512
375/5
Kgsberg den 8
Oct.
77.
6
Herzlichgeliebtester Gevatter, Landsmann und Freund,
7
Den 4
pr.
wurde ich mit Ihrem Päckchen erfreut. Ich hatte mich eben mit
8
vielen Gedanken um Sie beschäftigt und den 1
ej.
die goldene Charte, welche
9
sich durch ein Wunder ein rundes Jahr durch unversehrt erhalten hatte,
10
feyerlich ausgetheilt, an jedes Kind 1 und ihrer Mutter 2; die andere Hälfte muste
11
ich zum Einkauf des Holtzes auswechseln, und ich behielt das Blätchen zum
12
Andenken.
13
Die Einlage der
Betrachtungen
war auch für mich desto angenehmer, da
14
ich wie ein Kind darauf gewartet, und weder hier noch in Danzig das
15
Büchlein aufzutreiben war. Es ist immer Feuer, Kühnheit und eine gute Seele –
16
aber ich bin noch nicht im stande mich darüber zu erklären, so große Lust ich
17
auch dazu gehabt und noch habe. Die übrigen Beyl. sind auch Ihrer Vorschrift
18
gemäß befördert worden.
19
Vorigen Sonnabend erhielt ich einen Brief vom
Diac. Trescho
über Ihren
20
„empfindl. Verweis sich in Ihre
Angelegenheiten
gemengt zu haben“ – Er
21
vermuthet, daß sein letzter Brief dazu Gelegenheit gegeben und mein davon
22
gemachter Gebrauch. – Er leugnet die geringste Einmischung in fremde
23
Sachen von seiner Seite und daß er nichts als das
dringende Bitten Ihrer
24
kranken Frau Schwester
erfüllt – und wenn ich an Sie schreibe (da er an
25
Sie zu schreiben durch solche Begegnung abgehalten wird) soll ich Sie seiner
26
wahresten Theilnehmung an allem Guten
p
– versichern. Das übrige hat nur
27
theils
religiöse,
theils schriftstellerische Wendung und betrifft die periodische
28
Schrift seiner
Nebenstunden
. Ich habe ihm gestern, so gut ich gekonnt,
29
geantwortet, aber der Brief ist liegen geblieben. Ihr
Wunsch
in Ansehung
30
seiner ist erfüllt, daß
er
Ihre Empfindlichkeit
erfahren
, und der
31
gegenseitige
gleichfalls,
wie er
selbige aufgenommen
; der meinige besteht darinn,
32
daß Sie alle widrige Eindrücke bey Gelegenheit auszulöschen suchten – Der
33
ganze
Ausgang der Angelegenheit
muste ihn mehr beschämen und machte
34
das
Verbot
sich darinn weiter zu mischen überflüßig. Wenn ein Kunstrichter
S. 376
in seinem Urtheil über meine Maasreguln blind anläuft: so
bin ich
ist er
2
nicht mehr im stande weder den Stachel noch das Gift seiner Urtheile
3
mehrzu
mir fühlen zu laßen und ich habe eben so wenig nöthig ihm selbige übel
4
zu nehmen.
5
Es freut mich herzlich daß Sie meine Bitte in Ansehung unsers besten
6
Landsmanns, des Kapellmeisters zu Berl. genehmigen. Suchen Sie ihn
7
wenigstens
vor der Hand
mit einem
gedruckten Exemplar
Ihres
Brutus
zu
8
befriedigen.
