522
S. 1
Königsberg den 2 Jänner 78.
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HöchstzuEhrender Herr Capellmeister,
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Herzlich geliebter Landsmann und Freund,
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Viel Glück zum
jungen
Sohn
und zum
Neuen Jahr
!!! Das Erste habe
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von Ihrem Herrn Vater erfahren unter dem Schall der Posaunen, wie von
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Rechtswegen. Zum letzten werd ich
zufällig
veranlaßt, weil mein Vorsatz
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war es
in petto
zu behalten, und ich besorge, daß Ihnen mein Briefwechsel
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vereckelt seyn muß. Bisweilen sind aber die
Impromtus
am besten. Wünsche
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thun’s freylich nicht; und Gold und Silber hab ich nicht; auch keinen
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Weyrauch und Myrrhen und Specereyen aus Arabia. Nichts als das trotzige
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und verzagte Ding, das Gott und kein Freund verschmäht!
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So ein ruhiges Jahr hab ich noch nicht erlebt als dieses. Das
Omen
dieser
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feyerlichen Stille ist mir noch ein Räthsel, deßen Deutung ich von der Zeit –
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(denn Sie versteht die Kunst) erwarte. Seit den 12
pr.
laborire an einem
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gestoßenen Schienbein; ich denke aber künftige Woche in meine Loge zu gehen.
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Kreutzfeld u Krau
se
s sind die einzigen Menschen, die ich noch in diesen zwey
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Tagen gesehen; ersteren 2 und letzten 1 mal. Penzel habe den ganzen
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Christmonath nur 3 mal gesehen; er ist von Kanter ausgezogen, und jedermann ist
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so neugierig auf die Entwickelung seines Schicksals, wie ich auf seines
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Charakters – seitdem meine Nachbarinn (
Selma St
ockmar
) seine
prima Donna
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geworden. Ich besorge aber, daß es Ihnen nicht beßer mit Ihrem
Client
en
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gehen wird, als mir mit jenem. Den 27
pr.
erhielt ich eine förmliche
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Entscheidung, die alle meine Klagen und Beschwerden vernichtete und mir
pretensions
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ridicules et inconsequentes
,
(welche man zu solchen,
qui paroissent
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nullement fondées
,
gemildert hatte,) in meinen grauen Bart warf.
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Weil ich diesen
Lauf der Natur
zum vorausgesehen; so habe ich mir so viel
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Zeit gelaßen, wie eine junge Frau zu Ihren Sechswochen und war eben so froh
S. 2
von meiner Schwangerschaft am Tage Elise entbunden zu seyn. Aber nun
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möchte ich beynahe mit der Rebecca sagen: Da mir’s also gehen sollte. – Meine
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letzte Jahresarbeit ist gewesen, meiner
prima Donna
und dem Chef des
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Departements zu antworten, indem ich der ersten für ihre Grausamkeit die Hände
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geküßt, und dem letzten das gethan, was Apoll dem Horaz an seinem Ohr.
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Ad oculum et unguem
Wahrheiten und Lügen zu demonstriren ist meine
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Sache nicht. Bey mir ist von Sturmwinden die Rede, die man sausen hört,
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ohne selbige anders als an den Wirkungen sehen zu können, und die in den
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Lüften herrschen, ohne daß man ihre Gestalt, Anfang und Ende mit den Fingern
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zeigen kann. Alle die Furien des verflossenen Jahres sind also nichts als
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Hirngespinste gewesen; anstatt Unrecht gelitten zu haben, hab’ ich selbst Unrecht
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gehabt. „Erbarmt euch mein, erbarmt euch mein, Ihr meine Freunde“. – – Hiob
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XIX.
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Ich habe alles Unrecht von meiner Seite gestanden, und mich allem mit
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ganzem Herzen unterworfen, ohne der Hauptsache, die nicht mein, sondern ein
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gemeinschaftliches Interesse betrifft, etwas zu vergeben.
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Weder ein ehrlicher noch kluger Mann erniedrigt sich zu Rechtfertigungen,
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geschweige zu Delationen. Ich bekümmere mich um nichts und weiß von nichts.
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Dieß ist die Burg und das Sans-Souci meiner socratischen Philosophie. Je
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weniger ich mir anvertraut weiß, desto glücklicher.
