519
S. 391
Kgsberg den
IV Advent
777.
2
Viel Glück zum NeuJahr, liebster bester Landsmann, Gevatter und
3
Freund! Ich bin noch am Rande des alten mit einem verwundten
4
Schienbein, das mich von einem gefährlichen Fall über einen kleinen Kindertisch
5
gerettet,
u
seit dem 12
huj.
einheimisch auch die meiste Zeit bettlägericht
6
gewesen. Die Wunde heilt langsam, scheint aber von keinen Folgen zu seyn, nur
7
der Ort ist kürzlich daß ich mich vor Anziehen und Kälte u Anstrengung in
8
Acht nehmen muß.
9
Meine Antwort auf das den 4
Sept.
eingekommene hat erst den 14
Oct
10
abgehen können. Den letzten
ej.
habe einen Laufzettel wegen Ihres Schreibens
11
bescheinigt. Den 29
ej
war
Auction
in meinem Garten worauf ein Gräuel der
12
Verwüstung erfolgte.
13
Den 19
Nov.
am Tage
Elise
wurde ich wider Vermuthen von dem Briefe
14
nach Berl. entbunden, mit dem ich den ganzen Sommer schwanger gegangen
15
und ich befand mich so erleichtert als von einem Nierenstein Den 4ten
huj.
16
habe eine sehr höfliche Antwort vom
Chef
unsers
Departements
erhalten
17
und was daraus werden wird, weiß der liebe Gott; und will mich auch darum
18
nicht bekümmern. Wenigstens hab ich jetzt ein wenig Ruhe in mir selbst, woran
19
es mir so sehr bisher gefehlt, und bin im stande wieder die Feder zu
führen
20
Ich habe die Hefen dieses critischen Jahres dazu bestimmt um alle
21
Rückstände in Briefen abzumachen und werde vielleicht eine kleine Einlage an
22
Kleuker beylegen, weil ich Lemgo Ihnen näher halte – Vor acht Tagen endl.
23
an Lavater geschrieben nebst Einl. an Kaufmann und Ehrmann, auf letzten
24
speculir
te Kanter hier. Penzel schliest die Zeitung mit diesem Jahr u hat mich
25
den 1
huj.
zum letzten mal besucht. Es ist mir
lieb
daß er den Anfang macht
26
sich zu entziehen. Seine Verbindung mit Stockmars Hause und der
Selma
27
unter welchem Name er sie besungen – Materie gnug zum
Drama
und
28
Roman
und neuen Vorrede, womit ich diesen Brief nicht entweyhen will:
29
für mich lauter Schule und lebendige Beyträge zur Menschenkentnis und
30
Menschenliebe –
31
Kanter hat keine Meße gemacht, also wenig neues gesehen. Sturzens
32
Erinnerungen habe gelesen; ich kenne ihn aus den Menechmen, die ich habe.
33
Stillings Jugend ist im Hartungschen
Laden
Catalogo
dem Kaufmann
34
zugeschrieben worden und scheint seines Geistes Kind zu seyn. Der 2te Theil
35
des Allerleys und die Breloquen, Mösers Samml. und
Gagliani
S. 392
Uebersetzung, nebst Iselins Ephemeriden sind beynahe alles, das ich geschmeckt.
2
Gagliani Libri cinque della Moneta
erwarte nächstens aus Neapoli, weil
3
selbige nicht in Florenz aufzutreiben gewesen von wo ich des
Giambatista
4
Vico Principi della Scienzia Nuova
erhalten und auf beyde durch
Gianovese
5
kennen gelernt und darnach neugierig gemacht worden bin. In
Vico
6
Schwärmereyen hoffe ich noch etwas Korn zu finden, aber
noch nicht
kaum Muße
7
gehabt ihn anzufangen.
8
Nun bester Herder! wie geht es mit Ihrer Gesundheit und mit Ihrer
9
Muße? mit Ihrer Zufriedenheit und dem Denkmal für mein Pathchen? Hat
10
auch die höchste und reinste Lebensfreude im treuen Arm einer Seelengenoßin
11
ihre Ebbe und Fluth? Man muß ein
König
und
Prediger
seyn um die
12
Eitelkeit der Eitelkeiten anschauend zu erkennen, und sich darüber trösten zu
13
können. Ich habe einige Tage mit diesem Büchlein zugebracht, und mich in
14
das heilige Dunkel deßelben eben so sehr vertieft als verliebt, daß ich nicht
15
das Herz habe die
causam occasionalem
dieses Gerichts zu betrüben und
16
dem neuesten Scholiasten ans Herz zu greifen. Es ist schon Strafe gnug für
17
ihn nicht verstanden und zugl. übersehen zu werden – wie mir jedermann
18
versichert, den ich gebeten seine Auslegung zu lesen.