9
Compere
Claudius wird Ihnen gemeldt haben wie unser Geburtstag in
10
Wandsbeck gefeyret worden. Kreutzfeld, der gegenwärtig Uebersetzer
Ihres
11
Hogarthschen Hudibras, hat meinen besungen. Ich hatte ein paar gute Freunde
12
dazu gebeten mit der ausdrückl. Bedingung sie
ohne Wein
zu bewirthen:
13
Penzel
,
Kreutzfeld
,
Mlle
Stoltzin
waren Mittags. Ein hiesiger Jude
Lippmann
14
Löwen
erschien Nachmittags u Kraus
se
, der Uebersetzer des Arthur Youngs
15
gegen Abend. Zum Frühstück kam das Gedicht, zum Mittag ein großer Kuchen
16
vom Löwen Nachmittags ein
Billet
von
Me Courtan
Hartknochs Schwägerin mit einer
Tabatiere
von
17
Papier maché
mit Schildpatte ausgelegt, die sehr nach meinem Geschmack ist; bald
18
herauf noch ein Kuchen
incognito
von eben der selben Freundin, die eine
19
Schwägerin des ehrlichen Hartknochs und Wohlhüterin des
Prof. Kreutzfeld
ist
–
20
Mlle
Stoltzin
gehört zur hiesigen franz.
Colonie,
ist mit
Hintz
aus Curl.
21
gekommen wo sie an der Cammerherrin von der Reck, einer gebornen von
22
Medem, eine sehr vertraute und innige Freundin zurückgelaßen, die mit
23
Lavater, Kaufmann
p
im Briefwechsel steht.
24
Die dritte u älteste meiner
Freundinnen
, wie Sie wißen, ist die Baroneße
25
von Bondeli, alle 3 wenigstens 2 würden für den Geschmack meiner
ideal
en
26
Catin
seyn – aber ich fühl nichts als Leere und
Verlegenheit
an statt
27
Freude
– und so beschloß ich meinen Geburtstag u fieng ein neues Jahr an,
28
wie ein Mensch, dem was fehlt, ohne sagen zu können:
was
?
29
Mögen Sie, liebster H. Ihren Geburtsmonath
besonnener
,
zufriedner
,
30
heiterer
und
heiliger
, genoßen haben, zur Seite Ihrer besten Hälfte, meiner
31
verehrungswürdigen Frau Gevatterin – und des kleinen Augustpaars, das
32
Gott zur Freude Ihrer lieben Eltern erhalten und vermehren wolle!
33
Den 13
Oct.
des Abends.
34
Sie können sich meine Gemüthslage kaum denken. Ich bin nicht im stande
35
das geringste zu schreiben und mir ist beym Dintefaß zu muthe wie einem
S. 377
Waßerscheuen.
Mendelsons
Hierseyn gab mir Anfangs eine angenehme
2
Zerstreuung, die aber nicht lange währte. Nun bin ich tiefer wie jemals in eine
3
Unthätigkeit versunken, die ich nicht zu überwinden im stande bin.
4
Bey diesem aussaugenden feigen Gram ist an keine Autorschaft zu denken.
5
Ich habe keinen Muth nach Berlin zu schreiben, um mich über
meine
6
Vorgesetzte zu beschweren
; denn dies ist ein trauriges Geschäfte – Seit Penzels
7
Verbindung mit des
Director St.
Hause ist unsere Freundschaft krebsgängig;
8
und er hat vorvorige Woche militairische Zucht erfahren müßen, auch Kanter
9
ist entschloßen sich mit dem Neujahr zu scheiden. Ich habe ihn seit der
10
Catastrophe
des 4ten
huj.
noch nicht in meinem Hause gesehen und auch das
11
Schicksal dieses unglückl. beunruhigt mich. Krausens Uebersetzung von
12
Youngs politischer Arithmetik ist
endl
auch einmal herausgekommen. Den
13
Diac. Matthes
habe diesen Michaelis zu meinem Beichtvater gewählt mit der
14
Hofnung die Stelle eines literarischen Freundes den ich an Lindner verloren,
15
mit der Zeit zu ersetzen. Den 4ten Theil des Strabo wird eine
Dedication
an
16
Salomon u
Epistola familiaris
an
Bernouilli
krönen; der Verf. hat mir
17
selbige aber vorenthalten, was er sonst nicht bisher gethan u ich bin auch sehr
18
damit zufrieden, weil sich kaum ein gutes Ende absehen läßt, und der Geck
19
mit seinem
Catholicismo
und
Egoismo
es übertreibt.