C’est mon goût, ma gloire,
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mon repos.
Wo es aber auf Rechenschaft ankommt, ist jeder Strohhalm für mich
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ein Pfahl vom Zaun, und der kleinste Bruch wichtig genug zu einem Revisions-
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Receß oder
querelle d’Allemand.
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So viel, liebster Freund und Gönner! zu Ihrer Nachricht, wenn Sie noch
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einigen Antheil an meinem Schicksal nehmen, und mir im Grunde des Herzens
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wünschen den Triumph einer guten Sache, damit Ihre Arbeit nicht verloren
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sey, sondern wie die Aloe blühe, und noch köstlichere Frucht bringe.
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Ich hätte gern länger mit meinem Schreiben gewartet, mußte aber eilen.
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Mein Zaudern war zugleich ein Werk zur Nachfolge. Stockmar verdient mein
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ganzes Mitleiden; ich bin der glücklichste Mensch in Vergleich seiner und schaudere
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dafür, mich an seiner Stelle zu denken. So wenig ein Mann wie er auch
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wahrer Freundschaft fähig ist, so hat er doch den guten Willen gehabt mein Freund
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zu seyn, und dieß ist in meinen Augen ein Charakter
indelebilis.
Aber mein
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Nachbar zur Linken ist ein
coquin parvenu
und von der
Race,
die nicht
Gott
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nicht Menschen treu
ist, der nichts wie
chicane
versteht, und deßen
chicane
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nichts als
betise
ist, ein Schandfleck so wohl als Pest des Dienstes, zehnmal
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mehr als der
infame
Dieb
Valtier,
der
protegé
des Lumpenhundes
Magnier.
S. 3
Meine
prima Donna
(ich meine nicht Penzels Jesabel) hat von diesem
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machoire
mehr Schande u Nachtheil zu besorgen als von dem
etourdi crevé.
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Wenn ich durch meinen Eifer den
respectum parentelae
eines
subordinirt
en
4
aus den Augen setze; so erfülle ich durch diese Uebertretung höhere Pflichten,
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die ich höheren Verbindlichkeiten schuldig bin und habe seine
eigene
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Gesinnungen
gegen unsere
gemeinschaftl
.
prima Donna
ausgeholt, und
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bestreite meinen
chicaneur
mit seinen eigenen tummen Waffen –
sub vmbra
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alarum Tuarum
und unter einem gläubigen:
Fiat voluntas TVA!
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Das allerärgste, was mir widerfahren kann, wäre zu einer Reise nach
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Berlin gezwungen zu werden, um Ihren kleinen
Prinzen
und meine
beyde
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Pathen
im heil. römischen Reich in Augenschein zu nehmen. Es geht mir aber,
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wie meinem Freunde
Rabelais
zu
Lion,
der kein ander
Stratagem
wußte die
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Kosten der Reise zu ersparen oder aufzubringen, als sich in den Verdacht eines
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Giftmischers zu
bringen
setzen, und Flockasche für Ratzenpulver
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auszugeben. –
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Gott seegne Ihr heiliges Kleeblatt,
Vater
,
Mutter
und
Kind
! Melden
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Sie mir doch das
Datum
seiner Ankunft
und seinen
Namen
. Grüßen Sie
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Ihren guten Freund
Engel
! und hiermit nochmals Gott empfohlen!!! Ich
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ersterbe
ganz
der Ihrige,
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Johann Georg Hamann.
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Adresse:
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Herrn / Herrn Capell Meister Reichard / zu /
Berlin
.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.
In den beiden noch vorhandenen Druckbogen-Konvoluten von 1943 fehlt jeweils S. 2 (HKB 522 [IV 2/1–34] „von meiner Schwangerschaft“ bis „coquin parvenu“). Schon Henkel edierte diese nach dem Druck bei Roth; Text auch hier nach Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 270–272.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 268–273.
ZH IV 1–3, Nr. 522.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
1/4 |
Sohn ]
|
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH: Sohn |
1/20 |
prima Donna ]
|
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH: prima Donna |
1/23 –24
|
pretensions ridicules […] inconsequentes] |
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH: pretensions ridicules et inconsequentes |
1/24 –25
|
qui […] fondées] |
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH: qui paroissent nullement fondées |
3/16 |
und ]
|
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH: und |