19
Unser kleine August ist doch wol schon entwöhnt und hat Muttermilch
20
genoßen? Es geht mir nahe, daß ich ihn noch mit nichts aus Ihrem
21
Vaterlande erfreuen kann. Meine
innere
und äußere Lage bis jetzt ist einem
22
unfruchtbaren Boden gleich, auf dem mein Herz und Sinn schmachtet nach
23
Erquickungs Zeiten, die ich ohngeachtet mancher Ahndung kaum erleben
24
werde; aber auch hieran soll mir nichts gelegen seyn. Ich habe einen Hang
25
zum Uebermuth, den ich lieber gedrückt als genährt wünsche. Nicht eine
26
Silhouette kann ich Ihnen schicken, geschweige ein Bild: aber alles soll
fein
27
zu seiner Zeit
kommen, so der HErr will und wir leben, welches beydes ich
28
innig wünsche und hoffe und glaube.
29
Vergeßen Sie nicht, mein Einziger! den Aufklebezettel der Ihrem vorigen
30
Briefe gefehlt und den
Brutus
für unsern Landsmann Reichard. Hoffe auch
31
mit nächster Meße ein
paar Exemplare
Ihres Bückeb.
Gebets
, das Ihre
32
Frau Schwester aus Morungen mir zum
Durchles.
übermacht
33
Ist der Brief im Museo über Ihre gehaltene Predigt und das Stück im
34
Mercur über die Landschaft Malerey auch von Sturz? Melden Sie mir doch
35
den
oder
die
Verf. der Breloquen. Ich traue dem
einen
Scharfsinn u
36
Billigkeit zu, aber der
andre
ist ein gar zu eingenommener
Stümper,
und möchte
37
gern den
Matador
kennen, der mir nicht gleichgiltig ist, so sehr ich seinen
S. 393
Kumpan verachte. Sollte
Hottinger
im Spiel seyn, den ich nur dem Namen
2
nach kenne. Sollte
Levin
den
Gagliani
übersetzt haben?
3
Mein Umgang ist also auf Kraus, der sich mit seiner Hypochondrie auf den
4
Ocean der Geschichte gewagt und auf Kreutzfeld eingeschränkt, mit dem ich
5
Spencers Fairy Qveen
als das beste Wintermährchen lese. Sollte dafür lieber
6
Griechisch mit meinem Hans Michel vornehmen, deßen Verwahrlosung oder
7
Erziehung mir auf dem Herzen liegt – Noch nichts an seinem rechten Ort,
8
weder in mir noch außer mir.
Hinc illae lacrymae!
9
Den 22
Xbre.
10
Nachdem ich mit meinem kranken Fuß
wa
cker
gestampft über Kinder u
11
Magd – ergreif ich endl. wider die Feder. Sie werden das
Chaos
meines
12
Gemüths aus meinem ganzen Schreiben ersehen. Bis auf Feder und Dinte ist
13
mir alles zuwider und vermehrt meine Unlust, selbst den kleinsten Uebeln
14
abzuhelfen!
Also ist in diesem Jahr wol an keine Autorschaft zu denken; und
15
der widerholte
nisus
ist ohne Nachdruck gewesen. Ich bin von beyden Seiten
16
eingeschreckt und im Gedränge Freunden und Feinden Gnüge zu thun und
17
meinem noch zweideutigern Selbst
18
Vergeßen Sie die Fortsetzung Ihrer Urkunde nicht. Wenn sie man zu Ende
19
kommt; sie mag aufgenommen werden, wie sie wolle. Ich weiß gewiß, daß
20
die Entwickelung des Ganzen
s
Sie rechtfertigen wird.
Burneti Theoriam
21
habe nebst seiner
Archaeologia
seit kurzem gelesen –
22
Von Hartknoch sind die Nachrichten so widersprechend, daß man weder
23
seine Genesung noch Gefahr recht absehen kann. Auch sie soll sich in elenden
24
Umständen befunden haben, aber erholt sich seit kurzem. – Meiners Abhandl.
25
über die eleusinischen Geheimniße habe ein paarmal durchgelesen, ohne
26
befriedigt zu werden.
Jacobi
Abhandlungen haben mir wegen ihres
27
gemeinnützigen, angenehmen Innhalts als Worte zu rechter Zeit, sehr gefallen. Was
28
für eine bescheidene Gründlichkeit und selbst denkende Neuheit und
29
Popularität.
Auch Seilers Beyträge scheinen mir gutartig, fruchtbringend und den
30
Bedürfnißen unserer Zeit angemeßen; so viele ich
davon
gesehen von diesem
31
Jahr. –
32
Nicolai
hat mir einen langen Brief geschrieben oder vielmehr
dictirt
(wegen
33
schlimmer Augen) von der Leipziger Meße
u.
kündigt mir seine
Monumenta
34
Brandenburgensia in Fol.
an. Das übrige sind Einfälle seiner guten Laune,
35
die ergiebiger wie meine üble ist.
