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S. 1
Königsberg den 2 Jänner 78.

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HöchstzuEhrender Herr Capellmeister,

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Herzlich geliebter Landsmann und Freund,

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Viel Glück zum
jungen
Sohn
und zum
Neuen Jahr
!!! Das Erste habe

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von Ihrem Herrn Vater erfahren unter dem Schall der Posaunen, wie von

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Rechtswegen. Zum letzten werd ich
zufällig
veranlaßt, weil mein Vorsatz

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war es
in petto
zu behalten, und ich besorge, daß Ihnen mein Briefwechsel

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vereckelt seyn muß. Bisweilen sind aber die
Impromtus
am besten. Wünsche

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thun’s freylich nicht; und Gold und Silber hab ich nicht; auch keinen

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Weyrauch und Myrrhen und Specereyen aus Arabia. Nichts als das trotzige

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und verzagte Ding, das Gott und kein Freund verschmäht!

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So ein ruhiges Jahr hab ich noch nicht erlebt als dieses. Das
Omen
dieser

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feyerlichen Stille ist mir noch ein Räthsel, deßen Deutung ich von der Zeit –

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(denn Sie versteht die Kunst) erwarte. Seit den 12
pr.
laborire an einem

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gestoßenen Schienbein; ich denke aber künftige Woche in meine Loge zu gehen.

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Kreutzfeld u Krau
se
s sind die einzigen Menschen, die ich noch in diesen zwey

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Tagen gesehen; ersteren 2 und letzten 1 mal. Penzel habe den ganzen

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Christmonath nur 3 mal gesehen; er ist von Kanter ausgezogen, und jedermann ist

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so neugierig auf die Entwickelung seines Schicksals, wie ich auf seines

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Charakters – seitdem meine Nachbarinn (
Selma St
ockmar
) seine
prima Donna

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geworden. Ich besorge aber, daß es Ihnen nicht beßer mit Ihrem
Client
en

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gehen wird, als mir mit jenem. Den 27
pr.
erhielt ich eine förmliche

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Entscheidung, die alle meine Klagen und Beschwerden vernichtete und mir
pretensions

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ridicules et inconsequentes
,
(welche man zu solchen,
qui paroissent

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nullement fondées
,
gemildert hatte,) in meinen grauen Bart warf.

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Weil ich diesen
Lauf der Natur
zum vorausgesehen; so habe ich mir so viel

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Zeit gelaßen, wie eine junge Frau zu Ihren Sechswochen und war eben so froh

S. 2
von meiner Schwangerschaft am Tage Elise entbunden zu seyn. Aber nun

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möchte ich beynahe mit der Rebecca sagen: Da mir’s also gehen sollte. – Meine

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letzte Jahresarbeit ist gewesen, meiner
prima Donna
und dem Chef des

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Departements zu antworten, indem ich der ersten für ihre Grausamkeit die Hände

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geküßt, und dem letzten das gethan, was Apoll dem Horaz an seinem Ohr.

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Ad oculum et unguem
Wahrheiten und Lügen zu demonstriren ist meine

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Sache nicht. Bey mir ist von Sturmwinden die Rede, die man sausen hört,

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ohne selbige anders als an den Wirkungen sehen zu können, und die in den

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Lüften herrschen, ohne daß man ihre Gestalt, Anfang und Ende mit den Fingern

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zeigen kann. Alle die Furien des verflossenen Jahres sind also nichts als

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Hirngespinste gewesen; anstatt Unrecht gelitten zu haben, hab’ ich selbst Unrecht

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gehabt. „Erbarmt euch mein, erbarmt euch mein, Ihr meine Freunde“. – – Hiob

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XIX.

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Ich habe alles Unrecht von meiner Seite gestanden, und mich allem mit

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ganzem Herzen unterworfen, ohne der Hauptsache, die nicht mein, sondern ein

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gemeinschaftliches Interesse betrifft, etwas zu vergeben.

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Weder ein ehrlicher noch kluger Mann erniedrigt sich zu Rechtfertigungen,

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geschweige zu Delationen. Ich bekümmere mich um nichts und weiß von nichts.

