520
395/7
Zürich, den 26.
X
br.
1777.
8
Lieber Hamann,
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Am Weynachtsfreytagabend empfang ich in einem mißmuthigen
10
Augenblicke, an deßen Mißmuthigkeit ich selber
schuld bin
, einen lieben Brief von
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Ihnen, väterlicher Freund! den ich sogleich, um mir leichter zu machen – so
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gut ich itzt kann – beantworten, oder vielmehr mit einigen Zeilen erwiedern
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werde. Mit Dank sollt’ ich anfangen – und ich danke doch so ungern einem
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Menschen, den ich liebe.
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Hahns
Postille ist ein
Fund
, der ins Wohlthatenregister dieses Jahres
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gehört. Ich kenne den Mann persönlich. Er ist die Einfalt selbst. Er könne sich
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vorstellen, sagte er mir einmal, wie’s Gott dem Schöpfer sey, wenn er eine
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Welt schaffen wolle – wie’s ihm sey, wenn er die Copie davon – ein
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Weltsystem mit allen seinen Bewegungen im Kleinen – oder seine
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Rechnungsmaschiene – (die als Leibnitzens compendiöser – vollkommener und
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brauchbarer ist) ausgedacht habe, und es nun zur Sicherheit: Ich
kann’s
– in ihm
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gediehen sey.
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Ich wünschte,
κατ’ ἀνθρωπον
, oft, so sanft still schreiben zu können, wie
24
Hahn
– und Hahnen oft meinen gefälligern Styl. – Doch, weiß ich, der
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Wunsch ist Thorheit – und
Eitelkeit
.
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Der
Fingerzeig
ist ein kostbares Büchlein, wovon aber weder ich noch
27
Hahn
ein Exemplar mehr haben. Es ist eine Erklärung über Epheser – oder
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über
Gottes-Familie
.
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Warum ich den
Durst
so
geheimhalte
? Ach! unter allen drückenden
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Gedanken meiner beßten Augenblicke ist beynah der drückendste
der
: – von
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diesen heiligen Dingen jemals ein Wort gesprochen zu haben. Doch that ich’s in
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mehr Einfalt, als man’s glauben kann.
Es ist nun geschehen
! und was
33
geschehen
ist
, geschahe nach Gottes (
dramatischenm
) Willen.
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So sehen Sie’s auch an – daß ich im
IV.
Bande der Fragm. aus einem
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apokryphischen
Buche – zu Altona gedruckt einige
Perlen
aushob, meine
S. 396
Kahlheit zudecken – und mit für die
Schweine
gieng – die sich wenden, und
2
Sie mit mir zerreißen werden – unbeschadet jedoch unserer
ἀφθαρσια
!
3
Oft
ist’s
Lüsternheit
– Lieber! oft bis zur
Lästerung
Bedürfniß
–
4
Etwas
zu haben – das alle Zweifelwelten aufwiegt.
5
Ich weiß, was die
Erfahrung
hindert – aber, wenn der Erbarmer ohne
6
seines gleichen nicht
vorkömmt
dem Schwachen ohne seines gleichen, so bin
7
ich
verloren
.
8
Es gehört zu den empfindlichsten, jedoch
wolverdientesten
9
Demüthigungen
meines
Fleisches
, daß selbst
Christen
– mir geschmack an
Zeichen
10
zutrauen. Mir ist um
Gewißheit
für mich, und
Hülfe
für
Brüder
zu thun.
11
Das darf ich sagen. Mein innerer Mensch verabscheut alles, was
Aufsehn
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macht, – was nicht
hilft
.
13
Ich habe von meinen Schriften kaum ein Exemplar für mich. Also kann ich
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nichts, oder nichts des Sendens werth senden. Ich fürchte – Ihre Auslagen
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für die mindeste Fracht – drücken mich.
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Meine Predigten sind mir das unausstehlichste von allem, was ich drucken
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ließ. Einige jedoch nehm’ ich aus. Etwas weniges will ich davon für Sie
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aussuchen. Mit dem beßten Gewißen kann ich sagen – das wenigste meines
19
Geschreibs ist Ihres Lesens werth.
Mir
eckelt wenigstens vor dem Meisten.