36
In
Vico
vermuthete ich die Quellen von der
Science nouvelle
der
37
Physiocrat
isten
. Es scheint aber mehr
Philologie
enthalten zu seyn und hat keine
S. 394
Gemeinschaft mit jenen. Die erste Ausgabe ist schon zu
Clerici
Zeiten
2
ausgekommen von dem ein Brief vorn an steht, aber wohl kaum nach dem
3
Geschmack dieses Vaters unserer Kritick gewesen. Die Einleitung ist eine sehr
4
weitschweifige Erklärung des
allegori
schen Titelkupfers, worauf die
5
Metaphysick
u eine
Bildsäule
des
Homers
die Hauptfiguren, die übrigen alle
6
hieroglyphisch
sind. Es kostet mir mit dem schönsten Bande 7
Lire
= 7 fl. 7 gl
7
u
enthält 2 Theile.
8
Und hiemit endige ich die Charte dieses Jahrs bis auf obigem
dato.
Was
9
mir noch in den übrigen zehn Tagen bevorsteht, weiß Gott am besten. Bunt,
10
verdrieslich, langweilig ist es gewesen, die Morgenröthe schön, aber nach dem
11
Sprichwort, gefallen in Koth wie die erste Gartenfreude. Vielleicht besucht
12
mich noch ein Abendroth vor’m Untergang, und mein nächster Brief sey ein
13
Schwamm des gegenwärtigen.
14
Nun, mein einziger Herder, Landsmann, Gevatter und Freund! Gott
15
seegne Sie, Ihre Hälfte, meine verehrungswürdige Gevatterinn u Freundin,
16
Ihren Erstgebornen und meinen lieben Pathen August. Er vermehre Ihre
17
häusliche Freude siebenfältig! Er laße es Ihnen u Ihrem ganzen Hause an
18
keinem Guten fehlen. Er sey Ihr Brodt und Ihr Kelch, Ihr Stecken und Stab
19
und Ihr ganzes Leben ein
Pleonasmus
von Wundern und Gütern des Heils
20
zur Verherrlichung! – – –
21
An unserm Wunsch
in petto
einander zu sehen, hab ich lang gnug
22
combinirt
an einem glücklichen Wurf. Aber bey gegenwärtiger Bewandnis würde
23
es
beyden
wenig frommen. Nicht allein Umstände sondern auch wir selbst müßen
24
dazu reifer werden. Kein unzeitiger Genuß ist schmackhaft und gesund. – –
25
Es war schon gegen 6 Uhr Abends und ich vermuthete niemand mehr als
26
Prof. Kreutzfeld
mich unterbrach u mir seine beste Empfehlungen beym
27
Thorschluß auftrug. Wie er eben aufbrechen wollte, kommt mein Freund der Jude
28
Samuel Lipman Löwen
mit
Penzel
und einem
Pater peccaui
eingeplatzt.
29
Nach einer halben Stunde des tollsten
Persiflage
wurde ich alle drey los –
30
Mein Fuß erinnert mich an das Liegen und ich möchte noch sehr gern ein
31
paar Zeilen an
Kleuker
schreiben die ich nach
Gelegenheit
zu befördern
bitte
32
Ich umarme Sie mit dem warmsten und vollsten Herzen und empfehle
33
Sie und all das Ihrige, wie mich und das Meine, Göttlicher Obhut u Gnade
34
als Ihr ewig treuer und verpflichteter
35
Johann Georg Hamann
36
Auf den 24 Jänner wird ein Drama von Penzel auf sich selbst unter dem
37
Namen: Musquetier aufgeführt werden. Ein
Doctor
von Zelpen komt auch
S. 395
drinnen vor. Er arbeitet an einer Ausgabe des Horatz für Helwig und am
2
fünften Theil eines Supplements zu seinem Strabo. Seine Schwester muß
3
ein eben so großes Wunderthier ihres Geschlechts seyn nach einem langen
4
Briefe zu urtheilen den ich von ihr gelesen. Aber ich zittere vor dem Ende
5
seines Romans. Nun gute Nacht und Gott empfohlen – bis auf ein beßeres
6
Wiedersehen!!!
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 158–159.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 264–268.
ZH III 391–395, Nr. 519.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
391/5 |
u ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: u. |
391/19 |
führen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: führen. |
391/25 |
lieb ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: lieb, |
392/32 |
Durchles. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Durchlesen |
392/36 |
Stümper, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Stümper |
393/2 |
Levin |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Levin |
393/10 |
wa cker ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wacker |
393/14 |
abzuhelfen! ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: abzuhelfen. |
393/29 |
Popularität. |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Popularität. |
393/33 |
u. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: u |
394/5 |
Bildsäule ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Bildsäule |
394/7 |
u ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: u. |
394/31 |
bitte ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: bitte. |