache u. Denkart einzig. Offenbar hat ihn Klopst. stark gelesen
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und nach seiner Art stark gebraucht; es ist aber auch nichts weiter. Von
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Claudius weiß ich, seitdem er mir vor ¼ Jahr 100. Austern zum Geschenk
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geschickt hat, nichts; von Kaufmann, seitdem er mich auch zum Gevatter
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gebeten, deßgleichen; die andern sind mir so gut als todt und ichs ihnen. Sie
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allein, lieber H., sind mein alter Wegweiser und Freundessäule und sollens
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auch bleiben. Mich gräuelt vor manchem, was mich eine Zeit so wohl behagt
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hat und habe also auch das Absterben der besten Leute auf eine Zeit nöthig.
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Schlegel hat seine Schulstelle in Riga niedergelegt; und der Rath mich durch
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J. C. Berens um Vorschläge zu einem neuen
rectore
ersuchen laßen, doch will
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jener noch eine Zeitlang die Inspektion behalten. Ich wünsche ihm Glück zu
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seinem neuen Kirchen- und Doctoratsmeere; ich fürchte aber, weil er nach der
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Höhe strebt, wird er sie nicht erlangen. Das garstige lügenhafte Leben von
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mir in Gadebusch liefländischer Bibliothek haben Sie doch gelesen; ich wollte,
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was den Rath zu Riga betrift, irgendwo in wenigen Reihen antworten, weiß
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aber nicht recht, wo? Was ist Ihre Meinung?
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Der Graf von Wernigerode, Pathe meines 3ten Jungen, u. die reg. Fürstin
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zu Lippe Detmold sind beinah zu einer Zeit schnell gestorben. Jener hinterläßt
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einen liebenswürdigen Sohn zum Nachfolger, diese aber ein klagendes Land
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und einen
Gemahl
der ein keuchendes Schwein ist. Sie war die einzige
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Hoffnung des armen
Benzlers
, eines Menschen, der leider ein Uebersetzer seyn
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muß, aber viel was Beßers zu seyn verdient. In Ansehung der Gelehrsamkeit,
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Bescheidenheit u. reellen alten u. neuen Sprachkänntniß ist ihm Kleuker, der
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mit ihm an Einem Ort gelebt hat, gar nicht zu vergleichen; aber er ist sehr
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harthörig u. beinah auch blind und das Schicksal verfolgt ihn. Er ist aus einer
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alten, ehrlichen Familie und der liebenswürdigste gutherzigste Junge, hat
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Frau und Kinder und muß fast verhungern. Ich habe Gleimen um Gottes
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Willen gebeten, daß
der
g
junge
Graf von Wernigerode ihm doch ein kleines
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Bettelbrot gebe; ich wünschte, daß es geschäh. Sie würden ihn gewiß lieben,
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wenn Sie ihn kennten.
pauper vbique iacet.
– Gnug für heut. Morgen will
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ich schließen.
Den 29. Dec. Abends.
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Erst heut,
den 2.ten Jan. Morgens
kann es seyn u. also auch mit Anfang
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des Jahrs 1000. Glück u. Segen, insonderheit die 3. Paullinischen Grazien
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1
Cor.
12,8–13. über die ich gestern gepredigt, aber den Tag mit Kopfschmerz,
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so wie
das alte Jahr mit einem Ruck Ärger beschloßen habe. Wer
weiß
was
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das 79. bringen wird; mir scheints, ein gleichgültiges Jahr werden zu wollen,
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dem ersten Anklange nach: doch will ich, so viel es angeht, insonderheit meinen
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litterarischen
p
Wust aufräumen, um mit Gottes Hülfe die 80. rein und frisch
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anzutreten. Machts auch so lieber Alter mit Euren Schulden, u. physischen
21
Ursachen des Mißmuths: es wird Euch
wohlthun
u. fürs übrige wird Gott
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sorgen. Viel Glück u. Freude in Euer Haus, an Hausgenoßen, Kinder,
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Knechte u. Mägde. Auch Kreuzfeld, dem ich für die
Lettica
eigenhändig hätte
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danken sollen, grüßen Sie bestens von mir: seinen
neuen
Hudibras im
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neuesten Merkur habe den 31. Dec. Abends zu Tisch bekommen, er hat mir
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aber nicht schmecken
wollen;
der Fleiß der
Ausbi
Nachbildung liegt im
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einzelnen Ausdruck, der Geist des Ganzen, dünkt mich, fehlt. Die Charaktere in
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Prose haben mir beßer gefallen. Der Zettel, den Sie verlangen, kommt
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hiebei; das übrige Papier laße ich meiner
Frauen
zum Schreiben u. umarme Sie
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noch herzlich u. inbrünstig. Ihr ewiger
31
Herder
32
Von Caroline Herder:
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Nun auch lieber Herr Gevatter und Freund. Sie haben mich durch Ihre
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Liebe u. Wahl zur Pathin Ihrer
dritten
Tochter Marianne Sophie, gar
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herzlich erfreut – der liebe Gott segne Vater, Mutter u. Kinder u.
lasse
die drey
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Blümchen mit dem Erstgebohrnen ein schöner, ewiger Kranz der Belohnung
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für Sie seyn! – Mein Mann hat Ihnen noch nie so recht gesagt wie herzlich ich
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Sie liebe – wie freut michs daß ichs jetzt bei dieser schönen Gelegenheit thun
2
kann – als den Ersten u. Einzigen Freund meines Mannes verehre
u.
liebe
3
ich Sie. – ich wünsche Ihnen, Ihrer lieben Hausgenossin u. Kindern
4
tausendfaches häußliches Glück u. Freude zum neuen Jahr.
5
M. Carol. Herder.
6
Von Johann Gottfried Herder:
7
Liebster H. können Sie mir nicht
Sim. Dachs
Gedichte verschaffen? Sie
8
müßen doch bei
ihnen
häufig seyn. Ich wünschte sie aber, etwa mit
9
Gelegenheit, oder fahrender Post, bald. Sie weisen mich zwar, lieber H., mit den
ana
10
u. P.
Mannah
ab; da aber Kreuzfeld in seinem Geburtstagsgedicht an Sie
11
würklich
Seitenzahl
, Titel
p
anführt u. ich also vermuthe, daß es gedruckt
12
ist, darf ich nicht, lieber Gevatter, um ein Exempl. bitten? Es soll nicht aus
13
meiner Hand.
Adieu, Adieu, Adieu, remember me,
wie der Geist zu Hamlet.
Provenienz
Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 17).
Bisherige Drucke
Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 136–140.
ZH IV 38–42, Nr. 539.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
38/20 |
ja lange ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: ja schon lange |
38/27 |
p |
Geändert nach der Handschrift; ZH: p., |
39/6 |
Literatur ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Literatur, |
39/10 |
Tag ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Tage |
39/11 |
bei ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: bey |
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pp |
Geändert nach der Handschrift; ZH: pp. |
39/20 |
nicht recht nach ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: nicht nach |
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Pyrmont ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Pyrmont, |
40/10 |
die ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: der |
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Gemahl ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Gemahl, |
41/9 |
der g junge ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: der junge |
41/16 |
weiß ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: weiß, |
41/16 |
so wie ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: sowie |
41/21 |
wohlthun ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wohlthun, |
41/26 |
wollen; ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wollen, |
41/29 |
Frauen ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Frau |
41/35 |
lasse ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: laße |
42/2 |
u. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: und |
42/8 |
ihnen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Ihnen |