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Mir ist’s selbst noch Traum, daß ich eine Zeile Physiognomik geschrieben.
21
Es gehört zu den
Traits de génie
Gottes, des Dramaturgen meines Daseyns,
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daß er dem unphysiognomischten Menschen die Ehre dieser Offenbarung
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anvertraute. Mir ist’s würklich Offenbarung – aber – dennoch nur in dunkelm Worte.
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Ich bitte Sie, bethen Sie ausdrücklich‥ daß Gott meinen Muth nicht
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sinken laße – unter der Last der Geschäfte.
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Oft begreif ich gar nicht, wie mir noch, neben meinem Weibchen, jeden
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Abend so wol ist – als ob kein Mensch nichts von mir wüßte. Herr Gott!
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welch Geheimniß
Gottes! daß
ich den Menschen so offenbar bin – und so
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tiefverborgen selbst meinen
συμψυχοις
.
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Für jedes Trostwort von Ihnen dank’ ich herzlich. Wenn ich’s nur verdiente!
31
Schreiben Sie mir ofte. Ich lese gern Ihre Bestrafungen und Tröstungen.
32
Ich kenne den Geist, aus dem sie fließen.
33
Ich
lüstere
sehr
, Sie zusehen und unmittelbar zugenießen – doch ist’s nicht
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Bedürfniß
. Aber auch die Lüsternheit wird erfüllt werden. Lieber Hamann –
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unsre Blicke werden sich vieles sagen –
36
Nennen Sie mir
ignoranten
den
weisesten Schriftsteller
und
37
dunkelsten Propheten
.
S. 397
Auch wünscht’ ich etwas von
Mendelssohn
bey
Hamann
zuwißen.
2
Mein
Stirnmeßer
ärgere Sie nicht. Es ist etwas
erbethetes
.
3
Ich – ehre und liebe Sie wie wenige.
4
Lavater.
S. 446
K. F. Th. Schneider zufolge befinden sich bei dem Brief noch als Nachwort
2
von fremder Hand, vmtl. von derjenigen Pfenningers, folgende Zeilen:
3
Eben komme ich aus meiner friedlichen Burg – dem friedlichen, aber von
4
Unfrieden beunruhigten Lavater – ein Gott segne – Gott grüße zu
5
geben – und da reicht er mir Hamanns Erscheinung in Briefen. – Ich
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habe noch nicht gelesen, will jetzt zurückeilen in meine Ruhe, und
7
dann lesen – und antworten – adio Liebster! – Was Sie riechen –
8
das sehen wir – und Beides ist Physiognomik.
Provenienz
Original verschollen. Text nach K. F. Th. Schneider: Lavater an Hamann. In: Deutsche Zeitschrift für christliche wissenschaft und christliches Leben 3 (1852), 371–373. ZH zufolge früher in der Zentralbibliothek Zürich; Druck ZH aber wohl nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche wissenschaft und christliches Leben.
Bisherige Drucke
Heinrich Funck: Briefwechsel zwischen Hamann und Lavater. In: Altpreußische Monatsschrift 31 (1894), 96–99.
ZH III 395–397, Nr. 520.
Digitalisat
Zusätze fremder Hand
446/3 –8
|
Johann Konrad Pfenninger |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
395/7 |
1777. ]
|
Geändert nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben; ZH: 1777 |
395/10 |
schuld bin ]
|
Im Druck der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben: schuldbin |
395/29 |
geheimhalte ]
|
Geändert nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben; ZH: geheim halte |
395/30 |
der |
Geändert nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben; ZH: der |
395/33 |
ist |
Geändert nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben; ZH: ist |
395/33 |
dramatischenm ]
|
Geändert nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben; ZH: dramatischen |
396/3 |
Oft |
Geändert nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben; ZH: Oft |
396/4 |
Etwas |
Geändert nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben; ZH: Etwas |
396/9 |
Demüthigungen ]
|
Geändert nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben; ZH: Demüthigungen |
396/28 |
Gottes! daß ]
|
Geändert nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben; ZH: Gottes. Daß |
396/33 |
sehr ]
|
Geändert nach dem Druck in der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben; ZH: sehr |
446/1 –8
|
K. […] Physiognomik.] |
In ZH im Apparat. |