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Dieß ist die Burg und das Sans-Souci meiner socratischen Philosophie. Je

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weniger ich mir anvertraut weiß, desto glücklicher.
C’est mon goût, ma gloire,

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mon repos.
Wo es aber auf Rechenschaft ankommt, ist jeder Strohhalm für mich

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ein Pfahl vom Zaun, und der kleinste Bruch wichtig genug zu einem Revisions-

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Receß oder
querelle d’Allemand.

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So viel, liebster Freund und Gönner! zu Ihrer Nachricht, wenn Sie noch

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einigen Antheil an meinem Schicksal nehmen, und mir im Grunde des Herzens

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wünschen den Triumph einer guten Sache, damit Ihre Arbeit nicht verloren

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sey, sondern wie die Aloe blühe, und noch köstlichere Frucht bringe.

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Ich hätte gern länger mit meinem Schreiben gewartet, mußte aber eilen.

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Mein Zaudern war zugleich ein Werk zur Nachfolge. Stockmar verdient mein

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ganzes Mitleiden; ich bin der glücklichste Mensch in Vergleich seiner und schaudere

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dafür, mich an seiner Stelle zu denken. So wenig ein Mann wie er auch

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wahrer Freundschaft fähig ist, so hat er doch den guten Willen gehabt mein Freund

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zu seyn, und dieß ist in meinen Augen ein Charakter
indelebilis.
Aber mein

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Nachbar zur Linken ist ein
coquin parvenu
und von der
Race,
die nicht
Gott

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nicht Menschen treu
ist, der nichts wie
chicane
versteht, und deßen
chicane

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nichts als
betise
ist, ein Schandfleck so wohl als Pest des Dienstes, zehnmal

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mehr als der
infame
Dieb
Valtier,
der
protegé
des Lumpenhundes
Magnier.

S. 3
Meine
prima Donna
(ich meine nicht Penzels Jesabel) hat von diesem

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machoire
mehr Schande u Nachtheil zu besorgen als von dem
etourdi crevé.

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Wenn ich durch meinen Eifer den
respectum parentelae
eines
subordinirt
en

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aus den Augen setze; so erfülle ich durch diese Uebertretung höhere Pflichten,

5
die ich höheren Verbindlichkeiten schuldig bin und habe seine
eigene

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Gesinnungen
gegen unsere
gemeinschaftl
.
prima Donna
ausgeholt, und

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bestreite meinen
chicaneur
mit seinen eigenen tummen Waffen –
sub vmbra

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alarum Tuarum
und unter einem gläubigen:
Fiat voluntas TVA!

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Das allerärgste, was mir widerfahren kann, wäre zu einer Reise nach

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Berlin gezwungen zu werden, um Ihren kleinen
Prinzen
und meine
beyde

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Pathen
im heil. römischen Reich in Augenschein zu nehmen. Es geht mir aber,

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wie meinem Freunde
Rabelais
zu
Lion,
der kein ander
Stratagem
wußte die

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Kosten der Reise zu ersparen oder aufzubringen, als sich in den Verdacht eines

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Giftmischers zu
bringen
setzen, und Flockasche für Ratzenpulver

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auszugeben. –

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Gott seegne Ihr heiliges Kleeblatt,
Vater
,
Mutter
und
Kind
! Melden

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Sie mir doch das
Datum
seiner Ankunft
und seinen
Namen
. Grüßen Sie

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Ihren guten Freund
Engel
! und hiermit nochmals Gott empfohlen!!! Ich

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ersterbe
ganz
der Ihrige,

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Johann Georg Hamann.


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Adresse:

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Herrn / Herrn Capell Meister Reichard / zu /
Berlin
.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.

In den beiden noch vorhandenen Druckbogen-Konvoluten von 1943 fehlt jeweils S. 2 (HKB 522 [IV 2/1–34] „von meiner Schwangerschaft“ bis „coquin parvenu“). Schon Henkel edierte diese nach dem Druck bei Roth; Text auch hier nach Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 270–272.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 268–273.

ZH IV 1–3, Nr. 522.