20
Daß der Anonymus in Leßings 3ten u 4ten Stück der seel.
Reimarus
ist,
21
wird Ihnen vermuthl. bekannt seyn.
Tetens
Versuche über den Menschen
22
habe gelesen, die Tidemans
unendl
übertreffen.
De Brosses Traité
de la
23
formation mechanique des langues
ist von Plüche
Mechanique
eben so
24
unendl.
sehr unterschieden. Den elenden Uebersetzer Hißman habe schon
25
zufällig aus seiner Geschichte der Aßociation der Ideen kennen gelernt und
26
erscheint hier abermal in Lebensgröße. Kant soll von
de Broßes
u
Tetens
sehr
27
voll seyn; Fulda scheint gantz des ersten Ideen ausgeführt zu haben.
28
Unter Roosens Schriften haben seine Fußstapfen vom Glauben
29
Abrahams mich am meisten erbaut; aber das Leben Jesu habe noch nicht erhalten
30
können, von dem ich mir gewiß mehr Erbauung verspreche als im Heß, deßen
31
2ten Theil ich nun vorzunehmen Gelegenheit habe. Ich wünschte meinem
32
kleinen Pathen den Preis und Winkelmann etwas mehr als einen
Torso,
kein
33
Fragment sondern ein
Exegi perennius et altius
Ihrer Deutschen Muse
34
– – dum Capitolium
35
Scandet cum tacita virgine pontifex.
36
Laßen Sie beyde uns, liebster Gevatter! den Winter so gut wir können,
37
anwenden. An meinem guten Willen soll es nicht liegen, wenn ich nicht
S. 378
wenigstens den verlorenen Sommer einhole, und durch
Spinnen
ersetze, was ich
2
weder durch
Säen
noch
Erndten
habe gewinnen können.
3
Noch eins! Der
Klebezettel
auf Ihr Bild hat im Briefe gefehlt. – Haben
4
Sie Gedult mit mir; ich denke noch alle meine Schulden zu bezahlen. Aber
5
an Gips ist nicht zu gedenken in diesem barbarischen Vaterlande.
6
Kaufmanns Einladung nach Wandsbeck war ein rasender Einfall;
7
demohngeachtet war ich närrisch gnug quanzweis Plane zur Ausführung zu
8
machen. Aber der
saltus
war zu groß, besonders bey meiner jungen Lage –
9
Schreiben kann ich nicht; an keinen Menschen, weder in Deutschland noch in
10
der Schweitz, als bis ich ruhig und erleichtert bin oder seyn werde.
11
Der jüngste Lindner ist hier gewesen; ich habe ihm aufgetragen mit
12
Hartung wegen der Uebersetzung des Don Quixote zu reden. Letzterer hat die bey
13
mir noch vorhandene Exemplaria abholen laßen und ersterer ist ohne Abschied
14
von mir zu nehmen nach Curl. abgereiset. Mit Hartung habe nichts zu theilen
15
und das Haus ist sicher
u
ehrlich.
Er
Lindner wird
anfangen
Medicin
zu
16
studieren und wird künftiges Jahr wider durch und vielleicht nach Holland gehen
17
um daselbst zu
promoviren.
18
Ich bin außer Stande fortzufahren. Gott erhalte Sie und Ihr ganzes
Haus
19
unter tausendfachem Seegen. Ich nehme wie der seel. Lindner Abschied:
au
20
revoir!
21
Den 14 des Morgens.
22
Ob
fugam vacui
noch ein Paar Zeilen. An das kleine
monstrum
habe noch
23
nicht Hand anlegen können. Die 3
Dedication
en an Wiel. Büsching u Voß
24
sind nebst dem 1 Hauptstück bereits im Februar fertig gewesen und der
25
Anfang sollte gleich abgedruckt werden. Daß es nicht geschehen, ist mir
26
gegenwärtig lieb. Die Idee ohngeachtet selbige auf die 777 des laufenden Jahres
27
eingerichtet ist, kann noch nicht aufgeben. Nun ist ein
panurgischer Versuch
28
über
den
jüngsten Seher des Universums
dazu gekommen. Amts- u. Haus
29
Sorgen und meine Leiden im Unterleib und dem
ventriculo cerebri
erlauben
30
mir nicht einen Augenblick mich zu samlen und zu bestimmen. Dem Strom
31
tausend kleiner Umstände überlaßen schweb ich und schwimm ich, ohne von
32
der Stelle zu kommen, noch mich meinem Ziel zu nähern. Eitelkeit der
33
Eitelkeiten! ist meine Lieblingsidee. An dem Uebersetzer deßelben habe bereits mein
34
Heil versucht, bey seinem
menschl. Versuch
; aber es scheint nicht die Zeit zu
35
seyn – Es geht mir also wie Ihnen. Kypke scheint ihm nicht die nöthige
36
Sprachkenntnis des Hebr. abzusprechen; aber was andere Leute
Styl
nennen,
S. 379
ist bey mir
Seele
, oder
Urtheils
- und
Verdauungskraft
. Mendelsohn
2
hat meinem Hänschen seinen
Coheleth
zum Andenken geschickt und
Bodens
3
Uebersetzung liegt auch vor mir. Ich habe Lust nächstens das Buch selbst zu
4
meiner eignen Befriedigung zu studieren. Also Arbeit für 3 Hände und keine
5
Lust den kleinen Finger auszustrecken. Gott schenke Ihnen desto mehr Muth,
6
Freude, Salbung. Kein Morgen
u
Abend wo ich nicht an meine zwey
7
Pathchens in Deutschland und Ihre Eltern denke, und mit aller Eitelkeit des
8
menschl. Herzens dichte und trachte über das, was Sie Selbst wünschen und
9
Vorsehung allein möglich und würklich zu machen
im stande
ist. Denn in
10
dieser Wüsten hier, fühl ich das Ideal der Freundschaft gleich dem Heimweh.
11
a Dieu.
12
Von Hartknoch noch immer schlechte trostlose Nachrichten bisher. Schade
13
um die gute
Haut
!
S. 445
Handschriftliche Anmerkungen von Johann Gottfried Herder:
11
Zu HKB 512 (III 376/11) „Hudibras“:
den ich ihm zu diesem Behuf nebst
12
Buttlers Remains
geliehen.
13
Zu HKB 512 (III 376/16) „Me Courtan“:
Hartknochs Schwägerin.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 156–157.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 253–257.
ZH III 375–379, Nr. 512.
Zusätze fremder Hand
445/11 –12
|
Johann Gottfried Herder |
445/13 |
Johann Gottfried Herder |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
375/8 |
ej. |
Geändert nach der Handschrift; ZH: ej |
375/20 |
Angelegenheiten ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Angelegenheit |
375/27 |
religiöse, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: religiöse |
375/29 |
Wunsch |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Wunsch |
375/30 |
erfahren |
Geändert nach der Handschrift; ZH: erfahren |
375/30 |
er |
Geändert nach der Handschrift; ZH: er |
375/31 |
wie er |
Geändert nach der Handschrift; ZH: wie er |
376/10 |
Ihres |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Ihres |
376/19 |
ist ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ist. |
376/20 |
Stoltzin ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Stoltzin |
377/1 |
Mendelsons ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Mendelsohns |
377/12 |
endl ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: endl. |
377/22 |
unendl ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: unendl. |
378/15 |
u ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: u. |
378/18 |
Haus ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Haus |
378/28 |
den ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: den |
379/6 |
u ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: u. |
379/9 |
im stande ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: imstande |
445/23 –13
|
Handschriftliche […] Schwägerin.] |
In ZH im Apparat. |